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Bitte lächeln und weitersuchen!
Anne of Green Gables bewegt die Herzen und Nortel Networks die Aktienkurse. Kanada bewegt die Welt. Und was bewegt Kanada? Vor allem die Tatsache, dass es kaum jemand zur Kenntnis nimmt. Im Schatten des großen Bruders USA, fällt den Kanadiern die Suche nach der eigenen Identität schwer. Margaret Atwood, Literaturprofessorin und mit Michael Ondaatje ("Der englische Patient") wohl die bekannteste kanadische Autorin, hat in ihrem Buch "Überleben" versucht, die kanadische Volksseele anhand ihrer Literatur zur ergründen. Wie der Titel bereits vermuten lässt, kommt sie zu dem Ergebnis, dass sich die kanadische Mentalität an einem ständigen Überlebenskampf ausgebildet hat. Das Überleben in den harten Wintern und der Kampf um Eigenständigkeit sind ihre herausragendsten Beispiele. Besonders letzteres spiegelt sich in den andauernden Unabhängigkeitsbestrebungen Québecs, der größten Provinz Kanadas, nieder. 1534 erkundet Jacques Cartier im Auftrag Frankreichs den St. Lorenz-Strom und 1608 gründet Samuel de Champlain Québec, das zukünftige Zentrum der Kolonie Neufrankreich. 1763 verliert Frankreich den Siebenjährigen Krieg und muss seine Kolonien an England abtreten. Um das Zusammenleben mit den Frankokanadiern zu erleichtern, erlauben ihnen die Engländer, den Katholizismus und die französische Sprache im privaten Leben beizubehalten. "Je me souviens" - Ich erinnere mich- steht auf jedem Nummernschild und erinnert die Québecois genau an diesen Teil ihrer Geschichte. Vergessen haben die Québecois ihre Wurzeln nicht und beharrlich halten sie an ihrer Kultur fest. Zweimal, 1980 und 1995, haben sie bereits mit einem Referendum versucht, ihr Bestreben nach Unabhängigkeit durchzusetzen und sind zweimal knapp gescheitert. Sie wollen die politische Unabhängigkeit von Ottawa und begreifen sich nicht als Kanadier, sondern als Québecois. Die Verbundenheit mit der französischen Sprache und der gemeinsame Kampf um Gleichberechtigung hat ihnen ihre Identität gegeben. Die anglophonen Kanadier haben in dieser Hinsicht wenig geschichtlich vereinendes vorzuweisen. Nach und nach sind sie eingewandert, meist um den Hungerkatastrophen in Europa zu entfliehen und das Überleben ihrer Familien zu sichern. Dann sind sie einfach geblieben und waren irgendwann keine Iren, Schotten und Engländer mehr, sondern Kanadier. Kanadier, die friedliebend, naturverbunden und fröhlich sind. Denen es gelingt, Einwanderer aus aller Welt in die Stadtviertel Torontos, Vancouvers und Montréals zu integrieren und sie zu ermutigen, ihren Teil zur multikulturellen Gesellschaft beizutragen. Schließlich sind die europäischen Vorfahren der Kanadier ja auch einmal, vor langer Zeit, eingewandert und von den Einheimischen freundlich aufgenommen worden. So freundlich, dass sie immer wieder kamen. Erst als Saisonarbeiter zum Walfang, dann als Missionare, Pelzhändler und Siedler. Auch heiratswillige Pariserinnen waren unter ihnen. Ludwig der XIV hatte sie angeheuert, und ihnen einen höheren sozialen Status und vor allem einen Ehemann versprochen, denn es galt, die Kolonie für das Vaterland Frankreich zu bevölkern und im pelztreibenden Gewerbe in Übersee waren europäische Frauen knapp. Das Projekt glückte und noch heute treffen sich die Nachkommen der "Töchter des Königs" regelmäßig und lassen Familiengeschichte aufleben. Doch wäre es einseitig, nur die gesellschaftlich tolerierte und geachtete Nachkommenschaft zu erwähnen. So manch eine kalte kanadische Winternacht wurde dem ein oder anderen Händler nicht nur durch einen Biberpelz erwärmt. Und folgten auf eine Nacht weitere, so kam es nicht selten vor, dass besagte Händler in den Indianerstamm ihrer Geliebten aufgenommen wurden und Kinder zeugten, die als Mischlinge unter Europäern nur wenig Ansehen genossen. Ihre Identität gründete sich auf zwei Kulturen, von denen heute beide, die kanadische wie die indianische, nicht mehr wissen, wer sie sind. Indianer und Innuit kämpfen immer noch um die Anerkennung ihrer Traditionen und Religionen, kurz: ihre Daseinsberechtigung auf diesem Kontinent. Aber es gibt auch erfreuliche Nachrichten: Jedes Jahr im Juli bringt Kanada die Welt zum Lachen, wenn in Montréal zum Komikerfestival "Juste pour rire - Just for laughs" eingeladen wird. Den Rest des Jahres macht sich die Nation über ihren Premierminister Jean Chrétien lustig, den sie aus Spaß an der Freude im vergangenen Jahr gleich noch mal wieder gewählt haben. Den beliebten Jacques Villeneuve und den unbeliebten Jean Chrétien verbindet außer der Nationalität der Sport. Allerdings bevorzugt Chrétien geringere Geschwindigkeiten als Rennfahrer Villeneuve, wenn er die Weiten Québecs zum Golf spielen nutzt. Dann rollt nicht nur der Ball, sondern auch der Rubel, weil er den eigenen Golfplatz mit öffentlichen Geldern subventioniert hat. Die Medien haben mal lauter, mal leiser auf diesen Misstand hingewiesen und die Öffentlichkeit hat mal lauter, mal leiser ihren Unmut zum Ausdruck gebracht. Erfahren haben all diese Dinge die Québecois dank "Quebecor", einer Gruppe, die die beiden privaten Fernsehsender Québecs und die meistgelesene Zeitung Montréals, samt ihrer TV-Programme fest in ihren Händen hält. Der englischsprachige Zeitungs- und Fernsehmarkt Montréals und ein Großteil des Medienmarktes im übrigen Teil Kanadas gehört CanWest Global Communications. Da Medien ja bekanntlich Meinungsmacher sind, hat sich das "R.O.B. Magazine" seiner orientierungslosen Leserschaft angenommen und den creative director der Toronter Werbe-Agentur "Taxi" gebeten, der ewigen Identitätssuche ein Ende zu bereiten und für seine Mai-Ausgabe ein zeitgemäßes Kanada-Image zu entwerfen. So hat es nun jeder Kanadier schwarz auf weiß: Kanadische Produkte stehen für Kreativität, Qualität, Einfachheit und Funktionalität. Die Menschen, die sie produzieren sind humorvoll und vertrauenswürdig und das Land, das sie hervorgebracht hat verspricht Lebensqualität. Keine Rede mehr von Ahornsirup, endlosen Wäldern, kristallklaren Seen, roten Polizisten und Elchen und Bibern. So einfach ist das. Text von Die Autorin, geb. am 2.2.1977, ließ sich von der Friedrich-Wilhelms Universität Bonn, an der sie Geschichte, Ev. Theologie und Französisch studiert, beurlauben und ist derzeit an der Université de Montréal à Québec. Dort studiert sie kanadische Geschichte. Infos von Kanadaerfahrenen: |
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