Archive - Jan 2009
Sternegucken für Anfänger
Der Winter ist zurück in Deutschland und mit ihm die kalten, klaren Nächte. Wen es trotz Minusgraden vor die Tür oder für eine Cigarette auf den Balkon zieht, kann sich mit Sternegucken vom Frieren abhalten - und dabei etwas lernen. Denn während die Stadt schläft, zeigt der Himmel erst sein wahres Gesicht. Übersäht mit zahllosen "massereichen, selbstleuchtenden Gaskugeln - vulgo: Sternen - und einer Hand voll mehr oder weniger gut sichtbarer Planeten, bietet er ein immer wieder aufs Neue atemberaubendes Gratis-Schauspiel, zu dessen bekanntesten Akteuren die Sternbilder "Casiopeia", "Orion" und "Der große Wagen" zählen.
Wer wissen will, wo sie am Firmament zu sehen sind oder wie man mit Hilfe des Polarsterns herauskriegt, wo Norden ist, kann sich hier spielerisch in 15 Minuten am Bildschirm fit machen und anschließend im Freien trainieren. Spätestens zur ersten lauwarmen Frühlingsnacht hat man dann auch das nötige romantische Herrschaftswissen für den Beziehungsanbahnungsabend drauf.
Operation Walküre
Brian Singer ist ein guter Filmemacher, und seine "Operation Walküre" ist gelungen. Der Film wird bis in die Hinterwelten das Wissen verbreiten, dass die Deutschen ein Volk von Hitler-Anhängern waren. Aber aus diesem Volk heraus wurden allein 15 nachgewiesene Attentate auf den Diktator verübt; und auch wenn sie misslangen, es gab ethisch motivierten Widerstand, von ganz unterschiedlichen Weltanschauungen motiviert. Und das wissen außerhalb von Deutschland nicht viele. Peter Hoffmann, der beste Kenner und Biograph von Stauffenbergs, hat sich positiv über den Film geäußert, Fakten werden also nicht "verzerrt". Der Film vermittelt durchaus Wissen, ist dabei aber zugleich enorm spannend. Den Unterschied zwischen Kognition und Emotion macht er überdeutlich: Jeder weiß, wie es ausgeht, am Ende des Films ist der Zuschauer aber doch bestürzt: Es war so knapp! Es hat so wenig gefehlt! Tom Cruise, so umstritten er sein mag, sieht von Stauffenberg nicht nur sehr ähnlich. Er fällt in Singers Film auch nicht durch over-acting auf. Er bleibt in seiner Rolle -- wie das historische Vorbild -- angenehm undurchsichtig. Auf Hoffmanns Biographien über Graf von Stauffenberg macht der Film neugierig, jetzt will man es genauer Wissen: ob aus der 700 Seiten Vollversion oder der 100-seitigen zum Einstieg.
Erst unterrichten, dann Karriere machen
Was in den USA bereits eine Erfolgsgeschichte ist, soll nun auch in Deutschland Früchte tragen. Die Rede ist nicht vom größten Konjunkturpaket aller Zeiten, das der neu gewählte amerikanische Präsident in atemberaubender Geschwindigkeit soeben geschnürt hat. Gemeint ist ein Programm, in dem hochqualifizierte Uni-Absolventen zwei Jahre lang Karriereaskese üben und als Hilfslehrer an so genannten Brennpunktschulen unterrichten. Dort, wo Kinder nicht nur von einem schlechten Startplatz aus ins Klassenzimmer strömen, sondern auch kaum Aussicht auf gesellschaftliche Anerkennung und Beschäftigung haben, von Bildung ganz zu schweigen.
"Teach First Deutschland" nennt sich die von namhaften Firmen und Institutionen geförderte Initiative, die diese düsteren Perspektiven von zwei Seiten aus aufbrechen will: Indem sie benachteiligte SchülerInnen durch zusätzliche Spitzenlehrkräfte motiviert (was in den Mutterländern der Idee, den USA und England, nachweislich gelingt), aber vor allem, indem sie die Elite-Praktikanten, die nach zwei Jahren auf Posten in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik wechseln, durch ihren Einsatz für die bildungspolitischen Belange der SchülerInnen sensibilisiert.
Wer sich jetzt für diesen lehrreichen Umweg entscheiden und bei Teach First bewerben will, findet auf der übersichtlichen Webseite ausführliche Informationen.
Die Frage aller Fragen
Überholte Technik dominiert die Szene so sehr, dass sie dem Kinobesucher fast psychedelisch entrückt erscheint: Während in der Fernschreibzentrale junge Fauen in emsigem Stakkato auf ihre Schreibmaschinen einhacken, meint der Beobachter mit heutigem Kenntnisstand, dass sich im Hintergrund ein unheilvolles Geschehen wie bleierner Nebel dem Angesicht der Erde nähert. Haftbefehle gegen Stauffenberg und Goebbels - welcher soll weitergegeben werden? Der diensthabende Offizier kommt nur kurz ins Grübeln - natürlich beide.
Diese Art, den Showdown zwischen Widerständlern und dem Führerhauptquartier zu inszenieren, ist typisch für "Operation Walküre". Regisseur Bryan Singer gelingt es, die Entschlossenheit von Stauffenberg und die Bedeutung des Geschehens zu transportieren, ohne dabei die kleinen Stolpersteine und den Faktor Zufall aus den Augen zu verlieren. Die Dramaturgie des Films ist dabei preußisch-genau mit der motivischen Dichte und Verschlungenheit einer Wagner-Oper: Auch der unbedarfte Zuschauer ahnt, dass der Spiel-Schwertkampf von Stauffenbergs Kindern zu den schmetternden Klängen des "Walkürenritts" mehr beinhaltet als die zündende Idee, wie das Attentat samt politischer Machtübernahme zu bewältigen sei. Gleichzeitig erinnern die Texte, in denen beispielsweise Hitler sagt, er wünsche "es gäbe mehr Männer wie [Stauffenberg]" in ihrer ahnungsvollen Doppeldeutigkeit fast schon an Shakespeare.
Sein Momentum gewinnt der Thriller mit ernstem Hintergrund denn auch nicht aus dem eigentlichen Geschehen, dessen Ausgang ja bekannt ist. Vielmehr wirkt er durch das ständig sichtbare Ringen zwischen der stringenten Ausführung eines militärischen Plans auf der einen und Zufall und menschlichem Zweifel auf der anderen Seite. Von diesem Zaudern werden alle Dienstränge gleichermaßen erfasst: Hier bekommt General Olbricht plötzlich (und zurecht) Angst vor der Linientreue seines Vorgesetzten Fromm, dort wollen Stabsunteroffiziere "in jedem Fall auf der richtigen Seite" stehen. Indem er das Innere seiner Protagonisten auf die Bühne zerrt, antwortet der Regisseur auf die zweitwichtigste Frage zu "Operation Walküre": Nein, das deutsche Volk erhält durch diesen Film keine völlig weiße Weste!
Darüber bringt der Film aber auch eine der zentralen Fragen der Historiker ins Bewusstsein: Im Gegensatz zu "Der Untergang" legt "Operation Walküre" ein vorzeitges Ende des Hitler-Regimes nämlich als durchaus möglichen Pfad der Geschichte nahe. Und im Anschluss daran die Überlegung: Wie wichtig ist die Person Adolf Hitler für das Deutschland der Jahre 1933-1945?
Europa ohne Bürger
Am 10. und 11. Februar wird sich hierzulande das Bundesverfassungsgericht mit dem sogenannten Reformvertrag von Lissabon auseinandersetzen, der einen europäischen Quasistaat begründen wird, mit einer Verfassung, "wie man sie vielleicht in der Mitte des 19. Jahrhunderts notfalls gerade noch für eine kurze Übergangszeit in Kauf genommen hätte" (Burkhard Hirsch). Nach dem skandalösen Ausbleiben einer seriösen Debatte - sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den Parlamenten - bleibt die Judikative die letzte Bastion, die uns vor einer solchen Verfassung vielleicht noch retten kann.
Während die Eliten in Politik, Wirtschaft und Bürokratie den Integrationsprozess Europas auf zunehmend chauvinistische Weise als Erfolgsgeschichte propagieren, kann der Bürger nicht einmal mehr über sein wesentlichstes politisches Gut bestimmen: seine verfassungsrechtlich verbürgte Souveränität. Der Soziologe Max Haller (Universität Graz) hat untersucht, wie diese Kluft entstanden ist und welche Interessen die Eliten mit der Integration verfolgen. In seinem neuesten Buch "European Integration as an Elite Process - The Failure of a Dream?" entwickelt Haller auch Vorschläge, wie die EU demokratischer gestaltet werden könnte. Dies und mehr wird der Soziologe am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung mit den Politologen Prof. Michael Zürn und Dr. Miriam Hartlapp diskutieren.
"Europa ohne Bürger. Die EU-Integration als Projekt der Eliten", Max Haller (Universität Graz) im Gespräch mit Michael Zürn und Miriam Hartlapp (beide WZB), Wissenschaftszentrum Berlin, 27.01.2009, 17 bis 19 Uhr. Anmeldung erbeten bis zum 22. Januar 2009. Marie Unger: , Fax: 030-25491-680. Weitere Informationen: http://www.wzb.eu
Ali Baba vor verschlossener Tür
"Sesam, öffne" dich -- mit so einer einfachen Zauberformel öffnet Ali Baba die Schatzkammer. Aber die Zeiten sind vorbei: Um sich selbst von der gescheiterten BA-Reform abzulenken, erfinden die deutschen Hochschulen neue Ärgernisse. Dozenten und Professoren, die gar nicht erst in ihre Büros oder Seminarräume kommen, können auch keine Kritik üben.
Viele Hochschulen führen zur Zeit so genannte "Transponder"-Schließsysteme ein, der alte Schlüssel ist passé: eine perfekte mechanische Technik, die nicht verbesserungsfähig ist, kann man schließlich nur noch abschaffen. An die Stelle des Schlüssels tritt ein elektronisches Ding mit einem Knopf. Das wird zentral programmiert, die Büronummer und die Seminarräume, in denen man unterrichtet, werden gespeichert: jedes Semester neu. Es gibt keine Türklinken mehr, sondern ohne das elektronische Ding -- ähnlich wie in unsympathischen Hotels -- kommt man weder rein noch raus. Man muss kein Soziologe sein, um zu ahnen, was daraus in der Praxis der Massenuni werden wird: Wie soll man noch einen Raum tauschen, wenn das eine Seminar klein, das eines Kollegen aber groß ist? Wie kommen studentische Hilfskräfte und Projektmitarbeiter in die Räume? Sind die Besprechungsräume noch zugänglich? Was passiert, wenn die Batterie des "Transponders" leer ist? Dann fällt das Seminar, die Sprechstunde, einfach alles aus!
Einen Pförtner, oft die letzte Insel des gesunden Menschenverstandes an der Uni, wird es nicht mehr geben. Weil die ja typischer Weise die Schlüssel herausgaben. Ein Kollege erzählte mir, wie die Neuprogrammierung vor sich geht: Es geht ein Antrag an den Dekan, der segnet ihn ab und sendet ihn an einen Mitarbeiter der Verwaltung, der schickt eine entsprechende Anweisung an den Hausmeister, der hat einen Mitarbeiter, um den Transponder neu zu programmieren. Dies muss für alle Mitarbeiter der Hochschule erledigt werden. Wie viel Zeit wird dieser Verwaltungsweg benötigen? Wie ruhig hingen die einfachen Schlüssel in einem Schrank? Eigentlich will man nur in sein Büro. Oder in einen Seminarraum, vor dem eine Gruppe Studierender wartet. Wir freuen uns auf diese Zukunft. Ich werde verzweifelt vor meinem eigenen Büro stehen und rufen: "Sesam, öffne dich".
Die langsame Erosion Bolognas
Die zur Lernfabrik verkommene deutsche Universität produziert unter Lehrenden und Studierenden mehr Frust als Abschlüsse, nur Widerstand regt sich in bemerkenswerter Weise kaum. Ist es die Angst, nach dem Juniorprofessor nicht weiter beschäftigt zu werden? Die Studierenden haben wahrscheinlich aufgrund ihrer überfrachteten Stundenpläne weder Zeit zu protestieren, noch über die misslichen Zustände ihres Daseins nachzudenken. Denn: Die nächste Prüfung ist schon übermorgen.Da bleibt einem nur der Weg in die innere Emigration oder man versucht sein Glück außerhalb Deutschlands - vielleicht traut man dort Studenten intelligentere Dinge zu, als nur Stundenpläne zu organisieren und vorgefertigte Lehrinhalte auswendig zu lernen. Einen mutigen Schritt tat in diesen Tagen der Mainzer Theologieprofessor Marius Reiser: Er hat sein Demissionsschreiben beim rheinland-pfälzischen Wissenschaftsministerium eingereicht. Seine vielfältigen Beweggründe, die sich stets auf den hier bereits mehrfach kritisierten Bologna-Prozess beziehen, legt er in einem Schreiben an seine Universität und das rheinland-pfälzische Wissenschaftsministerium dar, das in der FAZ nachzulesen ist. Mit dem Demissionsgesuch zieht er die Konsequenzen aus der Berufsverschulung der Universität.
Der Große Frost
"Der Große Frost war, so erzählen uns die Historiker, der strengste, der diese Inseln je heimsuchte. Vögel erfroren mitten in der Luft und stürzten wie Steine auf die Erde. Zu Norwich wollte eine junge Bauersfrau in ihrer üblichen robusten Gesundheit die Straße überqueren und ward von Zuschauern gesehen, wie sie sich vor aller Augen in Pulver verwandelte und als ein Staubgewölk über die Dächer verwehte, als der eisige Sturm sie an der Straßenecke traf. Die Sterblichkeit unter Schafen und Rindern war enorm. Leichen froren ein und konnten nicht von den Laken gezogen werden. Es war kein ungewöhnlicher Anblick, auf eine ganze Herde von Schweinen zu stoßen, die unbeweglich auf der Straße angefroren waren. Die Felder waren voll von Schafhirten, Pflügern, Pferdegespannen und kleinen, Vögel scheuchenden Jungen, alle erstarrt in dem, was sie gerade getan hatten, der eine mit der Hand an der Nase, ein anderer mit der Flasche an den Lippen, ein dritter mit einem Stein, den er erhoben hatte, um ihn nach einem Raben zu werfen, der wie ausgestopft kaum einen Meter von ihm entfernt auf der Hecke saß. Die Strenge des Frostes war so außerordentlich, dass manchmal eine Art Versteinerung erfolgte; und es wurde allgemein angenommen, dass der große Zuwachs an Steinen in einige Teilen Derbyshires nicht auf einen Vulkanausbruch zurückzuführen war, denn es gab keinen, sondern auf die Verfestigung unglückseliger Fahrensleute, die im wahrsten Sinne des Wortes dort, wo sie gingen und standen, zu Stein geworden waren."
Virginia Woolf: Orlando. Eine Biographie. S. Fischer, Frankfurt/Main 1990, S. 25 f. (Zuerst 1928).
