Bis zum neunzehnten Jahrhundert spielte die Arbeit für die großen Philosophen keine besondere Rolle. Keinem nennenswerten Denker wäre es eingefallen, die für den bloßen Lebensunterhalt, das physische Überleben notwendige Plackerei in den Rang eines philosophischen Themas zu erheben. Und das, obwohl der Begriff „Arbeit“ und seine Äquivalente in allen Sprachen der Erde (bis heute) zu den wichtigsten und am häufigsten gebrauchten Wörtern gehört. Möglicherweise wollte sich die philosophische Elite lange Zeit nicht mit einer Sache befassen, die alle Welt vor allem mit Mühsal, Not und Qual verbindet.
Schon die alten Griechen überließen die Arbeit lieber anderen, den so genannten Unfreien. Ihre Sklaven verrichteten für sie das, was zum unmittelbaren Lebensunterhalt getan werden musste. Das betraf alles, was anstrengend, lästig, aber nötig war (man denke zum Beispiel an Viehzucht oder Häuserbau). Der freie Bürger pflegte hingegen die Muße oder beeinflusste als Politiker die Geschicke seiner Stadt. Es gab also wichtigere, vor allem aber: ehrenvollere Dinge als die Arbeit, mit der man sich nur die Hände schmutzig machte. Platons Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.) verbannte sie deshalb an das untere Ende seiner insgesamt vierstufigen Pyramide menschlicher Tätigkeiten. Von der Arbeit unterschied er zunächst das „Herstellen“, die Tätigkeit des Handwerkers. Im Unterschied zur harten Knochenarbeit war sie für Aristoteles ein kreativer, planvoller, der Kunst verwandter Prozess. Neben Arbeit und Handwerk gehörte für ihn auch das politische „Handeln“ zum Spektrum menschlicher Tätigkeiten, ebenso wie die Philosophie. Diese war zu Aristoteles Zeiten ein Synonym für Wissenschaft überhaupt, für eine kontemplative, mit geistigen Angelegenheiten beschäftigte Lebensform, die mit Arbeit, wie wir sie heute verstehen, rein gar nichts zu tun hatte. (Heute gelegentlich verwendete Ausdrücke wie „Kopf- oder Wissensarbeiter“ hätte Aristoteles entweder gar nicht verstanden oder aber verlacht.) Für die antike Philosophie war die Arbeit also vor allem deshalb kein prominentes Thema, weil man neben ihr noch andere, wichtigere menschliche Tätigkeiten und Handlungsformen kannte. Ein Buch über Arbeit wird man in der damaligen Zeit vergebens suchen.
Karl Heinrich Marx
(1818-1883) verarbeitete in seinem Hauptwerk „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“ (1867) ökonomische und philosophische Theorien zu einem Gesamtbild der kapitalistischen Gesellschaft. In den kommunistischen Ostblockstaaten erhielt das Marxsche Spätwerk nach dem Zweiten Weltkrieg den zweifelhaften Rang einer unantastbaren Wirtschaftsbibel. Einer vorurteilslosen philosophischen Lektüre hat das auch im Westen bis heute nachhaltig geschadet. Dessen ungeachtet bilden seine Schriften die theoretische Grundlage der meisten „linken“ Denker des 20. Jahrhunderts, von Theodor W. Adorno über Max Horkheimer bis Herbert Marcuse.
Zu höchsten philosophischen Weihen gelangte die Arbeit vermutlich erst im Jahre 1844. In jenem Jahr vollendete ein akademischer Außenseiter, der deutsche Emigrant Karl Marx in seiner Pariser Wohnung in der Rue Vanneau auf losen Blättern seine „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“. In blumigen Worten und mit dem Pathos des Revolutionärs hatte Marx dort die Arbeit als einen Prozess der „Selbsterschaffung“ des Menschen gepriesen. Dem jungen Marx zufolge bewährt sich der Mensch erst in der Erschaffung einer ihm gegenüberstehenden Dingwelt als menschliches, das heißt schöpferisches und freies Wesen. In den Gegenständen, die der Mensch nach seinen Ideen und Vorstellungen zur Welt bringt, schaut er sich wie in einem Spiegel selbst an. Wer oder was der Mensch ist, erfährt er selbst also erst, indem er etwas herstellt, indem er – körperlich oder geistig – arbeitet. Was bei Aristoteles noch ein breites Spektrum voneinander unterschiedener Tätigkeiten war, schrumpft nun bei Marx auf eine einzige zusammen. Die Arbeit wird bei Marx zur Königin der menschlichen Tätigkeiten. Ganz egal was der Mensch tut, ob er Unkraut jätet, quadratische Gleichungen löst oder Gedichte schreibt – er arbeitet. Und in der Arbeit entfaltet er sich selbst.
Zweifellos hat kein Philosoph die Arbeit je so gepriesen (und selbst so exzessiv betrieben) wie Marx, der an Auszehrung starb – am Schreibtisch. In seinem späten Mammutwerk, dem „Kapital“, betrachtete Marx die Arbeit jedoch etwas weniger euphorisch als in den frühen Schriften. Keine Gesellschaft der Welt, würde je auf sie verzichten können, auch die freieste (das hieß bei Marx: die kommunistische) nicht, so notierte er in den Manuskripten zum dritten Band. Den zukünftigen Generationen empfahl er daher, diese unangenehme, aber notwendige Arbeit (Nahrungsbeschaffung, Wohnungsbau, Industrie etc.) unter gesellschaftlicher Kontrolle möglichst „rationell“ zu regeln und zu verteilen. Jeder sollte seinen Beitrag zu diesem Lebensbereich leisten, den Marx das „Reich der Notwendigkeit“ nannte. Das „Reich der Freiheit“, neudeutsch: der Bereich menschlicher Selbstentfaltung, sollte Marx zufolge erst jenseits des „Reichs der Notwendigkeit“ beginnen, also gewissermaßen nach Feierabend.
Der junge Marx, noch
ohne den berühmten
Bart (um 1838)
Vermutlich aber konnte selbst Marx nicht ahnen, wie sehr auch dieser Ort heute ein Arbeitsraum ist. In unseren „freien Stunden“ mutieren wir zu Erziehungs- und Beziehungsarbeitern, wir „arbeiten“ an uns in der Psychotherapie, nach der Arbeit gehen wir zum „Workout“ in die Fitnessfabriken, selbst die Produkte unserer unruhigen Nächte sind in der Traumarbeit nicht vor unserem Arbeitseifer sicher – als hätten wir nicht schon genug zu tun! Im Gegenteil: Tätigkeiten, die nichts mit Arbeit zu tun haben (ein ausgedehnter Waldspaziergang oder ein gemütlicher Leseabend), verursachen uns geradezu ein schlechtes Gewissen. So als könnten wir das, was wir tun, erst dann wertschätzen, wenn wir es in Arbeit verwandelt haben.
Der Wiener Philosoph Konrad Liessmann nennt dieses Phänomen die „Laborisierung menschlicher Tätigkeiten“. Wir arbeiten immer mehr, während die Zahl der Arbeitslosen weltweit steigt. Allein in Deutschland werden es womöglich bald über fünf Millionen sein. Ein Widerspruch? Für Liessmann eher ein Widerspruch der Verhältnisse, in denen immer mehr Arbeit an Maschinen und Geräte delegiert wird, während die Arbeit zugleich als Synonym für Leben überhaupt gilt. (Letzteres hatte auch der junge Marx behauptet, der an dieser Entwicklung, der Reduktion des Menschen und seiner vielfältigen Tätigkeitsweisen auf Arbeit, also nicht ganz unschuldig sein dürfte.) Während sich die einen also beinahe totarbeiten (man denke an Workaholics oder das Burn-out-Syndrom), ist der große Rest der Arbeitslosen scheinbar zum sinnlosen Zeitvertreib verurteilt.
Günther Anders, der wohl unbequemste Kritiker des technologischen Zeitalters, sah die Herausforderung der Zukunft deshalb darin, das täglich wachsende Heer der Arbeitslosen irgendwie zu beschäftigen beziehungsweise von ihrer Arbeitslosigkeit abzulenken. Vollbeschäftigung als politisches Programm, wie sie zum Teil noch immer propagiert wird, hielt Anders schon in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts für eine Illusion. Der amerikanische Ökonom und Journalist Jeremy Rifkin hat diese Vermutung vor einigen Jahren öffentlichkeitswirksam erneuert und vom „Ende der Arbeit“ gesprochen. Ob wir allerdings wirklich schon vor einem Ende der Arbeit stehen oder uns nur mitten im – wahrscheinlich mühevollen und entbehrungsreichen – Umbau der Arbeitsgesellschaft befinden, wer mag das heute sicher sagen. Sicher aber ist: Schlenderte Aristoteles heute über unsere Marktplätze, in die Fabrikhallen, Geschäfte und Büros, er hätte ein ziemlich flaues Gefühl. Schnell würde er bemerken, warum: Seine Tätigkeitspyramide steht in unserem globalen, alle menschlichen Lebensbereiche unterwandernden „Reich der Notwendigkeit“ auf der Spitze. Und welcher alte Athener fühlte sich schon wohl – in einer Welt von lauter Sklaven?
Günther Anders,
geb. Stern (1902-92), wurde nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil 1950 zum schärfsten außerakademischen Kritiker der Technik. In seinem zweibändigen Hauptwerk, „Die Antiquiertheit des Menschen“, fragt er nach den Auswirkungen von Automatisierung und Rationalisierung auf die menschliche Arbeit. Er befürchtete, dass der Mensch zum bloßen Automatendiener verkümmern würde. Die Art und Weise unseres Arbeitens stellt ihm zufolge eine Gefahr für unseren kritischen Verstand und die Möglichkeit ethischen Handelns dar. In seinen bahnbrechenden Analysen, die zum Teil erst sehr spät zur Kenntnis genommen wurden, nahm Anders auch das Fernsehen und die Atombombe unter die Lupe.
Christian Dries studierte Philosophie, Soziologie, Psychologie und Geschichte in Freiburg und Wien. Er schreibt derzeit an seiner Magisterarbeit zum Thema „Technik als Subjekt der Geschichte“. Mit seiner Arbeit „Die beschleunigte Angst – Skizze eines Forschungsprogramms“ hat er den Deutschen Studienpreis gewonnen.
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