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Berichte & Reportagen Ausgabe April 2001

Nosing around

Für Kulturanthropologen ist alles fremd. Sie sind an Kultur interessiert? Sie glauben die eigene zu kennen? Das dachte ich auch, bis ich Klebestift, Rechenschieber, Sanduhr und Planetenkarte eingepackt habe und dann ...

 

 

"Dann knote ich blitzschnell das Seil an der Brüstung fest, mit dem hundertmal geübten Griff hänge ich den Mehrzweckspaten an den Gürtel. (...) Nachdem ich heftig am Seil geruckt habe, schwinge ich mich über das Geländer. Weinend schwebe ich hinab, mit gespreizten Beinen. Unten werfe ich mich ins feuchte Laub des Vorgartens."

Urs Widmers Held im Roman "Die Forschungsreise" hat sich gerade aus seiner Frankfurter Wohnung abgeseilt, als sei er in unbekanntem Gebiet. Vielleicht hat ihn seine Expedition auch an der kleinen Villa vorbei geführt, die das Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Uni Frankfurt beherbergt. Dort hätte er Gleichgesinnte gefunden.

Die Tätigkeit von Kulturanthropologen ist einfach zu umreißen: für sie ist alles Kultur und Kultur ist ein Text - ein feines Gewebe aus Gefundenem und Erfundenem. Diesen Kultur-Text beobachten sie und teilen ihre Erkenntnisse mit - natürlich, wie sollte es anders sein, in Textform. Und diese Texte sind dann natürlich wiederum ein Beitrag zur Kultur. Klar, oder?

Es geht auch anschaulicher, wie mir Manu Kembter versichert. Was sie eigentlich praktiziere sei ein "nosing around", was soviel bedeutet wie Herumschnüffeln. Ein Problem dabei umriß Nietzsche: "Jede Kultur beginnt damit, daß eine Menge von Dingen verschleiert werden". Profanes Beispiel: das Briefgeheimnis. Ein weiteres Problem hat Edgar Allan Poe in seiner Kriminalerzählung "Der stibitzte Brief" vorgeführt: ein entwendeter Brief wird gesucht, aber trotz aller meisterlich durchgeführter Methoden der Hausdurchsuchung nicht gefunden. Der Trick des Delinquenten: er hat den Brief für jeden ganz offensichtlich im Raum liegen, zuoberst auf einem Stapel anderer Briefe. Für die Sucher ist dies kein potentielles Versteck und so gerät besagter Brief in den toten Winkel ihrer Wahrnehmung. Kulturanthropologen nun interessieren sich für genau diese toten Winkel.

Manu Kempter befaßte sich in einem der vielen Projekte ihres Studiums mit dem Thema Nachbarschaft. Kulturanthropologen denken dann zum Beispiel an virtuelle Nachbarn im Internet, an den Mikrokosmos Lindenstraße, an Frauenhäuser, an die Anlieger des Zoos oder, wie Manu Kembter, an den Frankfurter Osthafen. Der Osthafen liegt im Zentrum der Metropole und jeder, der deutsche Fernsehkrimis mag, kennt ihn: hier übergeben zwielichtige Gestalten Geldkoffer und dunkle Limousinen warten auf Männer mit dunklen Brillen. Szenen aus Tatort und Ein Fall für Zwei werden hier gedreht.

Aber als Manu Kembter als teilnehmende Beobachterin die Hafenkultur inspizierte, fand sie auch alte Briefkästen, eine Kneipe und - Satelitenschüsseln. Für die angehende Kulturanthropologin bedeutete das: die Wüste lebt. Die Firmen im Hafen haben Hinterzimmer vermietet, dort leben Menschen ohne Klingel und soziale Infrastruktur. Wieviele weiß keiner, weder die Hafenverwaltung noch die Bewohner des Hafens selbst.

Manu Kembter und Mirja Morgenstern haben diesen toten Winkel der Nachbarschaftskultur ins Visier genommen, qualitative Interviews gemacht, Spaziergängerinnen und LKW-Fahrer befragt, in der Hafenkneipe starken Kaffee getrunken und einen idyllischen See entdeckt, den nur wenige Frankfurter kennen. Sie haben dort ein halbes Jahr "herumgeschnüffelt".

Ihnen ist aufgefallen, daß dort nicht Streit zwischen Nachbarn ausbricht, sondern nur zwischen benachbarten Firmen, allerdings mit einer ganz ähnlichen Struktur. Die Menschen sind in den Hafen gezogen, weil die Unternehmen dort, als sie keine Arbeiter fanden, einfach eine billige Unterkunft mit angeboten haben. Die Arbeiter waren dann jederzeit auf Abruf aus dem Bett zu holen, ein ökonomischer Vorteil. Viele wollten das nur für kurze Zeit machen, aber die Mieten in Frankfurt machen den Wechsel in die Zivilisation nicht einfach. Aus dem kurzen Arrest wurde dann oft Lebenslang, eine der Befragten Personen lebte 43 Jahre lang im Osthafen.

Der Forschungsbericht über den Hafen heißt "Eine Gegend wie für einen Roman" und die Autorinnen schildern die Reise in die fremde, unbekannte Welt, die aber mitten in Frankfurt liegt. Viele dieser kulturanthropologischen Reiseberichte in die nahe Ferne sind zu lesen wie Kriminalerzählungen. Hier erzeugen aber nicht fiktive Leichen die Spannung, sondern die sich dem Leser aufdrängende Erkenntnis, selbst die reale kulturelle Umwelt kaum zu kennen.

Durch das neue Objektiv betrachtet taucht vieles aus dem Verborgenen auf und am Ende der Osthafen- Expedition deuten die Autorinnen an, daß dies alles nur die Spitze des Eisberges ist: "Was bedeutet das Wort ‚Hotel' auf einem Klingelschild und ein Rolls-Royce vor dem Haus? Eine Islamschule in der Intzestraße - verschlossen. Geschlossen? Illegales Wohnen von billigen Arbeitskräften. Facetten des Osthafens, der für uns, auch nach langer Auseinandersetzung mit dem Territorium und seinen Menschen, Verborgenes birgt."

 

Fotos:
Manu Kembter, Frankfurt/Main.

Text von

Für Neugierige:

  • Manu Kembter und Mirja Morgenstern: Eine Gegend wie für einen Roman. Leben im Frankfurter Osthafen. In: Heinz Schilling (Hg.): Nebenan und Gegenüber. Nachbarn und Nachbarschaft heute. Kulturanthropologie Notizen Band 59. Frankfurt am Main: 1997
  • Ina-Maria Greverus u.a.: Kultur Texte. 20 Jahre Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie. Frankfurt a. Main: 1994
  • Urs Widmer: Die Forschungsreise. Ein Abenteuerroman. Zürich. 1976
  • Edgar Allan Poe: Der stibitzte Brief. In: ders.: Der schwarze Rabe. Erzählungen. Werke Bd.3. Haffmans Verlag, Zürich: 1994

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