Archive - Jun 2008
Das Scheitern von Bologna
Mittlerweile ist auch Staatsminister a.D. Julian Nida-Rümelin zu der Einsicht gelangt, dass der sogenannte Bologna-Prozess in jeglicher Hinsicht ein Fehlschlag ist.
In seinen "Thesen zur Hochschulpolitik in Deutschland" stellt der Münchner Philosophieprofessor fest, dass kein einziges der mit den Beschlüssen von Bologna verfolgten Ziele ereicht wurde. Im Gegenteil hätten u.a. die neue Modularisierung und Verschulung der Studiengänge, die Abschaffung renommierter Studienabschlüsse oder die europaweit ganz unterschiedliche Vergabe von "ECTS-Punkten" zu gesunkener Mobilität, zu weniger internationaler Vernetzung, zu geringerer Konkurrenzfähigkeit, zu gestiegenen Studienabbrecherquoten geführt. So sehr diese Feststellung zu begrüßen ist, fragt sich doch, wie lange unsere Universitäten noch Schaden nehmen müssen, bis endlich der hochschulpolitische Mut zur klaren Umkehr gefunden wird.
Video: Selektive Wahrnehmung
Das der Mensch seine Umwelt selektiv wahrnimmt ist zwar hinlänglich bekannt, aber es ist trotzdem immer wieder erstaunlich, wie stark dieser Effekt sein kann.
Das folgende Video ist im Auftrag der Londoner Stadtverwaltung produziert worden und soll zur Rücksichtnahme auf Fahrradfahrer im Verkehr sensibilisieren.
- Bei Wikipedia: Selektive Wahrnehmung
Verbessert eure Grammatik!
Das Stichwort "Nutzerfreundlichkeit" ist in aller Munde. Warum es also nicht auch auf ein Buch anwenden, das seinen Nutzern schnell und präzise Informationen im schreibenden Arbeitalltag liefern soll? - Das dachten sich wohl auch Forscher der Uni Kassel, und legten gemeinsam mit der Duden-Redaktion ein Projekt zur "Grammatikbenutzungsforschung" auf. Damit soll endlich einmal empirisch geprüft werden, was eine "gute" Grammatik denn aus Nutzersicht ausmacht. Wer mitmachen will bei der ersten deutschen Grammatikverbesserung, kann das auf der Homepage des Projekts tun. Und damit vielleicht gleich zu einer doppelten Grammatik-Verbesserung beitragen: der des Buches und der im praktischen Sprachgebrauch, wenn wir dieses dann alle lieber und öfter konsultieren...
The times they are a-changin'?
"Um an der Universität vorwärtszukommen, also etwa vom Assistant Professor zum Ordninarius befördert zu werden, etc. muß man publizieren. Dieser Publikationszwang liegt hier auf allen wie ein Alpdruck. Die akademischen Zeitschriften sind vollgestopft mit Quatsch, an den der Autor auch nicht glaubt, der aber notwendig ist für Karriere. Keine dieser Zeitschriften zahlt je einen roten Heller; sehr wenige von ihnen werden gelesen. Ein Ausweg ist nur, statt ein Buch zu schreiben, sich ein Buch von anderen schreiben zu lassen und Editor zu werden. [...] Auch dies ist kein Schwindel, weil es allgemein üblich ist."
Ein aktuelles Statement zur Lage der Wissenschaft im Jahre 2008? Exakt!
Geschrieben am 15. November 1953 in einem Brief Hannah Arendts an ihren akademischen Lehrer und Freund Karl Jaspers.
Seit über 60 Jahren leiden alle an derselben Malaise - geändert hat sich nichts. Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, dem Publikationszwang zu entrinnen.
Zitat des Tages
"Es ist gut, den Prüfer persönlich zu kennen. Wenn sich nämlich eine, wenn auch nur ganz kurze und oberflächliche, Bekanntschaft aufgebaut hat, werden der Umgang menschlicher und die Regeln der Höflichkeit verbindlicher. Man kann es auch anders, biologistischer ausdrücken: Es entsteht eine Beißhemmung."
Gefunden in einem Standardwerk:
Werner Metzig / Martin Schuster (2006): Prüfungsangst und Lampenfieber. Bewertungssituationen vorbereiten und meistern. 3. Aufl., Springer, Berlin/Heidelberg/New York, S. 131
Mehr zum Thema finden Sie hier.
Hirn am Steuer
Jetzt müsste ich nach links fahren", denken Sie - und Ihr Auto steuert elegant genau in diese Richtung. Zukunftsmusik? Nicht an der TU Braunschweig. Ein dort entwickeltes Verfahren ermöglicht es, ein Fahrzeug allein mit Hilfe der Hirnströme zu lenken. Einige Konzentration ist dennoch vonnöten: der Fahrer muss seinen Blick auf einen von zwei Bildschirmen mit Schachbrettmuster lenken, die Steuerung reagiert nämlich auf Signale des Sehzentrums. Können Sie sich alles nicht so richtig vorstellen? - Hier gibt's einen kurzen Film:
Aus Níl mach Tá
Europäischen Demokraten sollte dieser Tage die Schamesröte ins Gesicht steigen: Es war ohnehin schon ein ungeheuerlicher Skandal, die zwei Volksreferenden Frankreichs und der Niederlande von 2005 mit Füßen zu treten und die gescheiterte Verfassung fast identisch, nur unter anderem Titel durch die Parlamente zu peitschen. Nachdem nun die Iren diesem Vertragsmonstrum, von dem fast keiner weiss, was es eigentlich genau ist und was in ihm steht, eine Abfuhr erteilt haben, missachten Europapolitiker- und Bürokraten sowie die überwiegende Mehrheit der Journalisten nun auch noch das irische Referendum: Im Notfall könne man auch ohne Irland. Oder alternativ: Abstimmen, bis das Ergebnis stimmt. Durch solche Machenschaften soll Europa dann "transparenter und demokratischer" werden, heißt es.
Warum hört man eigentlich fast nie etwas von den brisanten Bestandteilen des Vertrags? Von der Entmachtung unserer Parlamente, der Deregulierung bis zum Manchesterkapitalismus, der Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur militärischen Aufrüstung, der Sanktionierung des Angriffskrieges (Pardon: "Friedensmission")?
Die Iren wurden als einziges Volk Europas noch einmal direkt zur Selbstaufgabe ihrer Souveränität gefragt. Selbst in dieser Entscheidung wird ihnen nun von nicht wenigen EU-Dogmatikern die politische Mündigkeit abgesprochen, da das Wahlvieh ja gar nicht so genau gewusst habe, was in dem "Vertrag" steht. Wer hat die Desinformation denn zu verantworten? Wüssten wirklich alle Europäer, was uns mit "Lissabon" droht - das irische "Níl" hätte noch eindeutiger ausfallen müssen.
Dankenswerterweise verrät die EU selbst, was sie unter "Transparenz" versteht. Der Lissabon-Vertrag ist nur nach zehnjährigem Rechtsstudium und unter Zurhilfenahme vorheriger Vertragswerke zu verstehen. Die fast deckungsgleiche und ebenso gescheiterte EU-Verfassung gibt es hier zu lesen.
Neue Studie zum Niedriglohnsektor
Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen. Mittlerweile gehört mehr als jeder sechste Vollzeitbeschäftigte zu den "Geringverdienern".
Frauen sind von niedrigen Löhnen überproportional betroffen. Sie stellen nur gut 35 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten, aber fast 60 Prozent der vollzeitbeschäftigten "Geringverdiener". Frauen sind zudem besonders gefährdet, im Niedriglohnsektor zu verbleiben: Bei den Männern schaffte rund jeder fünfte innerhalb von sechs Jahren den Sprung über die Niedriglohnschwelle, bei den Frauen nur jede zehnte.
Die prekäre Lage der "Geringverdiener" zeigt eine am Montag veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des Lehrstuhls für Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik der Universität Erlangen-Nürnberg auf.
Parallelen (II)
In ihrer dickleibigen Studie über das Verhältnis zwischen der jüdischen Denkerin Hannah Arendt und dem vielleicht deutschesten aller Philosophen, Martin Heidegger, beschreibt Antonia Grunenberg an einer Stelle, wie sich die Studienbedingungen unter den Nationalsozialisten - in Freiburg mit ausdrücklicher Zustimmung des Kurzzeitrektors Heidegger - wandelten:
"Das Studium war [...] verschult worden und, neben den schon immer üblichen Unterteilungen in Vorlesung, Übung, Pro- beziehungsweise Oberseminar, in Unter-, Mittel- und Oberstufe aufgeteilt worden. Mehrfach mussten die Studenten während ihres Studiums in Arbeits- und Wehrsportlager gehen [...]." (S. 192; A. G.: "Hannah Arendt und Martin Heidegger")
Ein böser Schelm, wer – politisch unkorrekt – Parallelen zu Credit Points, (unbezahlten) Praktika und Softskill-Trainings zieht und bei der europaweit organisierten Erziehung zur Müdigkeit und zum Konformismus an "Bologna" 2008 denkt statt an Berlin 1933...?
Der Vergleich mag anstößig klingen. Er ist es nicht. Oder will man "Bologna", dessen Kernelemente ausschließlich auf Unternehmerinteressen zugeschnitten sind, tatsächlich als modernisierte Fassung humanistischer (Persönlichkeits-)Bildung begreifen - Humboldt reloaded sozusagen?
"Bologna" hat so gut wie alle seine Ziele verfehlt, und gerade die (deutsche) Wirtschaft, für die man das alles angerichtet hat, fremdelt mit dem neuen Bachelor!
Fehlt jetzt eigentlich nur noch die Einführung von Pflichtsport ab dem 2. Semester. Von wegen gesunder Körper in einem gesunden Geist und so...
Video: Groß und Nichtig
„Perspektivenerweiternd“ ist das folgende Video, welches die Relativität der Dinge im Universum und den Effekt einer dem Betrachtungsmaßstab angehängten Null illustriert.
(Wer das jetzt nicht versteht, sollte sich den Film auf jeden Fall anschauen ;-)
Gesund leben!
"2. Du musst dich stets sauber halten und Deinen Körper pflegen und üben. (...)
3. Pflege Deine Zähne. (...)
4. Iss reichlich rohes Obst, rohe Salate und Gemüse, nachdem Du sie gründlich mit sauberem Wasser gereinigt hat. Im Obst sind wertvolle Nährstoffe enthalten, die beim Kochen verloren gehen.
5. Trink flüssiges Obst. Lass den Kaffee den Kaffeetanten. Du hast ihn nicht nötig.
6. Meide Alkohol und Nikotin, sie sind Gifte und hemmen Dein Wachstum und Deine Arbeitskraft.
7. Treibe Leibesübungen! Sie machen Dich gesund und widerstandsfähig.
8. Du musst jede Nacht mindestens neun Stunden schlafen.
9. Übe dich in der Ersten Hilfe bei Unglückfällen. (...)
10. Über all Deinem Handeln steht das Wort: Du hast die Pflicht gesund zu sein"
Diese Gebotsliste klingt nicht wie direkt from hell, sie ist es aber. Es sind die von Baldur von Schirach 1939 herausgegebenen "10 Gebote" für die Hitler Jugend. Das erste entlarvt die Herkunft: "Dein Körper gehört Deiner Nation, denn ihr verdankst Du Dein Dasein. Du bist für Deinen Körper verantwortlich". Heute müsste man ersetzen: "Dein Körper gehört dem Diskurs". Aber was ist mit den restlichen neun Geboten? Geben sie -- historisch -- zu denken? Was stimmt da nicht?
(Zitiert nach: Hermann Giesecke: Hitlers Pädagogen. Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung. 2. Aufl., Weinheim/München 1999, S. 184 f.)
Gesucht: Professoraler Humor
Harold Marcuse ist nicht nur der Enkel von Herbert Marcuse, seines Zeichens Kritischer Theoretiker der ersten Stunde und gefeierter Starphilosoph der weltweiten 68er-Bewegung, sondern auch Professor für Geschichte an der University of California (Santa Barbara).
Was er von Studenten hält, die sich mit ihm über ihre Zensuren kabbeln wollen (engl. ,to bicker‘), hat er auf seiner informativen Homepage unmissverständlich klar gemacht – und damit ein (grün) leuchtendes Beispiel für professoralen Humor gestiftet, dass an Deutschlands bierernsten Eliteuniversitäten seinesgleichen sucht.
Hinweise auf löbliche Ausnahmen dringend erbeten!
Soziale Plastik
An Joseph Beuys kann man sich bis heute reiben; und das spricht für ihn. Vollends kommerzialisieren lässt sich der Mann mit Hut bis heute nicht, er wurde nie der deutsche Andy Warhol. Als Tapetendruck sind die Beuys-Werke ungeeignet. Wer also mehr von der Kunst erwartet als Dekoration, für den hört die Inspiration, die von Joseph Beuys ausgeht, nicht auf: Sein "erweiterter Kunstbegriff", seine gesellschaftliche Verantwortung, sein Interesse an realer Politik und einer anthroposophischen Weltsicht, sein Formgefühl und die eigene, alle etablierten Grenzen sprengende Kunstphilosophie, dies alles provoziert bis heute. In der Reihe "Kunststücke" erinnert ein Feature des Deutschlandradio Kultur an den weltweit bekanntesten deutschen Künstler: 21. Juni, ab 18:05 Uhr.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/feature/781558/
Juni/Juli: Die neue Ausgabe ist da...
... mit den Siegerbeiträgen des sciencegarden-Schreibwettbewerbs "Die Stadt in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft".
Unsere Gewinner, zwei Männer und zwei Frauen, haben sich dabei vor allem um die Zukunft gekümmert und Reportagen und Berichte zur Statdentwicklung verfasst. Dabei präsentieren sich die porträtierten Städte als Dauerbaustellen, auf denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich permanent überlagern und durchmischen.
Alle Texte des sciencegarden-Schreibwettbewerbs seit dem 1. Juni auf sciencegarden.de.
Darüber hinaus haben wir einen Bericht aus Venezuela im Programm: Joachim Jachnow schreibt über städtische Moloche und ein prämiertes Video, das die Stadt als naturverschlingendes Monster zeigt. Im Interview mit Birgit Milius spricht Prof. Manfred Wermuth von der TU Braunschweig über Innenstädte und Autos.
Und zum ersten Mal in sciencegarden: ein Comic der Berliner Künstlerin und Illustratorin Nastasja Keller! Sie ist in die Stadt der Zukunft gereist - und nicht angekommen...
Viel Vergnügen!