Juni 2001

Achterbahnen: Einmal Himmel und zurück!

AchterbahnDie Wissenschaft von Nervenkitzel und Höhenrausch - ein Abenteuer besonderer Art

Jedes Jahr war sie das Ereignis schlechthin: die große Kirmes auf dem Vechtaer Stoppelmarkt. Und jedes Jahr passierte das gleiche: die Neugier und der Spaß am Nervenkitzel waren größer als die Angst. Angst vor der Höhe, der Geschwindigkeit, den Sekunden des freien Falls.

Diese gemischten Gefühle für Achterbahnen teilt der Architekturstudent Frank Lanfer mit vielen Menschen. Stellen Achterbahnen doch auf ihre Art in unserer abgesicherten Welt eine Möglichkeit dar, eigene Grenzen zu überwinden und den Alltag hinter sich zu lassen. Abenteuer ohne Risiko.

Für Frank Lanfer waren die Achterbahnfahrten auf der heimischen Kirmes der Anfang einer großen Leidenschaft. Inzwischen wurde aus ihm ein Experte zur Geschichte der Achterbahn und er ist heute Autor einer der wenigen umfassenden Publikationen zu diesem Thema.

*Die Entwicklung der Achterbahn zu dem, was wir heute kennen, war langwierig, wechselhaft und ist wenig dokumentiert. Eine historische Beschäftigung mit dem Thema ist wie ein Puzzlespiel: von alten Postkarten, durch Erzählungen oder aus Büchern und Magazinen müssen Details wie Entstehungszeit, Größe, Besonderheiten und Besitzverhältnisse mühsam zusammengetragen werden.

Was sind Achterbahnen überhaupt? Frank Lanfer erklärt das so: "Achterbahnen sind schienengebundene Hochfahrgeschäfte, die allein durch Gravitationskräfte beschleunigt werden. Dabei stört es nicht, wenn zunächst ein Motor die Wagen auf die Ausgangshöhe befördert oder ein sogenannter linearer Induktionsmotor den Zug aus dem Stand auf Höchstgeschwindigkeit katapultiert. Abwärts muss es von selbst gehen."

Die ersten Achterbahnen dieser Definition entstanden bereits im 15. und 16. Jahrhundert in Russland. In den langen Wintern wurden zur Belustigung der Reichen und Adligen Holzrampen mit Wasser und Schnee beschichtet. Wagemutige in Schlitten ließen sich auf den so entstandenen Eisbahnen herunterrutschen. Diese Ursprünge sind auch heute noch präsent. Im französischen heißen Achterbahnen "Montagnes Russes": Russische Berge.

Während der Napoleonfeldzüge 1807 lernten französische Soldaten das rasante Vergnügen in Russland kennen und brachten die Idee nach Europa. Auch hier war der Adel fasziniert und genoss die kurzen, schnellen Fahrten bergab. Um ein Ganzjahresvergnügen zu ermöglichen, benutzte man allerdings keine Schlitten mehr. Man ließ Wagen mit Rädern die Holzrampen herunterfahren. Auch im dänischen Tivoli, in Berlin, Hamburg und anderen Städten errichtete man solche Anlagen.

*Um keine Langeweile aufkommen zu lassen, baute man Bahnen mit den verschiedensten Neuerungen. Die meisten konnten sich jedoch nicht durchsetzen, da es zu schweren oder gar tödlichen Unfällen kam. Erhalten hat sich aus jener Zeit jedoch das Grundkonzept der heutigen Achterbahnen. Man hat eine geschlossene Fahrstrecke, bei der man in einen Wagen einsteigt, mit einem Aufzug hochbefördert wird und nach Ende der Fahrt am Ausgangspunkt wieder ankommt.

Während zum Ende des 19. Jahrhunderts die Achterbahnentwicklung in Europa stagnierte, kam sie in Amerika gerade erst "in Fahrt". In einem Bergwerk an der Ostküste wollte man die abgebaute Kohle möglichst schnell und billig zum Hafen transportieren. Dazu baute man eine kurze und steile Bahnstrecke. Nachmittags und abends war es für die Arbeiter ein besonderer Spaß, selbst in den leeren Wagen den Berg hinabzusausen. Es dauerte nicht lange und die Beförderung von Kohle wurde zugunsten vergnügungssuchender Touristen eingestellt.

Bald reichte die Geschwindigkeit allein nicht mehr aus, die Menschen zu faszinieren. Es entstanden die ersten Figur-8-Bahnen, erkennbare Vorläufer zu den heutigen Achterbahnen. Wie der Name erahnen lässt, fuhren die Wagen dabei auf einer Strecke, die wie eine Acht geführt wurde. Die neuen Bahnen ermöglichten es den Passagieren, auch Seitenbeschleunigung zu erleben.

Immer mehr Menschen ließen sich von dem Erlebnis Achterbahnfahrt begeistern. Damit wurde der Betrieb solcher Anlagen zu einem lukrativen Geschäft und die Konkurrenz unter den Anbietern größer. In dem Wunsch, Mitbewerber auszustechen, wurden die zunächst recht sanften Figur-8-Bahnen immer wilder und gewagter. Um Aufmerksamkeit zu erregen, begannen findige Besitzer, ihre Geschäfte phantasievoll zu verkleiden. Die ersten echten Berg- und Tal-Bahnen waren entstanden.

Das Ende der zwanziger Jahre kennzeichnet den absoluten Höhepunkt der Achterbahnkultur in den USA. 1929 zählte man über 1500 Anlagen. Im gleichen Jahr leitete die Weltwirtschaftskrise jedoch auch das (vorübergehende) Ende der Achterbahnen in Amerika ein.

In Europa gab es in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nur wenig Neuentwicklungen. Es dauerte 10 Jahre, bis das amerikanische Konzept der Figur-8-Bahnen erstmals in Deutschland präsentiert wurde. Die Erfindung wurde jedoch begierig aufgegriffen. Schnell entstanden die ersten Berg- und Tal-Bahnen mit schnelleren Richtungswechseln und aufwendiger Gestaltung. Fahranlagen dieser Art erfreuten sich besonders nach dem Ende des ersten Weltkriegs großer Beliebtheit. Aus dem einstigen Vergnügen für die Aristokratie war ein Massenphänomen geworden. Die Menschen wollten nach den dunklen Kriegsjahren Spaß haben und Technik positiv erleben.

Ein ähnlicher Effekt stellte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg ein. In Italien wurde man dabei zum Vorreiter einer ganz neuen Generation von Achterbahnen: aus Holzmangel fing man an, Bahnen erstmals aus Stahl zu bauen. Die Konstruktionen wurden dadurch stabiler, berechenbarer und vor allem transportabler. Mehr Menschen konnten erreicht werden, es konnte mehr Geld verdient werden.

*Dank der größeren Gewinne wurde es möglich, immer teurere und ausgefallenere Entwicklungen auf den Markt zu bringen. Looping-Bahnen, die bis dahin nur ein Schattendasein neben den eigentlichen Berg und Tal-Bahnen gefristet hatten, setzten sich mehr und mehr durch. Die erste Looping-Bahn war bereits 1846 entstanden. Ebenso wie die meisten ihrer Nachfolgeanlagen hatte sie jedoch keinen langfristigen Erfolg. Die auf die Mitfahrer wirkenden Beschleunigungen waren viel zu groß. Sie entsprachen zum Teil dem Zwölffachen der Erdbeschleunigung und waren damit doppelt so groß wie die heute zulässigen Grenzwerte. Es kam zu Schmerzen und sogar Knochenbrüchen bei den Mitfahrenden. Erst 1976 hatte man das Problem vollständig gelöst. Heutige Loopingbahnen sind so konstruiert, dass die auftretenden Kräfte und Beschleunigungen ungefährlich sind.

Der Achterbahnbau ist auch heute noch ein kleines und feines Geschäft für nur wenige Firmen weltweit. Die wesentlichen Weiterentwicklungen in den letzten dreißig Jahren kamen dabei aus einem kleinen Büro in München. Der Inhaber, Werner Stengel, hat ursprünglich Bauingenieurwesen studiert. Während seines Studiums arbeitete er nebenbei für ein Ingenieurbüro. Einer seiner Aufträge bestand damals darin, eine Achterbahn auf ihre Sicherheit zu überprüfen. Es war der Beginn einer beispiellosen Karriere. Rund um den Globus findet man die Ergebnisse seiner Arbeit, vor allem in den USA. Der Boom der Freizeitparks seit den siebziger Jahren und die dort größere Akzeptanz für Freizeitbeschäftigung dieser Art hat zur Folge, dass sich heute viele besonders gute und neue Bahnen dort befinden.

*Auch Frank Lanfer wird zukünftig Achterbahnen zu seinem Beruf machen. Seit einigen Jahren ist er bereits als freier Mitarbeiter für die Zeitschrift "Kirmes & Park Revue" tätig. Seine Aufgabe ist es, mit Achterbahnen zu fahren, um diese hinterher für die Leser zu beschreiben und zu beurteilen. Eine interessante und spannende Aufgabe, die ihn schon bis in die USA gebracht hat. Ab Juni wird er sich als fester Mitarbeiter der Zeitschrift noch intensiver mit dem Thema "Freizeitparks und Fahrgeschäfte" beschäftigen.

Ein Ende seiner Begeisterung für Achterbahnen ist jedenfalls noch nicht abzusehen.

Die Publikation "100 Jahre Achterbahn" belegte im Januar 2000 einen 3. Platz des Deutschen Studienpreises der Körber-Stiftung und ist im Buchhandel erhältlich (GEMI Verlag, 29 DM).

Beitrag von Birgit Milius
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