Archive - Dez 2008
Buddenbrooks als Dallmayr Prodomo
Die großbürgerliche Welt von Thomas Manns "Buddenbrooks" ist uns heute so fremd wie ein vor Jahrzehnten dahingeschiedener Anverwandter. Dagegen sind auch die hilflosen Reanimationsversuche der Leiche, wie sie seit einigen Jahren unter dem Stichwort "Neue Bürgerlichkeit" betrieben werden, machtlos: Den ganzen Lebensumständen und damit auch den Sorgen, dem Empfinden dieser Zeit sind wir heute weit entrückt.
Die Frage, ob es sich also bei den "Buddenbrooks" um einen verstaubten Schinken handelt, den man besser in Großmutters Regal lässt, ginge dennoch fehl: Denn immerhin bringt er uns dem Verständnis dieser verlorenen Welt näher. Sehr viel mehr aber auch nicht, auch wenn das zu behaupten nach der hundertjährigen Kanonisierung des Romans ein Sakrileg ist.
Durchaus hätte man aber dem Stoff mehr abgewinnen können als seine neueste Verfilmung, die heute in die Kinos kommt. Die "Buddenbrooks" hätten weitaus Besseres verdient, als vom Regisseur Heinrich Breloer auf das Schamloseste in weichgezeichneten Schnulzen-Szenen, die auch für Dallmayr Prodomo hätten werben können, verwurstet zu werden.
Zahlreiche Romangestalten fehlen gänzlich, die Verbliebenen verkommen im Film zu menschlichen Abziehbildern, im schlimmsten Fall zu lächerlichen Karrikaturen. Überhaupt stampft Breloer die feine Ironie Manns mit dem Presslufthammer platten Humors ein oder gibt sich gleich völlig humorlos. Ebenso werden die zentralen Dialoge des Romans oft auf Plattitüden eingedampft, einige blödsinnige Änderungen geben dem Romanstoff den Rest.
Der mit 16 Millionen Euro teuerste deutsche Film ist an aufwendigen Kostümen und Kulissen reich staffiert, geht aber an inhaltlicher Leere zugrunde. Ungewollt hat Breloer damit der "Neuen Bürgerlichkeit" ein passendes Denkmal gesetzt: Nach außen hin schillernd, nach innen hohl.
Pendeln auf Kosten der Umwelt
In der Zeitschrift für Umweltrecht kommentiert der Leiter des Department Umwelt- und Planungsrecht am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ in Leipzig, Wolfgang Köck, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Pendlerpauschale:
"Wer das Karlsruher Urteil durch die Brille seiner Umweltauswirkungen sieht, kommt nicht umhin, festzustellen, dass der 9. Dezember 2008 kein guter Tag für den Umweltschutz gewesen ist. [...] Denn wer erst vom 21. Kilometer an Fahrtaufwendungen wie Werbungskosten ansetzen darf [...], muss sich überlegen, ob es sich weiterhin lohnt, in die sog. "Speckgürtel" der Städte zu ziehen und damit die Zersiedelung voranzutreiben. Wie Heuschrecken haben sich die Neusiedlungen am Stadtrand immer weiter in die Landschaft gefressen. Für viele Städte bedeuten diese "Speckgürtel", dass die innerstädtische Infrastruktur der umweltbezogenen Daseinsvorsorge zunehmend nicht mehr ausgelastet wird, dass teure Infrastrukturen nach außen gebaut werden müssen, dass Verkehre ansteigen, dass die Häuser an den Einfallstraßen in die Städte wegen zunehmender Umweltbelastungen gemieden werden und dass eine Politik der kompakten Stadt, die sich um Revitalisierung ihrer Brachen bemüht, auf der Stelle tritt, weil diese Flächen nicht zuletzt auch wegen der Subventionierung der Fahrtwege ökonomisch nicht mit dem Außenbereich konkurrieren können."
Der ganze Kommentar ist auch hier zu lesen.
Finanzkonglomeraterichtlinieumsetzungsgesetz
"Denk' ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen..."
So bitter sich einst der Exildichter Heine in seinen Pariser "Nachtgedanken" nach dem Vaterland sehnte, so düster klingen seine Verse heute nach, wenn uns die Bilder der jüngeren deutschen Geschichte vor Augen treten. Ach ja, die Deutschen! "Für die Weltgeschichte habt ihr genug getan", seufzte schon Churchill. Dazu noch die eklatante Humorlosigkeit, das fette Essen, die preußische Akkuratesse...
Aber wie steht es heute wirklich um unser Ansehen in der Welt? Was denken die anderen von uns - und was können wir dadurch über uns selbst lernen? Fragen, auf die ein glanzvoll geschriebener und reichlich illustrierter Band aus dem Bucher-Verlag auf das Unterhaltsamste zu antworten weiß: "Piefke, Krauts und andere Deutsche. Was die Welt von uns hält", 187 Seiten, 140 Abbildungen, 24,95 Euro und hochgradig geschenktauglich.
Dem Bamberger Autorenpaar Andrea und Martin Schöb, die hauptberuflich unter anderem eine Text- und Übersetzungsagentur betreiben, gelingt in ihrem Buch, was man heute nur noch selten findet: Die Verbindung von profundem Wissen und subtilem Humor mit verblüffenden Details, die pars pro toto das Große im Kleinen erhellen. Kein einziges der zehn Kapitel - über deutsche Ordnung, deutschen Humor, deutsches Essen und deutsche Kultur... - hat einen Hänger, die feine, lebendige Sprache beglückt den Leser permanent und die Überleitungen am Ende jedes Kapitels machen es schwer, den Band nicht in einem Stück zu lesen, und das obwohl "die Deutschen" ja bekanntlich zu monströsen Bandwurmwörtern (siehe Überschrift) und ominösen Rechtschreibreformen neigen.
Am Ende des Buches weiß man nicht nur, wie viele Brathähnchen während des Oktoberfests verschlungen werden (und - typisch deutsch? - wie viel Müll auf der Wies'n anfällt) oder dass es überall auf der Welt Gartenzwegbefreiungsarmeen gibt. Sondern vor allem, dass unser Land von außen oft differenzierter und freundlicher wahrgenommen wird, als wir selbst das für gewöhnlich tun. Ob Heine deshalb heute besser schlafen würde, steht zwar auf einem anderen Blatt. Die Tränen aber müssten ihm nicht mehr fließen.
Weihnachten & falsche Erwartungen
Schenken Sie zum "Fest der Liebe" oder zum "Fest des Friedens", solche dummen Sätze produzieren die Texter der Vorweihnachtswerbung. Sie verankern in den Konsumenten die Illusion, an Weihnachten herrsche qua göttlicher Fügung Harmonie. In LUKAS 2,9 liest man: "Und siehe, des Herren Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herren leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr." Vielleicht ist das die Kernbotschaft der Geschichte: Weihnachten ist das Fest der Klarheit, und was in der sichtbar wird, ist weder gut noch böse -- es ist wahrhaftig, und damit eventuell schwer auszuhalten. Klarheit kann Angst machen. An Weihnachten kann einem klar werden, wen man liebt (und wen nicht), wozu man bereit ist (und wozu nicht mehr), wieweit die Höflichkeit gehen soll (und wo sie Heuchelei ist), wie man zur eigenen Familie steht (und wie nicht). Die ganze Weihnachtsgeschichte ist eine Elendsgeschichte -- wer hätte schlechtere Rahmenbedingungen als Maria und Joseph? -- und nach der Ankunft des Christus folgt der Kindsmord. Gewalt ist in der Geschichte, die Grundlage des Weihnachtsfestes ist, also eingebaut. Jesus liegt noch als Baby in der Wiege, er bringt die Möglichkeit des Friedens, der noch keineswegs an Weihnachten erreicht ist. Und wer die Bergpredigt liest, der wird wissen, dass es ein Fernziel ist, Christ zu werden (wie es Kierkegaard und Tolstoj sagten), und keineswegs einfach durch ein Bekenntnis zu realisieren. Wer liebt schon seine Feinde? Wer empfindet maßloses Mitgefühl? Wer richtet nicht? Diese Werte wollen lange erarbeitet werden. Die heutigen Erwartungen an das Weihnachtsfest sind derart verfälscht, das psychologisch das Scheitern vorprogrammiert scheint. Und tatsächlich: Die Selbstmordraten steigen, die Anzahl der Depressionen auch. Die Originaltexte der Heiligen Schrift suggerieren diese falschen Erwartungen nicht. Man möchte also Rufen: Glaubt nicht der Werbung! Der Engel, und an den hält man sich besser, rief: "Fürchtet euch nicht!" In der Klarheit wird man nämlich nicht allein gelassen, Christus ist geboren.
Nachbarschaftsverständnishilfe
Wenige europäische Völker haben unter Hitlers Vernichtungsfeldzug so sehr gelitten wie die Polen. Die Wunden sind bis heute nicht vernarbt. Und schnell wieder aufgerissen, wie man an der Debatte um das geplante Vertriebenenzentrum in Berlin oder an den Versuchen der letzten polnischen Regierung unter Jaroslaw Kaczynski ablesen konnte, aus der besonderen Schwere der Kriegsfolgen eine europäische Sonderrolle für das Land abzuleiten.
Die Auseinandersetzung der Polen mit den einstigen Besatzern aus dem Westen reicht zurück bis ins Mittelalter - fast ebenso lange kursieren schon jene hartnäckigen Vorurteile der Deutschen über die vermeintliche ökonomische und politische Unfähigkeit ihres östlichen Nachbarn und seinen angeblichen Hang zur Kleptomanie ("Polenwitze"). Doch sie überdecken nur, wie eng beide Länder miteinander verbunden sind - und dass es höchste Zeit wird, einander wieder näher kennen zu lernen. Europa sei dank, hindert uns daran eigentlich nichts mehr. Die Grenzen sind offen, viele Polen sprechen fließend Englisch oder Deutsch. Und doch scheint uns das Land so fern und unbekannt wie Afrika und - die Vorurteile sitzen tief - wohl auch ein wenig unheimlich. Allein es fehlt an Wissen!
Wussten Sie zum Beispiel, was die Preußen mit den Polen zu tun haben, warum polnische Konservative die deutschen Christdemokraten nicht mögen, wie der polnische Papst Johannes Paul II. die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht hat und aus welchen historischen Gründen Polen - in Europa nahezu isoliert - für den Irak-Krieg George W. Bushs stimmte? Oder dass Karl Marx und Friedrich Engels gewissermaßen den Vorläufer der EU gründeten - gemeinsam mit einem Polen?
Diese und andere Fragen klärt Thomas Urban in der neuen, von Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker herausgegebenen und liebevoll aufgemachten Reihe "Die Deutschen und ihre Nachbarn". Der langjährige SZ-Korrespondent, selbst mit einer Breslauer Polin verheiratet und wohnhaft in Warschau, bringt seinen Lesern auf 170 Seiten persönlich, kompakt und kenntnisreich die wichtigsten Wegmarken deutsch-polnischer (Mentalitäts-)Geschichte nahe. Mehrere Abbildungen und Karten, Zeittafel und Literaturverzeichnis runden den positiven Gesamteindruck ab und verleiten dazu, den geplanten Asienurlaub umgehend zu stornieren.
Die auf dem Buchumschlag stilisierte Marienkirche steht übrigens in Krakau (polnisch: Krakow), bis 1596 Hauptstadt Polens und Sitz der zweitältesten Universität Mitteleuropas, inmitten eines Viertels, dass architektonische Glanzstücke aus Gotik, Renaissance und Barock versammelt und für sich schon eine Reise wert ist.

Produktive Naturen
"Für mich ist Emersons Axiom, daß gute Bücher die beste Universität ersetzen, unentwegt gültig geblieben, und ich bin noch heute überzeugt, daß man ein ausgezeichneter Philosoph, Historiker, Philologe, Jurist und was immer werden kann, ohne je eine Universität oder sogar ein Gymnasium besucht zu haben. Zahllose Male habe ich im praktischen Leben bestätigt gefunden, daß Antiquare oft besser Bescheid wissen über Bücher als die zuständigen Professoren, Kunsthändler mehr verstehen als die Kunstgelehrten, daß ein Großteil der wesentlichen Anregungen und Entdeckungen auf allen Gebieten von Außenseitern stammt. So praktisch, handlich und heilsam der akademische Betrieb für die Durchschnittsbegabung sein mag, so entbehrlich scheint er mir für individuell produktive Naturen, bei denen er sich sogar im Sinn einer Hemmung auszuwirken vermag. [...] So wurde das eigentliche Kriterium meiner Wahl nicht, welches Fach mich am meisten innerlich beschäftigen würde, sondern im Gegenteil, welches mich am wenigsten beschweren und mir das Maximum an Zeit und Freiheit für meine eigentliche Leidenschaft verstatten könnte."
Stefan Zweig, Die Welt von gestern (1942).
Zitat des Tages
Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die Anderen Pazifisten werden? Es ist nicht zu sagen, aber vielleicht ist es keine utopische Hoffnung, dass der Einfluss dieser beiden Momente, der kulturellen Einstellung und der berechtigten Angst vor den Wirkungen eines Zukunftskrieges, dem Kriegführen in absehbarer Zeit ein Ende setzen wird. Auf welchen Wegen oder Umwegen, können wir nicht erraten. Unterdes dürfen wir uns sagen: Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg.
Sigmund Freud (1932)
Aus:
Sigmund Freud / Albert Einstein: Ein Briefwechsel. Wien: Frick: 1953.