September 2002

"Lehrer sind keine Leistungssportler!"

Portrait Frau Fehringer: ehemalige Schülerin der der Magdeburger Bertholt-Otto-SchuleSchule als ein spannendes Abenteuer? Schule, die Freude macht? Erinnerungen einer ehemaligen Versuchsschülerin.

Fast alle gängigen Konzepte für eine alternative Schule wurden Anfang des 20. Jahrhunderts erfunden und erprobt. In der liberalen Weimarer Republik existierte eine derart bunte Schullandschaft, dass selbst unsere heutige dagegen nur monoton wirkt. Neues zu erproben entsprach dem Zeitgeist der 1920er Jahre und stieß nicht auf den prinzipiellen Widerstand der Konservativen. Die Nazis zerstörten diese Schullandschaft vollständig und unter Adenauer hieß die Parole auch für die Pädagogik: "Keine Experimente!".

Der Einfluss der Schule hält ein Leben lang an und erst heute kann in der Rückschau durch Zeitzeugen bewertet werden, was die Schule angerichtet hat, positiv wie auch negativ. Während die fatale Wirkung der Nazipädagogik intensiv erforscht wurde, bleiben die erfreulichen pädagogischen Auswirkungen leider weitgehend im Dunkel. Birgit Milius hat ihre Großmutter interviewt, die eine Reformschule besuchen konnte. Ihr Fazit: es war eine Schule fürs gute Leben.

Frank Berzbach


sg: Frau Fehringer, warum war ihre Schulzeit etwas so besonderes?

Grundschulklasse

Die Grundschulklasse. Frau Fehringer ist in der ersten Reihe die zweite von links
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Frau Fehringer: Ich hatte das Glück, von 1925 bis 1929 in Magdeburg zunächst für die vierjährige Grundschulzeit an einer Versuchsschule unterrichtet zu werden. Anschließend besuchte ich ein Reformrealgymnasium, die Bertholt-Otto-Schule (BOS), an der nach den Ideen des gleichnamigen Schulreformers gelehrt wurde. Die Erfahrungen, die ich in der Zeit machen konnte, haben mir es ermöglicht, aus dem "normalen" Lebensweg für ein Mädchen meiner Herkunft schon früh auszubrechen.

sg: Was wäre denn für Sie ein "normaler Lebensweg" gewesen?

Frau Fehringer: Ich komme aus einem kleinbürgerlichen Elternhaus, und meine Eltern hatten keinerlei Beziehungen zu den Ideen der Schulreformer. Ich wäre auf eine ganz normale Schule gegangen, aber aus pragmatischen Gründen - der näherer Schulweg - wurde ich auf die Wilhelmstädter 2. Volksschule, die zur Versuchsschule umgewandelt worden war, geschickt. Nach 4 Jahren Grundschule hätte ich eigentlich die Einrichtung verlassen sollen, um auf eine Mittelschule zu gehen. Danach hatten meine Eltern eine Bürolehre für mich gedacht. Aber zu meinem Glück befand sich gerade das Reformrealgymnasium, also die spätere Bertholt-Otto-Schule, im Aufbau. Und da ich eine gute Schülerin war, engagierten sich meine Lehrer sehr, um meine Eltern davon zu überzeugen, mich auf das Gymnasium zu schicken.

Die Thesen der Pädagogik Bertholt Ottos
Das Interesse der Kinder steht im Mittelpunkt; sie sollen Freude am Unterricht und am Lernen haben. Es wird von den Erwachsenen Achtung vor der Kindheit und den Kindern verlangt. Als neues Element führt er den Gesamtunterricht ein, Stunden, in denen sich die Schüler "zu zwangloser Aussprache vereinen".

Zum Glück ließen sie sich überzeugen nicht zuletzt dadurch, dass das Schulgeld von Beginn an erlassen wurde. Leider musste ich im Endeffekt aus familiären Gründen doch noch vor dem Abitur ausscheiden und eine Bürolehre beginnen. Als aber 1940 Interessierte für die Lehrerausbildung auf dem zweiten Bildungsweg gesucht wurden, waren meine Begeisterung für Schule und mein Selbstbewusstsein so groß, dass ich mich dafür bewarb und genommen wurde. Das hätte ich mir sicher nicht zugetraut, wäre ich auf eine der normalen Schulen mit ihren dogmatisierten Erziehungs- und Unterrichtsmethoden gegangen.

sg: Wie Sie eben schon sagten, wurde Ihnen in der Schule viel Selbstvertrauen mitgegeben. Welche anderen Eigenschaften oder Dinge verdanken Sie ihrer Meinung nach noch der Schule?

Frau Fehringer: Die Freude am Hinterfragen von Dingen und am lebenslangen Lernen, am gemeinschaftlichen diskutieren. Die Neugierde auf Neues. Tatendrang. Für mich ist noch heute der Begriff glückliche Kindheit mit der Schule eng verbunden.

sg: Was unterschied ihre Schulzeit an der Bertholt-Otto-Schule vom Unterricht und Leben an anderen Schulen der damaligen Zeit?

Forscher auf dem MeerBild aus dem Studentenausweis

Das Bild aus dem Studentenausweis

Frau Fehringer: Am auffälligsten, vor allem auch nach außen, war sicher, dass hier Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet wurden. Damals war das eigentlich eine Selbstverständlichkeit für mich, da ich durch meinen Bruder auch mit Jungen befreundet und viel zusammen war. Erst im nachhinein wurde mir klar, welche Ausnahme das war. Dann gab es natürlich die Gesamtunterrichtsstunden, die Teil des Stundenplans waren. Dazu wurden Schüler verschiedener Jahrgangsstufen zusammengefasst. In Eigenregie konnten in diesen Runden Fragen besprochen werden, die von den Schülern aufgeworfen wurden - von eher philosophischen Themen bis hin zu Fragestellungen aus der Physik wurde verschiedenes diskutiert. Überhaupt hatten wir Schüler viele Freiheiten, aber auch Verantwortlichkeiten. Schüler waren als Pausenaufsichten tätig und saßen zusammen mit Lehrern im Schlichtungsausschuss zum Lösen von Problemen. Viel mehr als ich es auch später an den Schulen während meiner eigenen Tätigkeit als Lehrer erlebt habe, konnten wir Schüler unseren Alltag mitgestalten. Häufig nahm der Unterricht eine andere Wendung als geplant, weil neue Aspekte eine vertiefte Darstellung erforderten oder Anschlussthemen noch ausdiskutiert werden mussten. Konnten Fragestellungen nicht abschließend geklärt werden oder begeisterte uns ein Thema besonders, war dies nicht selten der Anlass für die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft. Diese spielten eine große Rolle. Es gab Musikgruppen von Zupfgeigenhanseln bis Klassik, Arbeitsgemeinschaften zum Lernen eines Instrumentes und Chor, Gruppen zu den Themen Literatur, Theater, Malen, Schulzeitung, Politik...aber auch Physik und Sport, vor allem Mannschaftssport. Die AGs wurden sowohl von Lehrern, als auch Eltern oder älteren Schülern geleitet.

Die Magdeburger Bertholt-Otto-Schule
wurde 1924 gegründet. Ab 1926 handelte es sich um eine Vollanstalt für alle Altersklassen; 1927 wird die Schule zum Reformrealgymnasium; 1930 wird feierlich der Name Bertholt Otto verliehen. 1933 verlor die Schule ihr besonderes Profil durch das Verbot der Koedukation und des Gesamtunterrichts. Mit Neugliederung des Schulwesens in der DDR verschwand die Bertholt-Otto-Pädagogik in Magdeburg ganz. Eine Schule gleichen Namens bestand nach dem Krieg und der Gründung der DDR noch bis 1962. Jedoch handelte es sich dabei um eine Kinder- und Jugendsportschule (KJS).

sg: Gibt es für Sie einen Höhepunkt, ein ganz besonderes Erlebnis aus dieser Zeit?

Frau Fehringer: Zu meiner Zeit waren gerade die Scherenschnittfilme von Lotte Reiniger populär. Dadurch angeregt, gründeten wir eine AG Scherenschnitt und erstellten selbst einen kurzen Film. Wir schnitten die entsprechenden Figuren und leisteten Hilfestellungen beim Dreh, der ebenfalls in der Schule stattfand. Unser Film lief sogar im Vorprogramm der örtlichen Kinos! Außerdem waren natürlich die ein- bis zweiwöchigen Fahrten in das Schullandheim jedes Jahr immer wieder eine Freude. Das Gelände einschließlich Abraumhalden, dem größten Teil der Verwaltungsgebäude und der Kauen (Umkleidehallen der Arbeiter) eines geschlossenen Salzschachtes hatten durch leichte Umbauten eine Aufenthaltsmöglichkeit für Klassen während der Schulzeit oder auch als Ferienaufenthalt ergeben, die wir gern nutzten.

sg: Ihre eigene Begeisterung für ihre Schulzeit steht im krassen Widerspruch zur Einstellung vieler heutiger Schüler, aber auch zum Bild der Schule in der Öffentlichkeit. Kann bzw. sollte man aus ihrer Sicht das Konzept Bertholt Ottos auf heutige Schulen übertragen?

Frau Fehringer: Das müssen sicherlich andere entscheiden. Meine Erfahrungen mit dieser Art der Pädagogik waren durchweg positiv, aber man muss Bedenken, dass die Randbedingungen damals anders waren. Große Teile des Bildungsbürgertums standen den schul- und bildungspolitischen Reformversuchen aufgeschlossen gegenüber. Der Prozentsatz der Schüler aus Arbeiter- bzw. kleinbürgerlichen Verhältnissen war gering. Im Verlauf meiner Schulzeit habe ich aber auch erfahren, dass die Entwicklung der Schüler aus den eher einfachen, sozial schwachen Elternhäusern besonders beachtet bzw. gefördert wurden. Bei allen Schülern unabhängig vom sozialen Status des Elternhauses strebte die Schule eine enge Zusammenarbeit mit dem Elternhaus an. Im Mittelpunkt stand dabei immer das Kind mit seinen Anlagen, Interessen und natürlich auch seiner Leistung und Leistungsbereitschaft, und nicht nur die angestrebte Note im Hinblick auf Studienmöglichkeiten.

Die Zusammensetzung des Lehrerkollektivs war ebenfalls günstig für den Schulalltag. Wenn ich mich recht erinnere, lehrten an der BOS nur Lehrer, die sich speziell für die BOS beworben hatten. Sie hatten ein besonderes Interesse an reformpädagogischer Arbeit und waren daher auch bereit, sich über das normale Maß hinaus zu engagieren.

Lehrerin kurz nach dem Krieg

Frau Fehringer als Lehrerin kurz nach dem Krieg in Weferlingen
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Viele Dinge, die für uns damals noch völlig neu waren, sind in den letzten 75 Jahren von den deutschen Bildungseinrichtungen übernommen wurden: Koedukation, praktische Tätigkeiten, Landheime, Arbeitsgemeinschaften, Elternbeiräte u.ä. Das alles gibt es, doch leider verbirgt sich meiner Meinung nach dahinter viel Aktionismus; es werden oft lediglich Vorzeigeprodukte erarbeitet.

Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass der Unterricht neugierig machen muss. Es muss durch den Lehrer behutsam und tolerant auch auf Dinge geachtet werden, die nicht im Lehrplan abzuhacken sind. Kleine Klassen, mehr Lehrer müssen sein. Lehrer sind keine Leistungssportler, sie können nur motiviert sein und erfolgreich lehren, wenn ihnen Raum und Zeit gelassen bzw. gegeben wird, mit den Schülern Wege zu gehen und zu erarbeiten. So habe ich persönlich das Klima an der BOS erlebt.

sg: Ein Schlusswort von Ihnen?

Frau Fehringer: Aufgeschlossenheit und die Freude am Lernen, das hat mir die Schule vermittelt. Von dieser Basis habe ich mein Leben lang gezehrt.

Schülerin einer Versuchsschülerin
Auf die Frage, ob ihre Erfahrungen als Versuchsschülerin auch ihren eigenen Lehrstil beeinflusst haben, wusste Frau Fehringer nichts zu antworten "Man sieht das selbst ja nicht so..." Frau Schild, die zwei Jahre 1950/51 Schülerin bei Frau Fehringer war, erinnert sich ...

Ich für mich bezeichne es als Glück, dass Frau Fehringer an unsere Schule kam. Sie war jung, durch den Krieg verwitwet und nun alleinerziehend; heute würde man sie als "dynamisch" bezeichnen. Sie brachte das mit, was meiner Meinung wichtiger ist als alle pädagogischen Theorien: Liebe zu den Kindern und den Wunsch, jedem einzelnen von uns die bestmögliche Förderung angedeihen zu lassen. Zwei Jahre lang, ich war damals 13 bzw. 14 Jahre, unterrichte Frau Fehringer in meiner Klasse Deutsch und Geschichte. Ihr Unterricht war immer spannend, nie langweilig oder trocken. Unsere Zwischenfragen wurden ernstgenommen und führten so dazu, dass wir auch eigene Schwerpunkte setzen konnten. Nie gab es Zurück- oder Zurechtweisungen wegen falscher Antworten. Sie schaffte es, auch in schwächeren Schülern das Selbstwertgefühl zu stärken. Für Frau Fehringer schwärmten viele von uns - und zwar unabhängig von der Leistung gute, aber auch viele weniger gute Schüler. Auch diese fühlten sich von ihr angenommen und bestätigt. Selbst die notorischen Störenfriede in unserer Klasse wurden mitgerissen. Ungewöhnlich war auch das Engagement, dass Frau Fehringer über die Unterrichtsstunden hinauszeigte. Waren wir von einem Thema besonders begeistert, bot sie uns an nachmittags gemeinsam weiter zu arbeiten. So trafen wir uns z.B. in ihrem Wohnzimmer und lasen Wilhelm Tell mit verteilten Rollen. Besonders gut in Erinnerung geblieben sind mir auch Treffen, an denen wir uns mit Friedrich Schiller auseinander gesetzt haben. Sie hat eine derartige Begeisterung verbreitet, dass ich noch heute Schillers Gedichte besonders schätze.Frau Fehringer hat meine weitere Entwicklung entscheidend positiv geprägt. Der Unterricht bei ihr, vor allem aber das, was sie über den Unterricht hinaus im Umgang mit uns Schülern an uns vermittelt hat, hat mich doch sehr beeinflusst.

Die Interviews führte Birgit Milius

Links zum Thema

  • sciencegarden: Keine Experimente!
    Die Erinnerungen von Reformschülern aus der Weimarer Republik zeigen, dass es pädagogische Alternativen gibt. Bis heute allerdings bleibt man skeptisch. Warum?

Zur Person

Marianne Fehringer - Lebensdaten:

  • Geboren am 9. 12.1918
  • 4 Jahre Grundschule an der Wilhelmstädter Versuchsschule in Magdeburg
  • Besuch des Reformschulgymnasiums Bertholt Otto in Magdeburg bis 1935 (mittlere Reife)
  • Büroausbildung, Volontariat, Sachbearbeiterin bis 1940
  • Besuch der Hochschule für Lehrerbildung bis 1942
  • Anschließend als Lehrerin tätig bis 1973

Literatur

  • Weiss, Edgar: Pädagogische Neuerungen im Kontext politischer Reaktion. Berthold Otto und seine "kindzentrierte" Hauslehrerpädagogik. In: Archiv für Reformpädagogik, 4 (1999) 1, S. 3-26
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