"Ich hab mich immer und überall nur verstecken können"
Die Rede ist von so genannten funktionalen Analphabeten, von Menschen also, die den Umgang mit Buchstaben trotz Schulbesuchs aus unterschiedlichen Gründen nicht erlernt haben oder ihre nur spärlich vorhandenen Lese- und Schreibkenntnisse mangels Anwendung später regelrecht verlernt haben. Für Analphabeten bedeuten die oben skizzierten Alltagssituationen angesichts der hohen gesellschaftlichen Mindesterwartungen an schriftsprachliche Fähigkeiten vor allem Stress. Angst vor Entdeckung und Stigmatisierung bestimmt ihr Leben und führt nicht selten zu irrational, ja grotesk anmutenden Handlungsweisen.
Etwa bei Hanna: In einem Gerichtsprozess muss sie sich für ihre Vergangenheit als KZ-Aufseherin und für ein besonders grausames Verbrechen an den Häftlingen verantworten. Hauptbelastungspunkt ist ein Bericht über die Ereignisse, von dem Hanna zugibt, ihn geschrieben zu haben - obwohl sie Analphabetin ist. Hanna verschweigt ihr Defizit und wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Während des Gefängnisaufenthaltes lernt sie mühevoll das Lesen und Schreiben.
"Ich habe die Stelle im Wald wiedergefunden, wo sich mir Hannas Geheimnis enthüllte (...) Hanna konnte nicht lesen und schreiben. Deswegen hatte sie sich vorlesen lassen. Deswegen hatte sie mich auf unserer Fahrradtour das Schreiben und Lesen übernehmen lassen und war am Morgen im Hotel außer sich gewesen, als sie meinen Zettel gefunden, meine Erwartung, sie kenne seinen Inhalt, geahnt und ihr Bloßstellung gefürchtet hatte. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei der Straßenbahn entzogen; ihre Schwäche, die sie als Schaffnerin verbergen konnte, wäre bei der Ausbildung zur Fahrerin offenkundig geworden. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei Siemens entzogen und war Aufseherin geworden. Deswegen hatte sie, um der Konfrontation mit dem Sachverständigen zu entgehen, zugegeben, den Bericht geschrieben zu haben. Hatte sie sich deswegen im Prozeß um Kopf und Kragen geredet? (...)
Zwar ist Hanna nur eine der Hauptfiguren in Bernhard Schlinks international gefeierten Roman "Der Vorleser". Ein Blick auf die Lebensgeschichten von real existierenden Analphabeten zeigt jedoch, dass der Autor die Nöte und Bewältigungsstrategien von Menschen, die nicht lesen und schreiben können, sehr anschaulich und wirklichkeitsgetreu schildert:
Da verzichtet jemand auf eine Beförderung, aus Angst, plötzlich mit neuen (Lese- und Schreib-) Aufgaben konfrontiert zu werden, die er nicht bewältigen kann; einem anderen gelingt es, sein Problem aus Furcht vor Trennung sogar vor der eigenen Ehefrau jahrelang zu verheimlichen; ein Dritter täuscht seine Umwelt mit immer neuen einfallsreichen Ausreden, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, öffentlich lesen und schreiben zu müssen ("Brille vergessen", "Arm gebrochen"). Welche Mühen und Energien mit derartigen Manövern verbunden sind, lässt sich höchstens erahnen.
"Im vierten Jahr unseres wortreichen, wortkargen Kontakts kam ein Gruß. "Jungchen, die letzte Geschichte war besonders schön. Danke. Hanna." (...) Auf den ersten Blick hätte man meinen können, es sei eine Kinderschrift. Aber was an der Schrift von Kindern ungelenk und unbeholfen ist, war hier gewaltsam. Man sah den Widerstand, den Hanna überwinden musste, um die Linien zu Buchstaben und die Buchstaben zu Wörtern zu fügen." (177)
Wie viele funktionale Analphabeten es in Deutschland gibt, ist nur schwer festzustellen. Die immer wieder genannte Zahl von vier Millionen ist jedenfalls mit Vorsicht zu genießen, sie stellt lediglich einen vagen Schätzwert dar. Vor allem die mit dem Defizit verbundene Angst vor Bloßstellung verhindert, dass Analphabeten sich offen zu ihrem Problem bekennen.
Obwohl das Phänomen des Analphabetismus eine 'normale' Begleiterscheinung von Schriftkulturen ist, wird ihm in den Industrieländern erst seit den späten siebziger Jahren verstärkte Aufmerksamkeit zuteil. Damals fielen infolge der großen wirtschaftlichen Krisen und Rationalisierungsmaßnahmen Arbeitsplätze für gering qualifizierte Arbeitnehmer weg. Analphabeten, die bisher in Nischen 'untertauchten' und 'unauffällig' ihre Arbeit verrichteten, verloren ihre Jobs und konnten wegen ihrer Lese- und Schreiblücken nicht wieder vermittelt werden, z.B. in Umschulungsmaßnahmen.
"Dann betrachtete ich Hannas Schrift und sah, wie viel Kraft und Kampf sie das Schreiben gekostet hatte. Ich war stolz auf sie. Zugleich war ich traurig über sie, traurig über ihr verspätetes und verfehltes Leben, traurig über die Verspätungen und Verfehlungen des Lebens insgesamt. Ich dachte, wenn die rechte Zeit verpasst ist, wenn einer etwas zu lange verweigert hat, wenn einem etwas zu lange verweigert wurde, kommt es zu spät, selbst wenn es schließlich mit Kraft angegangen und mit Freude empfangen wird. Oder gibt es "zu spät" nicht, gibt es nur "spät", und ist "spät" allemal besser als "nie"? Ich wees nicht." (178)
In jüngster Zeit begannen verschiedene Bildungseinrichtungen und Forschungsinstitute nicht nur damit, nach den Ursachen des funktionalen Analphabetismus zu forschen, sondern auch, Alphabetisierungskurse einzurichten, um den Erwachsenen in einer zweiten Chance das Lesen- und Schreibenlernen zu ermöglichen. Inzwischen existiert ein breites Netz von Aktivisten, die sich für die Belange funktionaler Analphabeten stark machen. Dass ihre Arbeit nach wie vor notwendig ist, wird unmittelbar deutlich: Im sprunghaften Anstieg der Nachfrage nach Lese- und Schreibkursen, sobald Radio und Fernsehen in Reportagen, Talkshows oder Interviews über das Thema berichten.
Die Zitate stammen aus: Bernhard Schlink: Der Vorleser. Erschienen im Diogenes Verlag. Das Zitat einer Analphabetin in der Überschrift stammt aus Birte Egloff (1997).
Links zum Thema
- www.alphabetisierung.de
Zur Person
Birte Egloff, geb. 1969 ist Diplom Pädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung an der Goethe Universität Frankfurt am Main.
Literatur
- Döbert, M./Hubertus, P.: Ihr Kreuz ist die Schrift. Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland. Hrsg. vom Bundesverband Alphabetisierung e.V.. Münster und Stuttgart 2000.
- Egloff, B.: "Blind, taub und sprachlos: Der Analphabet". Zur Konstruktion eines Phänomens. In: Barz, H. (Hg.): Pädagogische Dramatisierungsgewinne. Jugendgewalt. Analphabetismus. Sektengefahr. Frankfurt 2000.
- Egloff, B.: Biographische Muster 'funktionaler Analphabeten'. Eine biographieanalytische Studie zu Entstehungsbedingungen und Bewältigungsstrategien von 'funktionalem Analphabetismus'. Frankfurt 1997.
- Forschung Frankfurt (Wissenschaftsmagazin der Universität Frankfurt), Nr.4 (2001), Schwerpunktthema Analphabetismus
