Drei Jahrzehnte struktureller Arbeitslosigkeit mit einem stetig größer werdenden Sockel (gegenwärtig dürfen wir getrost von 6 Millionen Personen ausgehen) haben nichts daran geändert, dass man Arbeitslosen mit dem Vorurteil begegnet: Ach, die wollen doch alle gar nicht arbeiten. Gehalten hat sich diese Ansicht seit Mitte der siebziger Jahre und hat als Stigmatisierung die arbeitslos Gewordenen sozialpsychologisch teilweise in schwierige Lebenslagen gebracht. Das Vorurteil scheint heute an Macht zu verlieren, denn: Es stimmt.
Drei Jahre lang habe ich in Zusammenarbeit mit rund 25 Schulen im gesamten Bundesgebiet und mit der Illustrierten „Bravo“ Zukunftsvorstellungen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen gesammelt. Dabei zeigten sich aufschlussreiche Aspekte der Einstellung zur Berufsarbeit. Einerseits wird Arbeit als wichtig für die zukünftige „Seinsweise“ des Menschen angesehen. Andererseits: Die gegenwärtige Verfassung unseres Arbeitsmarktes und die Bedingungen auf den Arbeitsplätzen ist wenig einladend. Wie reagiert man darauf sinnvoll?
Die postindustrielle Reservearmee ... bleibt morgens liegen
Schon die Shell-Jugendstudie von 1997 hatte darauf hingewiesen, dass sich Kinder und Jugendliche heute sehr früh bereits von Arbeitslosigkeit bedroht fühlen. Die „Message“, die der so genannte Arbeitsmark einem jungen Menschen vermittelt, lautet ja auch im Wesentlichen: Wir brauchen dich nicht. Gleichzeitig wird Jugendlichen vorgehalten, sie seien zu schlecht qualifiziert, zu unflexibel und überhaupt nicht leistungsstark genug. Das allerdings ist ein Irrtum oder vielmehr: eine für einige der Lobbygruppen eindeutig funktionale Ideologie, denn selbst wenn wir alle jungen Menschen hochqualifiziert von der Schule entließen, hätten wir deshalb noch lange nicht genügend Arbeitsplätze. Das Problem liegt also ganz woanders. Wo es liegt, darüber wird in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gegenwärtig heftig gestritten. Einstweilen scheint ein anderer Prozess einzusetzen: Jugendliche reagieren längst auf ihre Weise auf die Aporie Berufsbiografie, und zwar mit einer ganz „vernünftigen“ Zielrichtung. „Beruf“ verliert an Bedeutung.
„Die Arbeitslosigkeit steigt immer höher, sodass man schon ins Ausland gehen muss, um Arbeit zu kriegen.“ (Marcus, 12)
Der Arbeitsmarkt dürfte zukünftig ohnehin ein Lebens- und Gesellschaftsbereich werden, der nur noch den leistungsstärksten Individuen zugänglich ist. Es werden die Hochbegabten, die Kräftigsten, die psychisch Belastbarsten, die räumlich Flexibelsten sein, die unsere wirtschaftlichen Erfolge erarbeiten. Natürlich wird dieser Bereich eine ganz besondere Anziehungskraft ausüben, aber seine Normierungskraft, nach der jedes Individuum seine Biografie daran auszurichten hat, wird er verlieren.
Und noch etwas kommt hinzu: Das Bild der jungen Generation von Betrieben und Konzernen ist ziemlich negativ. Junge Menschen erwarten in der Zukunft, dass die Arbeitenden mehr oder weniger rund um die Uhr abrufbar sein müssen für den Job, dass die Arbeitstage deutlich länger als acht Stunden dauern werden und dass die Arbeit die Energie der Menschen geradezu absaugt.
In einem anonym zugesandten Text fühlt sich eine hochbeschäftigte Frau, die (im Jahr 2020) gerade mit ihrem ebenfalls voll berufstätigen Ehemann per Bildtelefon spricht, so: „Wir reden ein bisschen und erzählen uns den Tag. Er sieht abgeschlafft aus, wie er in die Micro-Kamera guckt. Ich ermahne ihn, sich zu entspannen. Um zehn Uhr falle ich endlich wie tot ins Bett.“ Ihr Arbeitsende zuvor klang so: „Um halb acht schleppe ich mich müde hinunter zum Parkplatz.“
Gleichzeitig leuchten die überordneten (jenseits reiner Gewinnmaximierung liegenden) Ziele von Betrieben und vor allem Konzernen immer weniger Jugendlichen ein. Im Gegenteil: Unternehmer stehen oft in einer Reihe mit Kriminellen, sie sind es nämlich, die aus Profitinteressen massenhaft Menschen in die Arbeitslosigkeit schicken, die aus eben diesen Interessen unsere natürliche Umwelt ausmergeln, die ökologischen Folgen zu „Gemeinkosten“ erklären sowie in der Dritten Welt sogar Kinder unter unwürdigsten Bedingung ausbeuten, um billig zu produzieren.
„Ich hoffe, dass die wirtschaftlich starken Länder den Raubbau an den armen, unterprivilegierten Völkern irgendwann einmal aufhören und die Ausbeuterei nicht weiter unter dem Deckmantel der wirtschaftlichen Investition stattfindet. Ich hoffe, dass wir eines Tages begreifen werden, dass man nicht einfach alle Ressourcen der Erde verbrauchen kann ...“ (Martin, 17)
Nein, in einer solchen Welt zu arbeiten fällt letztlich schwer. Auf Grund dieser Texte junger Menschen entsteht der Eindruck, dass allmählich die Bezahlung als hinreichendes Argument zur Arbeitsmotivation untauglich wird. Ohnehin gilt in einer Luxusgesellschaft eher: Über Geld spricht man nicht, das hat man.
„Ich möchte mein Geld arbeiten lassen und mit meiner Familie auf einer Insel in einer Villa wohnen“, schreibt Christof (14).
Arbeit ist heute ziemlich uncool. Allerdings ist das kein besonderes Merkmal der unter 20-Jährigen. Jeder, der Lotto spielt, hegt die Hoffnung, endlich seine Arbeit hinschmeißen zu können. Und die „Aktion Mensch“ etwa wirbt in ihren Fernsehspots ganz offen damit. Selbst an der Kunst lässt sich längst ablesen, dass Arbeit out ist. Sowohl am Film wie auch an der Literatur ist inzwischen gezeigt worden, dass die Arbeitswelt kaum noch vorkommt. Mehr noch: Zuweilen fragt man sich, wovon die Helden eigentlich leben, wie sie ihre Cocktails bezahlen oder den Kurztrip von Paris nach Las Vegas. Während die Arbeit einmal das war, womit man sich die soziale Stellung erarbeitete und sich das Jenseits im Himmel verdiente, ist sie heute für viele die Hölle.
„Außerdem soll die Tierquälerei abgeschafft werden, genauso wie Krieg, Kinderarbeit, Arbeitslosigkeit, Hungernöte und Kindesmissbrauch.“ (Stefanie, 14)
Heute hat man nicht Arbeit, heute hat man Geld. Das dazugehörige Motto „Lieber reich und schön als arm und hässlich“ scheint dabei im Wesentlichen unserer massenmedialen Umwelt entliehen zu sein.
Was tun nun aber all jene, die weder zu den hochprivilegierten Arbeitsbienen noch zu jenen gehören, die „sozialgegeben“ über größere Summen Geld verfügen?
Verantwortung als Katalysator von „Sinn“
Es wäre ein allzu dummes Vorurteil, der heutigen Jugend zu unterstellen, sie sei – durch zwei Jahrzehnte Luxusgesellschaft verdorben – zur verantwortlichen Arbeit nicht mehr motiviert. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade Heranwachsende brauchen und suchen ihre Position im sozialen, gesellschaftlichen Netz. Und gerade dieses innere Motiv wird seit Jahren bei Jugendlichen frustriert – wovon all jene Jugendlichen, die uns völlig unmotiviert erscheinen und in uns den Impuls, sie erst einmal kräftig zu schütteln, hervorrufen, eine extreme Ausprägung sind.
Nein, Jugendliche suchen Aufgaben: „Hoffentlich ist später nicht alles zubetoniert und automatisiert. In so einer Welt kann doch niemand leben. Und außerdem, wenn alles automatisch abläuft, wozu gibt es uns dann überhaupt noch?“ (Doreen, 16)
Es mag überraschen oder auch nicht: Aus den Texten junger Menschen über ihre und unser aller Zukunft tritt etwas Aufschlussreiches hervor: Der überwiegende Teil denkt an Berufe mit sozialer Verantwortung: Polizist, Arzt, Kinderkrankenschwester, Erzieherin, Anwalt, Lehrer, Politiker – während übrigens das Handwerk vorläufig einem Austrocknungsprozess anheim zu fallen scheint. Hier zeichnet sich ein Interesse gerade an Aufgaben ab, die wir momentan als immer weniger bezahlbar deklarieren. Junge Menschen jedenfalls suchen sinnvolle Aufgaben und freuen sich durchaus auf Verantwortung.
„Ich möchte von Beruf Polizist werden: ein Vorbild für die Gesellschaft, eine treue Hand des Gesetzes.“ (Patryk, 15)
Einmal vorausgesetzt, dass wir nicht brachialen Verteilungskämpfen entgegengehen, dann könnten wir zukünftig ein Gesellschaftssystem haben, dem man vielleicht ... nun, sagen wir: einen Namen wie „soziale Marktwirtschaft“ geben könnte. In einer solchen Gesellschaft würde auch das Wirtschaftssystem um die Individuen werben, werben müssen. Jeder Einzelne nämlich könnte wählen zwischen verschiedenen Systemen, in dem er tätig sein kann, um sinnvolle Arbeiten für die Gesellschaft auszuführen: in der Kindererziehung, in der Altenpflege, im Umweltschutz und in allen Arten von Beratungsarbeit – Arbeiten also, die nicht über Märkte finanzierbar sind bzw. darüber organisierbar sind, was wir heute noch Berufsarbeit nennen.
Die Wirtschaftsexperten führen gegenwärtig unsere Krise (sic!) auf einen „Reformstau“ zurück, der primär durch unser, heutigen Erfordernissen nicht mehr entsprechendes politisches System entstehe. Nun, einiges spricht für diese Sicht. So wird es in den kommenden Jahren Nullrunden (die real immer Minusrunden sind) in Tarifverhandlungen und Sozialleistungen hageln und wir werden neue Ausmaße des so genannten Niedriglohnsektors erleben – dagegen ist nicht viel einzuwenden, sofern nicht eine Kaste der „working poor“ entsteht.
Der Zustand unseres Arbeitsmarktes und der hohe Reichtum trotz (oder gerade wegen) der hohen strukturellen Arbeitslosigkeit könnte zukünftig einen Großteil der Bevölkerung von der traditionellen Berufsarbeit „frei setzen“ und so eine Zuwendung dieser Menschen zu nicht über „Märkte“ regelbarer Bereiche unserer Gesellschaft fördern. Die Befindlichkeiten gegenwärtiger junger Menschen scheint jedenfalls mit einer solchen Konstitution übereinzustimmen. Jetzt täten noch ein paar Menschen gut, die zur Bahnung dieses Weges ernsthafte Anstrengungen unternehmen. Denn: Ins Paradies wollten wir doch schon immer zurück!.
Uwe Britten, geb. 1961, ist Autor und Lektor und lebt in Bamberg und Bonn. In seinen Romanen, Sachbüchern und Aufsätzen widmet er sich heutigen Problemen von Kindern und Jugendlichen.
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