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Im Reich des ewigen Nebels
Manchmal werden Träume wahr. Viele Menschen träumen von tropischen Inselparadiesen mit weißen Sandstränden und Palmen. Andere träumen davon, einmal eine Urwaldexpedition zu machen, Neuland zu betreten, in Regionen zu reisen, die auch heute noch weiße Flecken auf der Landkarte sind. Mein Traum wurde wahr, als ich im Dezember 1998 bei heftigem Schneetreiben ein Flugzeug bestieg, um zusammen mit sieben weiteren Biologen ins Ungewisse aufzubrechen: Wir alle wollten auf den höchsten Berg Brasiliens, den über dreitausend Meter hohen Pico da Neblina. Erst im Jahr 1965 wurde er zum ersten Mal bestiegen, allerdings von Angehörigen der brasilianischen Armee. Der Pico da Neblina gilt als einer der ältesten und geheimnisvollsten Tafelberge Südamerikas (vgl. Kasten). Trotzdem war er seit 1985 von keiner größere Expeditionsgruppe mehr betreten worden. Eine japanische Gruppe war trotz Hubschrauber dreimal gescheitert - heftige Windböen und Wetterstürze hatten eine Landung auf dem nebligen Hochplateau verhindert. Nur die in dem riesigen Nationalpark lebenden Yanomami-Indianer (vgl. Kasten) und einige Goldsucher waren seither Gäste dieses sagenumwobenen Berges.
Über die südamerikanische Tafelberge war erstmals im Dezember 1991 im ZDF berichtet worden. Damals war Volker Arzt mit einem Expeditionsteam der Zeitschrift "Geo" zu den legendären Bergen im südamerikanischen Guayana-Hochland unterwegs. Wie unnahbare Festungen liegen diese vergessenen Felskolosse inmitten des Regenwaldes. Senkrechte Wände, mehrere tausend Meter hoch, die unzugänglichen Hochplateaus fast stets von geisterhaften Nebelbänken verhüllt. Auf den Tafelbergen hatten die Forscher damals eine eigentümliche Welt gefunden, in der Nebelfinger über faulende Moore kriechen, Bartflechten wie wirres Haar im Wind wehen, Abgründe und gähnende Felsspalten plötzlich aus dem Nichts auftauchen, und fleischfressende Pflanzen auf Beute lauern. Kein Wunder, dass sich allerlei Legenden um die Tafelberge ranken - vielleicht blieben sie ja auch deshalb vor Raubbau und Plünderung verschont.
Diese Berge sind auch heute noch wie von der Zeit vergessen (vgl. Kasten) - mit Pflanzen- und Tierarten, die bereits seit Urzeiten in völliger Isolation dort oben überlebt haben. Fast auf Schritt und Tritt entdecken Wissenschaftler dort neue Arten, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Die strengen Naturschutzbestimmungen in Brasilien und Venezuela machen es jedem Normalsterblichen unmöglich, diese Berge zu betreten - zu kostbar ist ihre unberührte Tier- und Pflanzenwelt. Trotzdem gab ich meinen Traum nicht auf, einmal dorthin zu kommen. Sieben Jahre später ging er dann endlich in Erfüllung: Vom Hörsaal für Biologie an der Uni Regensburg direkt in den Amazonas-Regenwald, 80 km mit dem Jeep über unwegsame Urwaldpisten, dann per Boot drei Tage lang stromaufwärts, und schließlich weitere drei Tage zu Fuß durch drückend heißen Urwald des drei Millionen Hektar großen Nationalparks: 40 Grad Celsius, senkrechte Sonne, mühsam selbst gefiltertes Wasser, wenig Essen, schweres Gepäck, schlaflose laute Nächte, in denen wispernde und zirpende Tierstimmen die Nacht vollkommen beherrschen. Schließlich erreichten wir endlich - nach dreitägigem Fußmarsch (!) - das auf 2000 Meter gelegene Basislager, welches auf der Hochfläche des Pico da Neblina gelegen war. Von hier aus waren es aber immer noch 1000 Höhenmeter bis zum eigentlichen Gipfel. Donnergrollen begrüßte mich, als ich aus dem Krüppelwald auf die neblige Hochfläche trat. Plötzlich tauchten überall mit Torfschlamm gefüllte Senken auf, in denen man leicht knietief versinken konnte. Pflanzen mit derben ledrigen Blättern, wie aus einer anderen Zeit, behangen von Bartflechten, soweit das Auge blickte. Ich war allein, die Gruppe hatte sich aufgeteilt. Ich rief. Keine Antwort. Keine Spur mehr von der wohligen Geborgenheit, die ich trotz all der Hitze im Regenwald noch gespürt hatte. Nur der kühle, feuchte Atem des Berges lag über sumpfigen Senken der über 600 km² großen Hochfläche, ich spürte zum ersten Mal in meinem Leben die wahre Macht der Natur. Ich ahnte, warum es bisher nur so wenige Expeditionen hierher geschafft hatten. Dann eine Stimme im Nebel, Erleichterung: Einige von uns waren bereits im Camp, unsere Führer hatten schon ein beißend qualmendes Feuer aus feuchtem Holz gemacht, ehemalige Goldsucher, die jetzt bei der Nationalparkverwaltung arbeiten.
In den nächsten Tagen fühlte ich mich wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt: unglaublich fern und geheimnisvoll. Auf Schritt und Tritt urtümliche Tiere und Pflanzen, so als ob man eine Zeitreise in das Land der Dinosaurier gemacht hätte. Man sagt, die Wälder hier beherbergten so viele Orchideen-Arten wie sonst nirgendwo. Und wir hatten von fleischfressenden Pflanzen gehört, die schulterhoch wachsen sollen. Wenn hier oben jemandem etwas passiert, ist man völlig auf sich allein gestellt. Die nächste Siedlung ist ungefähr hundert Kilometer entfernt und nur mit einem Hubschrauber zu erreichen. Und Möglichkeiten für Unfälle es genug: Glitschige, von Wasser überspülte Felsen, Spalten, die sich in den dunklen Wäldern zwischen rutschigen Wurzeln auftun. Nachdem wir mehrere Tage vergeblich nach den riesigen fleischfressenden Pflanzen gesucht hatten, erreichten wir in einer Talsenke nach mehrstündigem Fußmarsch ein ausgedehntes Sumpfgebiet - und hier, fast wie aus dem Nichts, standen die Pflanzen plötzlich vor uns. Ihre gerollten Blätter bildeten lange schlauchartige Trichter, bis zu einem Meter lang. Auf ihren glatten Wänden finden ahnungslose Insekten keinen Halt, sie rutschen ab, fallen in den Trichter und können schließlich von der Pflanze verdaut werden. Ein raffinierter Trick, mit dem die Pflanzen auch auf sehr lebensfeindlichen Standorten noch zu Nährstoffen kommen können. Doch der Höhepunkt unserer Expedition war schließlich der Aufstieg zum Gipfel des Pico da Neblina. Und als ob der Berg uns dazu einladen wollte, lüftete sich eines Abends der Nebelschleier für einige Stunden, und wir konnten seine Spitze erkennen. Schroffe Felswände ragten in den klaren Himmel empor, wurden von der Abendsonne zum Glühen gebracht. Und in der folgenden Vollmondnacht sah ich ihn noch immer, silbern vor dem pechschwarzen Nachthimmel aufragend, im Vordergrund die Silhouette einer Palme, die sich im Wind wiegt - eine fast unwirkliche Szenerie.
Der Neblina wird wohl hier oben immer der wahre Herrscher bleiben. Hoffentlich - damit dieses letzte unberührte Stück Natur mit seinen faszinierenden Bewohnern auch weiterhin so zeitlos schön bleibt. > Expeditionsfotos (Bildergalerie) Beitrag von | Beitrag empfehlen > Forschungsprojekt Inselberge an der Universität Rostock Weitere Literatur:
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