Die alten Herren und der Kanon
Alle Jahre wieder glauben alte, gebildete Männer zu wissen, was alle Deutschen lesen müssen – sie machen dann Vorschläge für einen “Kanon deutscher Literatur”. In den überregionalen Blätter werden diese Leselisten heftig diskutiert, differenziert, verworfen oder gelobt. Derzeit präsentieren die Zeitungen selbst ihren Kanon (siehe Linkliste), weil sie weder ausgebildeten Deutschlehrern noch anderen trauen. Auch schöngeistige Verlage engagieren sich und haben den bekanntesten Literaturkritiker des Landes 20 Romane auswählen lassen, die jetzt in einer Box mit der Aufschrift “Der Kanon” in den Buchläden steht.
Kanon
Ein Kanon ist eine Liste der als mustergültig angesehenen Autoren und ihrer Werke. Der Begriff bedeutet: Regel, Norm, Richtschnur. (Literatur-Brockhaus, Bd.4)
Die Listen beginnen meist mit Johann Wolfgang Goethe, also relativ spät. Der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer scheint mit seiner provozierenden These recht zu behalten: die deutsche Literatur hat nur eine kurze Geschichte. Die älteren, mittelalterlichen Texte seien hingegen eine Erfindung der Germanistik und lägen völlig außerhalb der Interessen selbst ambitionierter Leser. In Frankreich, Italien und England ist dies nicht so. Boccation, Dante oder Lawrence Sterne werden heute noch gern gelesen. Schlaffers fulminanter und für jeden Literaturliebhaber überaus bereichernder Essay “Die kurze Geschichte der deutschen Literatur” umfasst daher nur 150 Seiten. Der Autor geht unter anderem der notorisch verdrängten Frage nach, ob es eine Eigenart der deutschen Literatur gibt. Gibt es ein “deutsches Wesen” – der Begriff ist seit der Entartung durch die Nazis zwar verboten, aber wenn es einen Kanon deutscher Literatur gibt, muss es auch etwas speziell deutsches geben: Warum sollte man sonst deutsche Romane lesen? Oder warum hat ein Studiengang Germanistik eine Berechtigung, wenn es keine (oder nur negative) Eigenarten gibt?
Das Verlangen nach einer Auswahl entsteht allein dadurch, dass die Welt genug Platz für Autoren und Romane hat, aber die Gedächtniskapazität der Leser begrenzt ist. Aleida Assmann, Professorin für neuere Philologie in Konstanz, nennt daher als wichtige Funktion der Kanonbildung die “rigide Selektion und Ausgrenzung”. Das geschieht natürlich alles andere als zufällig. Die Kanonisierung neigt meist zur Glättung, da es um die Herstellung von Kontinuitäten geht. So werden Autoren des Wahnsinns, der Brüche, des Radikalen oder des Humors ausgeschlossen. Georg Büchner oder Heinrich Heine werden gern vergessen. Weitere Funktionen der Kanonbildung sind die Ausblendung von historischen Kontexten, die Bücher werden als “Überzeitlich” hingestellt und die Neigung zum Personenkult – exemplarisch könnte man Goethe und Schiller nennen.
Marcel Reich-Ranicki wählt lieber gleich zwei Romane des harmonischen Goethe, statt einen Text von Jean Paul oder Heinrich von Kleist aufzunehmen. Wie man an “Der Kanon” auch schnell sieht, sind dort neunzehn Männer und nur eine Frau versammelt. Die weibliche Perspektive bleibt ausgeschlossen, obwohl mit Bettine von Arnim, Irmgard Keun oder Ingeborg Bachmann Autorinnen von Weltrang existieren. Ruth Klüger hat in einem inzwischen legendären Essay nachgezeichnet, warum Frauen durchaus anders lesen – und wahrscheinlich einen anderen Kanon vorschlagen würden. Sie hat daran Anstoß genommen, dass zum Beispiel Marcel Reich-Ranicki oder George Tabori in den Medien von “den schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur” sprechen, aber Texte nennen, in denen die Frauen von ihren Liebhabern erdrosselt, erstochen oder vergiftet werden. Das sollte nicht nur Leserinnen verwundern.
Schon diese Schwächen und Widersprüche, die ein enger Kanon mit sich bringt, macht die Buchboxen heute überflüssig. Letzte Reste der alten deutschen Bildungsreligion werden derzeit überwunden. Es gibt unzählige Klassiker und für angehende Germanisten existieren andere, differenziertere Leselisten. Die Leser können selbst entscheiden und Unterstützung findet man in der hervorragenden Beratung, die jede kleine Buchhandlung bietet (im Gegensatz zu den Buchkaufhäusern.) Das Bedürfnis nach Orientierung allerdings ist damit nicht gänzlich erfüllt.
Der Eichborn Verlag hat ganz gegen die Gesetze der etablierten Altherrenvereine eine junge Literaturwissenschaftlerin schreiben lassen. Christiane Zschirnt hat mehr als eine Liste vorgelegt und sich nicht auf deutsche Literatur, nicht einmal nur auf Romane konzentriert. Das Resultat wirkt zeitgemäßer als andere Vorschläge, denn hinter dem reißerischen Titel “Bücher. Alles, was man lesen muss” verbirgt sich kein weiterer überflüssiger Nationalkanon. Die junge Autorin schlägt eine thematische Ordnung vor – unter anderem Kapitel zu Lieben, Zivilisation, Psyche, Kultbücher, Frauen und Wirtschaft. Dort sind Werke und Autoren beschrieben, die grundlegende Bedeutung haben.
Der Abschnitt “Moderne” beschreibt nicht nur fünf Romane, ein Gedicht und ein Theaterstück, sondern erklärt erst einmal, was man überhaupt unter dem gerne gebrauchten Label versteht. Solche Einführungen eröffnen vielen Lesern erst den Zugang zu bedeutenden Romanen, an denen man ohne jede Vermittlung schnell scheitern kann. Durch Hintergrundinformationen werden sie aber nicht nur lesbar, sondern auch spannend. Im Kapitel über Wirtschaft findet man nicht nur Max Weber oder Karl Marx, sondern auch Carl Barks – dem Erfinder der Gesellschaft von Entenhausen. Und Christiane Zschirnt ignoriert weder gute Trivialromane (Dracula, Frankenstein) noch die Science Fiction von “Die Zeitmaschine” bis “Neuromancer”.
Wer lieber bei Romanen bleibt, dem sei abschließend der “Romanverführer” von Ralf Vollmann empfohlen. Auch dies kein Kanon, da der Autor chronologisch von 1800 bis 1930 den Leser mit über tausend internationalen Romanen bekannt macht. Eine wahre Fundgrube und dennoch durchgängig lesbar, es handelt sich nicht um ein Lexikon. Der Autor wägt nicht wissenschaftlich ab, sondern sagt seine Meinung als leidenschaftlicher Leser – er weiß aber, dass es andere Meinungen gibt. Bei allen Leselisten, Büchern über Bücher und anmaßenden Bewertungen durch Literaturpäpste weiß Ralf Vollmann genau: lesen kann am Ende jeder nur selbst.
Links zum Thema
- Der Kanon DER ZEIT
- Der Kanon von SPIEGEL ONLINE
- Der Kanon von Marcel Reich-Ranicki
- Infos zu Literatur und Literaturwissenschaft
Literatur
- Aleida Assmann (1993): Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt/Main u.a.
- Jan Assmann / Aleida Assmann (1987): Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II. München.
- Ruth Klüger (1996): Frauen lesen anders. Essays. München.
- Marcel Reich-Ranicki (Hg.) (2002): Der Kanon. 20 Romane. Frankfurt a. Main.
- Heinz Schlaffer (2002): Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München u.a.
- Rolf Vollmann (1997): Die wunderbaren Falschmünzer. Ein Roman-Verführer 1800 bis 1930. Frankfurt/Main u.a.
- Zschirnt, Ch. (2002): Bücher. Alles, was man lesen muss. Eichborn,
Frankfurt.
