"Mein Buch ersetzt nicht die Originale!"
Christiane Zschirnt, Jahrgang 1965, verleihen wir diesen Monat unseren „Stein der Weisen“ – bisher unsere jüngste Preisträgerin. Sie lebt in Hamburg und promoviert derzeit bei der Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen in Zürich. Ihr Buch über die wichtigsten Werke der westlichen Kultur bietet zugleich eine Einführung, Orientierung und Lesetipps. Mit „Bücher. Alles was man lesen muss“ ist die Zeit endgültig zu Ende, in der man umfassende literarische Bildung und Belesenheit nur mit alten Männern assoziierte.
sg: Wie kann man in Ihrem Alter schon alles gelesen haben?
CZ: Ich habe nicht alles gelesen, das wäre eine schreckliche Vorstellung! Aber obwohl ich ein Kind der Fernsehgeneration bin, habe ich ständig gelesen und da kommt einiges zusammen. Ich sehe das Verhältnis von Fernsehen und Lesen aber entspannt. Ich würde nicht behaupten, ein Kind müsse erst lesen lernen, um dann fernsehen zu dürfen. Ideal finde ich es, wenn Kinder mit beiden Medien umgehen können - erst dann kann man das Beste auswählen.
sg: Warum sollte man Bücher über Bücher lesen, und: Warum sollte man gerade Ihr Buch lesen?
CZ: Mein Buch ersetzt nicht die Originale! Man muss mein Buch über Bücher pragmatisch sehen. Es ist sinnvoll, sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen. Wer wissen will, welche Werke zu unserer Kultur gehören, was darin steht und warum sie Klassiker geworden sind, der sollte zu meinem Buch greifen. Bildung und auch Leselust beginnen mit Neugier und mit Fragen. Mich interessiert Bildung weder als Distinktionskriterium, noch als Geheimsprache, die nur Eingeweihte verstehen können. Ich halte es vielmehr für sehr wichtig, dass jeder in die Lage versetzt wird, die eigene Kultur zu verstehen. Das ist eine Grundvoraussetzung für die demokratische Gesellschaft – Toqueville hatte das erkannt und gesagt, eine Demokratie benötige eingleichmäßiges Bildungsniveau durch alle Schichten. Deshalb bereite ich nicht einfach große Werke auf, „damit man bei der nächsten Party damit angeben kann“, wie manche Journalisten behauptet haben. Ich setze sehr wenig Wissen bei den Lesern voraus und benutze eine einfache Sprache, um möglichst viele Leser erreichen zu können.
sg: Gewöhnlich dürfen nur alte, gebildete Männer so ein Buch schreiben.Wie kam der Verlag auf die erfrischende Idee eine junge Frau schreiben zu lassen?
CZ: Sollte die Frage nicht lieber lauten "... eine junge gebildete Frau ...?" Sonst ist es sehr asymmetrisch: männlich, alt, gebildet - weiblich, jung ...
sg: Okay, ertappt ...
CZ: Der Eichborn Verlag hat nicht gezielt nach einer jungen Autorin gesucht. Dass ich das Buch geschrieben habe, ergab sich eher zufällig. Ich habe meine Rolle als Autorin nie im Vordergrund gesehen. Das außergewöhnliche daran ist mir erst klar geworden, als mir eine Bildredakteurin sagte, sie habe in all ihren Berufsjahren noch nie ein solches Thema behandelt, und dabei das Bild einer Frau neben dem Artikel veröffentlicht.
Ich bewerte den Umstand, dass ich mich als junge Autorin zu einem Thema äußere, das Jahrhunderte lang ausschließlich männlich war, nicht so hoch. Frauen spielen mittlerweile überall mit, in Politik, Wirtschaft, an den Unis, in den Medien, in den Kanon ist ihre Literatur auch aufgenommen. Vielleicht ist das das Bemerkenswerte: dass es mir nicht mehr bemerkenswert erscheinen muss, dieses Buch 'als Frau'geschrieben zu haben.
In meinem Buch schreibe ich auch über Virginia Woolf und Simone de Beauvoir, weil ihre Texte eine Dimension dafür eröffnen, welche Kämpfe es bedeutet hat, bis Frauen dahin kommen konnten, wo sie heute stehen. Ich empfinde es jedes mal wie eine Art Schock, wenn ich an all die begabten Frauen in all den Jahrhunderten denke, die mit ihrer Intelligenz nirgendwo hin konnten - nicht in die väterliche Bibliothek, nicht an die Universitäten, nicht in die Kommunikation der Gesellschaft.
sg: Die ZEIT, der SPIEGEL und natürlich Marcel Reich-Ranicki wissen derzeit wieder, was man lesen muss. Was halten Sie von den Vorschlägen für einen Kanon deutscher Literatur?
CZ: Die ZEIT-Liste finde ich sehr gut, realistisch. Dass man sich auf deutsche Literatur beschränkt, liegt daran, dass man den Kanon im Hinblick auf die Frage diskutiert "Was sollen Schüler lesen".
Öffentlicher Streit über den Kanon ist wichtig. Manchmal habe ich allerdings den Eindruck, als sei das Thema ein Paradebeispiel für die Selbstorganistation der Medien. Als fände die neue Kanon-Debatte zwar auf den Seiten der Zeitungen statt, aber nirgenwo sonst.
Mir ging es jedoch nicht um einen Schülerkanon. Ich will zeigen, in welcher Tradition der Modernisierung der westlichen Welt wir uns befinden. Deshalb findet man bei mir auch die wichtigsten Werke aus England, Frankreich, Italien, USA und anderer Nationen.
sg: Wie auch bei Dietrich Schwanitz bemerkt man bei Ihnen eine Vorliebe für englische Literatur. Laufen Sie nicht Gefahr alles durch die Brille Shakespeares zu sehen?
CZ: Das phantastische an Shakespeare ist, dass er, obwohl er nun doch schon über 400 Jahre tot ist, Modernisierung mitgemacht hat. Das macht ihn zu einem Musterexemplar eines kanonischen Autors. Man füllt heute noch die Theater und Kinos mit Shakespeare. Das ist großartig. Und wie gern wäre ich in der Lage, alles durch die Brille Shakespeares sehen zu können - was würde ich dann alles zu sehen bekommen!
sg: Was sollte man Ihrer Meinung nach auf keinen Fall lesen?
CZ: Das, was einen partout nicht interessiert.
sg: Abschließend noch Ihr Lesetipp für die Weihnachtsferien?
CZ: Na gut: Ein Titel für den Reisekoffer und ein Titel für alle, die zu Hause feiern. In den Koffer packe ich Philip Roth: Der Menschliche Makel – das Buch, das mich in den vergangenen Monaten am tiefsten beeindruckt hat. Aber man könnte sich für die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr auch einen richtigen Wälzer vornehmen - spätestens nach der Weihnachtsgans kann man sich ja ohnehin nicht mehr bewegen - wie wäre es da mit Tolstois „Krieg und Frieden“?
Links zum Thema
- sciencegarden: Die alten Herren und der Kanon (Sammelrezension)
Aus dem Ohrensessel präsentieren DIE ZEIT, der SPIEGEL und natürlich Marcel Reich-Ranicki ihren Kanon der deutschen Literatur. Aber für wen?
