Archive - Nov 2008
Zitat des Tages
"Aber die Ereignisse der letzten Jahre haben unsere Meinung über den Wert der Worte 'Zivilisation' und 'Kultur' wesentlich geändert. Wir sind nicht mehr willens, sie kurzerhand dem Begriff 'Organisation' und 'Komfort' gleichzustellen. Nichts hat diesen verhängnisvollen Irrtum mehr gefördert als die Statistik, die als mechanische Wissenschaft berechnet, wieviel in einem Lande das Volksvermögen beträgt, und wie groß der Anteil des einzelnen daran ist, wie viele Autos, Badezimmer, Radios und Versicherungsgebühren pro Kopf der Bevölkerung entfallen. Nach diesen Tabellen wären die hochkultiviertesten und hochzivilisiertesten Völker jene, die den stärksten Impetus der Produktion haben, das Maximum an Verbrauch und die größte Summe an Individualvermögen. Aber diesen Tabellen fehlt ein wichtiges Element, die Einrechnung der humanen Gesinnung, die nach unserer Meinung den wesentlichsten Maßstab von Kultur und Zivilisation darstellt. Wir haben gesehen, daß die höchste Organisation Völker nicht verhindert hat, diese Organisation einzig im Sinne der Bestialität statt in jenem der Humanität einzusetzen, und daß unsere europäische Zivilisation im Lauf eines Vierteljahrhunderts zum zweiten Male sich selber preisgegeben hat. So sind wir nicht mehr gewillt, eine Rangordnung anzuerkennen im Sinne der industriellen, finanziellen, der militärischen Schlagkraft eines Volkes, sondern das Maß der Vorbildlichkeit eines Landes anzusetzen an seiner friedlichen Gesinnung und seiner humanen Haltung."
Stefan Zweig, Brasilien. Ein Land der Zukunft (1941).
Forscher gesucht!
Die Magisterarbeit in der Wildnis schreiben? Theorie mit Praxis verbinden? Die Naturschutzorganisation PANparks gibt jungen Forschern die Gelegenheit dazu. Die WWF (World Wildlife Fund) – Initiative hat sich zum Ziel gesetzt, die letzten Flecken Wildnis in Europa zu schützen und bietet Studierenden, Doktoranten und interessierten Forschern Forschungsprojekte in den Bereichen Artenvielfalt, nachhaltiger Tourismus sowie Marketing und Kommunikation an. Geforscht wird in elf europäischen Nationalparks, die dem PANparks Netzwerk angehören und sich vom nördlichen Polarkreis bis zur Iberischen Halbinsel erstrecken.
Die genauen Forschungsziele werden von den einzelnen Parks vorgegeben. „Bewerber können auch eigene Vorschläge einreichen. Wir überprüfen dann, ob ein Park an dem Thema Interesse hat und helfen mit der Logistik“, sagt Zoltan Kun, Direktor von PANparks. Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewerbung sind u.a. gute Englischkenntnisse, denn auch die Forschungsarbeit muss in Englisch verfasst werden
Weitere Infos unter http://www.panparks.org/ bzw. .
"Buddhistische Stille" im Kino
In einem Dokumentarfilm über die buddhistische Stille sollte nicht nur lautstark gesprochen werden. Leider ist das der Fall, auch wenn zwei Nonnen und vor allem der Hamburger Oliver Petersen sehr kluge, buddhistisch fortgeschrittene Einsichten äußern. Aber das (in mäßiger Tonqualität) andauernde lautstarke Reden einiger Protagonisten treibt die Zuschauer entweder aus dem Kino oder spricht vielleicht gerade die Teilzeitbuddhisten an, denen die Religion eine hippe Anti-Stressmethode ist. Spirituell ernst genommen ist der Film ärgerlich: Der Dalai Lama kommt als lachende, aber sonst ganz inhaltsfreie Kultfigur vor, in verwackelten Handkamerabildern. Ihn sogar bei der Meditation filmen zu wollen, wird zur touristischen Peinlichkeit. Viele der Interviewten sind so sehr mit dem eigenen Ich beschäftigt, dass es unangenehm wird: Ein zentrales Anliegen im Buddhismus ist doch gerade die Überwindung dieser egozentrischen Fixierung! Hinzu kommt noch, dass die Ästhetik des Films eher am Fernsehen orientiert bleibt; eine Ebene avancierter Bildsprache ist schlicht gar nicht vorhanden. Und nach einem Meisterwerk wie "Die große Stille" über ein Karthäuserkloster fällt dies schmerzlich auf. Angesichts eines zeitgeistinkompatiblen Wertes wie "Geistesruhe" ist der zeitgeistige Dokumentarfilm über Buddhisten unerfreulich. Der Film vermittelt jedenfalls nicht, worum es geht. Es ist also angeraten 5,40 Euro zu investieren in ein hervorragendes Reclam-Bändchen, das in den Buddhismus einführt. Und natürlich: Sich selbst einmal an buddhistischer Meditation zu versuchen.
Das Ebenbild Gottes - dauerevaluiert
Bildung. Ja, was ist das eigentlich?, fragt Thomas Petersen heute in der FAZ und guckt dazu erst einmal in den Brockhaus von 1843 (soviel Platz für bildungsbürgerliche Traditionen muss wenigstens in dieser Zeitung noch sein).
Im Vormärz verstanden zumindest die Redakteure des Brockhauses unter Bildung noch die „durch den selbstbewussten und freitätigen Geist geleitete Entwicklung“, die dazu diene, dass „der Mensch seine Bestimmung erkenne und erstrebe, die keine andere ist, als in seinem ganzen Sein und Leben das Ebenbild Gottes darzustellen“.
Wie bitte?
In unseren Zeiten der Dauerdiskussionen um "Effizienz und internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Schulsystems"ein wahrlich verstörender Bildungsbegriff, wie Petersen feststellt. Umso beruhigender, dass noch im Jahr 2008 immerhin mehr als drei Viertel der Deutschen die Schulbildung nicht in eine reine Berufsvorbereitungsphase umgewandelt sehen wollen: 77 Prozent stimmten in der von Petersen vorgestellten Allensbach-Umfrage der folgenden Aussage zu: "Meiner Meinung nach ist die Schule vor allem dafür verantwortlich, den Kindern eine möglichst gute Allgemeinbildung beizubringen. Die ist nicht nur für den Beruf wichtig, sondern für das ganze Leben. Kenntnisse und Fähigkeiten, die man für seinen Beruf braucht, lernt man sowieso bei der Arbeit am besten.“
Manchmal scheint des Volkes Stimme doch um einiges weiser als so manche ausgemachte Expertenrunde zu sein.
Der komplette Artikel findet sich hier.
Stadt oder Leben!
Haben wir die Stadt, den Mittelpunkt unseres Lebens, Schaffens und Sterbens in schlechte Hände gegeben? Autobahnen zerschneiden einstige Ruheräume, kahle Hochhausfassaden veröden ganze Viertel, in den Wohnsilos vegetieren wir nachbarschaftslos vor uns hin.
In der neuen Ausgabe des Merkur geht der hierzulande relativ unbekannte Philosoph und konservative Außenseiter Roger Scruton nicht nur aus ästhetischen Gründen mit den Architekten und Stadtplanern der Moderne hart zu Gericht, die den Kampf um die Ideen an den Universitäten zu unser aller Leid gewonnen hätten:
"Die Vandalisierung des Curriculums verlief erfolgreich: Die europäischen Fakultäten für Architektur brachten den Studenten nicht mehr die Grammatik der klassischen Säulenordnungen bei, sie unterrichteten nicht länger, wie Friese zu verstehen sind, wie man die bestehenden Baudenkmäler, städtischen Straßen, den Körper des Menschen zeichnet, noch solche wesentlichen ästhetischen Phänomene wie den Lichtfall auf einem korinthischen Kapitell oder den Schatten eines Campanile auf einem schräg abfallenden Dach; nicht länger wurde das Verständnis von Fassaden gelehrt, von Gesimsen, Toröffnungen oder irgendetwas anderem, was man durch das Studium der Werke von Sebastiano Serlio oder Andrea Palladio in Erfahrung bringen konnte. Das Ziel des neuen Curriculums bestand darin, ideologisch motivierte Ingenieure auszubilden, deren zeichnerische Fähigkeiten nicht über Grundrisse und isometrische Zeichnungen hinausgingen und die die gigantischen Projekte des sozialistischen Staates vorantreiben würden: Menschen in Wohnsiedlungen zu schaufeln, Pläne für Industrie- und Gewerbegebiete aufzureißen, Schnellstraßen durch alte Stadtzentren zu schlagen und überhaupt das Bürgertum daran zu erinnern, dass Big Brother es kontrollierte."
Als ideellen Widerpart und Verheißung auf ein besseres Stadtleben bringt Scruton den luxemburgischen Architekten Léon Krier auf den Reißplan. Dessen Entwürfe der englischen Stadt Poundbury sind tatsächlich ganz im positiven Sinne reaktionär.
Politischer Herbst
Der Himmel grau, der Wind nasskalt und die Stimmung war auch schon mal besser:
Es ist Herbst in Deutschland. Nicht nur meteorologisch. Auch die politische Wetterlage verdüstert sich. In Hessen hat Andrea Ypsilanti ihre "geisteskranke Geisterfahrt" (Günther Öttinger) in Richtung rot-rot-grüner Regierungsübernahme unfreiwillig beendet und umgehend wieder die Schleierwolkenmaschine angeworfen: Statt bei der kommenden Neuwahl die Verantwortung für ein Jahr Selbst- und Parteidemontage zu übernehmen, schickt sie einen 39jährigen "Strohmann" (Deutschlandfunk) ins Rennen, um in vier Jahren selbst wieder kandidieren zu können. Und SPD-Chef Müntefering, der Ypsilanti vieldeutig eine "tüchtige Politikerin" nennt, verkauft das als "Verjüngung".
Wirklich schauerlich, dass es in der anderen politischen Himmelsrichtung nicht weniger finster ausschaut. Dort trainiert die akademische Führungsreserve der CDU weit unterhalb der Peinlichkeitsschwelle ihre Reflexe auf Kosten eines innovativen und geschätzten Rechtsprofessors, weil der aus didaktischen Gründen in der Vorlesung einen DDR-Zipper trägt. Zur Erinnerung: Der RCDS ist jener Kasperlverband, dessen Bundesvorsitzender, Gottfried Ludewig, für die Wiedereinführung des Klassenwahlrechts plädiert und es mit dieser politischen Geisterfahrt bis auf Anne Wills Gästesofa bringt. Nicht ernst zu nehmen? Gewiss, aber der dynamische Irrläufer Ludewig sitzt im Bundesvorstand seiner Partei, die ihn unlängst in Berlin für den Bundestag nominierte - gegen die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld. Wird er gewählt, trifft er im Hohen Haus dann auf ein anderes Nachwuchstalent, den frisch im Amt bestätigten Chef der Jungen Union, Phillip Mißfelder, der Rentnern einst die Hüftgelenksoperation streichen wollte und sich nun anschickt, in der CDU große Karriere zu machen.
Auch wer kein Melancholiker ist, hält so viel herbstliches Polit-Tief eigentlich nur noch mit einer ordentlichen Portion Prozac aus.
Waltz with Bashir
Nicht oft wurde der Dokumentarfilm neu erfunden. Am Anfang stand Leni Riefenstahl, formal innovativ und inhaltlich gewissenlos. Der letzte Schrei kam von Michael Moore, parteiisch und polemisch. Nun sorgt der israelische Filmemacher Ari Folman für einen unerwarteten Evolutionssprung der Gattung: eine autobiographische Doku als Animationsfilm! Folman hat an den ersten Libanonkrieg, in dem er kämpfte, keine Erinnerung. Und das ist schlimmer als die Alpträume, die seine Kameraden noch 20 Jahre später quälen. Er macht sich also auf die Suche, um sich zu erinnern; er interviewt Kameraden, Vorgesetzte, Kriegsberichterstatter, spricht mit Therapeuten und Traumaforschern. Seiner (indirekten) Beteiligung an den Massakern in den Flüchtlingslagern von Beirut kommt er immer näher, durch die schrittweise Deutung der eigenen Träume, in denen die Vergangenheit verschlüsselt zurückkehrt. Am Ende steht, wie es auch bei Freud zu lesen ist, keine vollständige Deutung. Aber die Erinnerung ist zurück. Und wer sich erinnern kann, der muss nicht mehr verdrängen. Obwohl Schreckliches ans Licht geholt wird: es gibt keinen anderen Weg, als sich seiner Taten bewusst zu werden. Und diese Geschichte des Seelenlebens beginnt schon mit Folmans Eltern, die die Lager der Nazis erlebten. Am Ende eines ästhetisch atemberaubenden Films, dessen Animationsbilder dem Zuschauer weite Interpretationsräume eröffnen, stehen jedoch Originalaufnahmen. Diese schockieren zwar, verhindern aber die Flucht des Zuschauers in die fiktive Animationswelt.
http://waltzwithbashir.com/
Wissenschaftsjournalismus vs. Blogs?
Carsten Könneker, Chefredakteur von Gehirn&Geist sowie epoc, präsentiert in seiner Guten Stube die mehrteilige Aufzeichnung einer Podiumsdiskussion der gerade vergangenen Frankfurter Buchmesse. An dem von science2public veranstalteten Science Sunday diskutierten unter der Moderation von Annette Leßmöllmann (Hochschule Darmstadt sowie Brainlogs) er selbst, Sven Keßen (Begrenzte Wissenschaft), Mathias Schindler (Wikimedia Deutschland), Marc Scheloske (Scienceblogs.de sowie wissenswerkstatt), Thomas Wanhoff (Wanhoffs Wunderbare Welt der Wissenschaft) und für sciencegarden Chefredakteur Christian Dries über Chancen und Risiken von Blogs für den Wissenschaftsjournalismus.
Hier ein Auszug:
Stipendien für alle!
Barack Obama heißt der 44. Präsident der USA. Die Mehrheit der Amerikaner, ja die ganze Welt freut sich mit dem siegreichen Kandidaten und über ihn. Was nach den in mehrfacher Hinsicht bleiernen Bush-Jahren kaum mehr für möglich gehalten wurde: die amerikanische Demokratie ist wieder da, lebendiger denn je!
Erzdemokratisch geht es ab dem 10. November auch hierzulande zu, auf einem Terrain, das vormals nur der so genannten Elite vorbehalten war: Der gemeinnützige Verein Absolventa e.V. (dahinter steckt eine pfiffige Jobbörse gleichen Namens) vergibt dank privater Spender aus der Wirtschaft das "erste demokratische Stipendium Deutschlands" (O-Ton Pressemitteilung).
Das "demokratische Stipendium" fördert Einzelpersonen und übernimmt Kosten und Schulden, die bei den Stipendiaten im Kontext des Studiums anfallen, bis zu einer Gesamthöhe von 25.000 (!) Euro. Und so funktioniert's:
1. Alle Studierenden und Absolventen aller Fachrichtungen und Hochschulen können sich bewerben.
2. Die Höhe des Stipendiums und den Verwendungszweck bestimmen die Bewerber selbst.
3. Die Stipendiaten werden demokratisch gewählt - durch Studierende und Absolventen.
Yes, we can!
Zitat des Tages
"Vor 100 Jahren waren alle sonstigen Lebensverhältnisse viel stetiger und einfacher; man wußte: in diesem Hause, das Dir gehört und das Du nach Belieben mit Büchern und Sammlungen anfüllen kannst, wirst Du, wenn nichts Absonderliches eintritt, in 30-40 Jahren sterben, nun nimm einen vernünftigen Anlauf. Wer kann das jetzt noch sagen? Der Ortswechsel, das enge Wohnen, die Excitantia aller Art, womit unser liebenswürdiges Saeculum so reich gepfeffert ist, die Hatz und Eile, und wer kann sagen was noch Alles - von diesen Geschichten aus muß auch das Arbeiten sich americanisiren."
Jacob Burckhardt im Juli 1864 an seinen Freund Otto Riebeck in Kiel.