November 2003

„Denken Sie nicht an einen Eisbär!“

GoetheanumDenken ist ziemlich anstrengend. Aber das umgekehrte Problem gibt es auch: Man kann nicht aufhören zu denken. Bringt das die Gedankenfreiheit in Gefahr?

Die vergangenen Sommermonate verbrachte ich an der „Hochschule für Geisteswissenschaft“ in Dornach (Schweiz), um einigen Überlegungen im Bereich der Aufmerksamkeitsforschung nachzugehen. Das Goetheanum, wie die Hochschule auch genannt wird, hatte ich schon zuvor bei Reisen kurz kennen gelernt, nun wollte ich es genauer erkunden. Nach einigen Verhandlungen bekam ich sogar ein eigenes Büro zur Verfügung gestellt, in dem ich mich mit meinem Laptop einquartieren konnte. Mit im „Gepäck“ hatte ich jedoch auch eine eigene Forschungsfrage, an der ich während der Zeiten arbeiten wollte.

Rudolf Steiner (1861-1925)
ist Begründer der Anthroposophie. Er vertritt den Gedanken einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“. Er gilt als Begründer der Waldorfschule und baute das Goetheanum auf. Lehr-, Forschungs- und Vortragstätigkeit in aller Welt. Sein umfangreiches Werk wird vom Rudolf-Steiner-Verlag publiziert.

„Versuchen Sie einmal, in den nächsten Minuten NICHT an einen Eisbär zu denken“, eine solche Frage stellte der Harvard-Psychologe Daniel M. Wegner seinen Probanden. Die Versuchspersonen allerdings man kann es sich beinahe schon denken – mussten nun erst recht an einen Eisbär denken! Solche ironischen Umkehreffekte wurden seither in einer breiten Palette von Verhaltensweisen beobachtet und werden auch im Zusammenhang mit Auffälligkeiten wie Zwangshandlungen oder Obsession gesehen. Wegner leitete aus seinen Befunden die Annahme ab, dass Menschen nicht „Nichts“ denken können, sondern Gedanken immer durch andere ersetzen. Gedanken werden, so kann man es umschreiben, unvermeidbar produziert, auch wenn man das nicht will.

Aber geht ein solcher Ansatz nicht von einer prinzipiellen Unfreiheit der Gedanken und des Bewusstseins aus? Wegner hat sich schon zuvor als vehementer Kritiker der Willensfreiheit etabliert, und die Frage war, ob der von ihm postulierte Mechanismus uneingeschränkte Gültigkeit besäße. Es ist fraglich, ob bei der sich immer wiederholenden „Eisbär-Assoziation“ tatsächlich stets von neuem das lebendige Bild eines Eisbären vor Augen tritt, oder aber ob es nur der Begriff ist. Der Begriff ist ja gleichsam nur die Hülle des dahinter stehenden Bildes.

GoetheanumDazu entwickelte ich eine Aufgabenform, in der keine Begriffe, sondern sprachfreie Vorstellungsinhalte – nämlich geometrische Objekte – als Versuchsmaterial gewählt wurden. Die Ergebnisse förderten keine ironischen Umkehr-Effekte zu Tage, wie sie Wegner beobachtet hatte. Seine Theorie ist damit aber nicht widerlegt: Die eigentliche Alternativhypothese, nach welcher Vorstellungen im Sinne eines kognitiven Effizienzprinzips beeinflusst werden, konnte nämlich bei der vorliegenden Probandenzahl ebenfalls nicht bestätigt werden.

Allerdings ließ sich ein interessanter methodischer Gesichtspunkt dokumentieren: Gewöhnlich wird in den statistischen Analyseverfahren der Psychologie nur ein einziger Wert pro Versuchsperson berücksichtigt: der sogenannte Mittelwert. Diese statische Sichtweise wird allerdings dem dynamischen Charakter der menschlichen Informationsverarbeitung nicht gerecht. Wenn zumindest zwei Teilmittel berücksichtigt werden, lässt sich ein Veränderungsindex berechnen, der die separate Betrachtung von verschiedenen Probandenkategorien ermöglicht. Es zeigte sich, dass bei einer solchen Betrachtung viel feinere und durchaus aufschlussreichere Nuancen im Ergebnismuster sichtbar werden, als das in den gewöhnlichen Analysen der Fall ist.

Um mich mit der Frage nach der Freiheit der Gedanken zu befassen, hatte ich mir als vorübergehende Bleibe das Goetheanum in Dornach ausgewählt – motiviert durch das wohl wichtigste Buch seines Begründers Rudolf Steiner – der „Philosophie der Freiheit“. Während meines knapp dreimonatigen Aufenthaltes lernte ich dann aber auch die Philosophie des Hauses, die anthroposophische Menschenkunde, kennen. Sie unterscheidet sich insofern von den konventionellen Wissenschaften, als die letzteren den Menschen oftmals nur unter einem äußeren Wertschöpfungsaspekt betrachten. In der Anthroposophie wird versucht, Naturwissenschaften, Kunst, Pädagogik und Medizin so zu verstehen und anzuwenden, dass der Mensch als gleichermaßen physisches, seelisches und geistiges Wesen im Zentrum der Betrachtung steht. Dies nun vor Ort zu erleben ist anders als nur darüber zu lesen, und die drei Monate waren eine überzeugende und erfrischende Zeit.

GoetheanumDie Hochschule hat insgesamt zehn verschiedene Sektionen – zum Beispiel Naturwissenschaften, Medizin, Sozialwissenschaften oder Pädagogik. Das Goetheanum als Ganzes führt jedes Jahr zahlreiche Veranstaltungen zu allen Themengebieten durch. Es unterhält einen eigenen Verlag, ein wöchentlich erscheinendes Publikationsorgan, eine Bühne, auf der im nächsten Jahr Goethes Faust in vollständiger Inszenierung beider Teile aufgeführt wird. Johann Wolfgang Goethe – schon der Name des Hauses deutet es an – hat für die Anthroposophie eine besondere Bedeutung. Seine naturwissenschaftlichen Schriften, die oftmals als schlichtweg „falsch“ zurückgewiesen werden, aber in vieler Hinsicht interessante Forschungsperspektiven bieten, werden ebenso ernst genommen, wie sein übriges Werk.

Das Goetheanum ist ein Ort, an dem sich Menschen das ganze Jahr über treffen, um sich im Hinblick auf Forschungsfragen und -ergebnisse auszutauschen oder aber um sich nur aus vorübergehender Begegnung oder kurzfristiger Notiz über die Anthroposophie zu informieren. Ob man weiteres Interesse entwickelt oder gleich wieder Abstand nimmt ist eine andere Frage – der Eindruck, den man gewinnt, ist auf alle Fälle verschieden von dem, was einem ansonsten im Forscheralltag begegnet.

Beitrag von Ulrich Weger

Links zum Thema

  • Das Goetheanum in Dornach / Schweiz

Zur Person

Ulrich Weger, geboren 1977 in Münster. Psychologiestudium in Münster und Aachen, Diplompsychologe, seit Sommer 2001 Doktorand am Institut für Psychologie an der State University of New York in Binghamton/USA. Ulrich Weger hielt sich von Juni bis August 2003 am Goetheanum in Dornach/Schweiz auf.

Literatur

  • Daniel M. Wegner (2002): The illusion of conscious will. MIT-Press.
  • Rudolf Steiner (1987): Die Philosophie der Freiheit. Rudolf Steiner Verlag, 15. Auflage

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