Mai 2004

Öko? Logisch! Fiktive Flusskrebse und die Realität

Astacus astacus Kann man Flusskrebse modellieren? Nun, jeder Bildhauer würde über eine derartig banale Frage nur mild lächeln können. Aber kann man sie auch modellieren, wenn man kein Bildhauer ist? Ein biologischer Erfahrungsbericht.


Ein Modell muss so einfach wie möglich sein. Aber nicht einfacher.
(Albert Einstein).

Modellieren kann man nicht nur mit Lehm und Ton. Bereits Albert Einstein wusste das. Modelle sind in der heutigen Wissenschaftslandschaft allgegenwärtig, sie sind sogar ein unverzichtbares Werkzeug für Prognosen und Analysen aller Art geworden.

Für viele verblüffend: Auch in Ökologie und Naturschutz haben die – häufig computergestützten – Modelle inzwischen Einzug gehalten. Ein Modellierer – beziehungsweise eine Modelliererin – gehört mittlerweile in jede gut funktionierende Arbeitsgruppe.

Ein prominentes Beispiel für den erfolgreichen und praxisnahen Einsatz eines Modells in der ökologischen Forschung ist die Simulation der räumlichen Verbreitung von Tollwut. Die Ergebnisse dieses Simulationsmodells sind sogar in die Deutsche Tollwutverordnung und in einen Bericht der Europäischen Kommission eingeflossen [Infos zu Tollwutmodellen: Quelle1, Quelle 2].

Grafik
Abb. 1: Der ideale Kreislauf zwischen Natur und Modell.
Grafik: Katrin Meyer

Die ersten ökologisch-mathematischen Modelle entstanden in den 60er Jahren und folgten bereits dem Schema, das beinahe jedem Modell zugrunde liegt: Aus der Natur werden Daten gewonnen, die als Grundlage für das Modell dienen. Die Ergebnisse des Modells können dann mit der Natur abgeglichen bzw. in der Natur angewandt werden (Abb. 1). Idealerweise gleicht dieser Prozess einer endlosen Schleife zwischen „Natur“ und Modell. Ökologische Modelle sollen dem Wissenschaftler dabei in erster Linie als „Denkhelfer“ dienen in seinem Streben, die wesentlichen Merkmalen und die treibenden Prozesse eines Ökosystems (s. Kasten) herauszufinden. Daher ist auch ein besonders realitätsnahes Modell nicht unbedingt ein besonders gutes Modell. Ganz im Gegenteil beschert es dem Modellierer eventuell überhaupt keinen Wissensgewinn, da er ja nicht gezwungen wird, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden.

Ökologie
Ökologie ist die Wissenschaft von der Verteilung und Häufigkeit von Arten.

Im Naturschutz werden computergestützte Modelle häufig eingesetzt, um den Gefährdungsgrad bedrohter Arten abzuschätzen. Der große Vorteil solcher Populationsgefährdungsanalysen (Population Viability Analyses, PVA) ist, dass der Computer den Zufall in seine Prognosen miteinbeziehen kann. Außerdem können alle verfügbaren Daten so kombiniert werden, dass am Ende Ergebnisse wie z.B. Überlebenswahrscheinlichkeiten mit harten Zahlen beziffert werden können. Politische Entscheidungsträger akzeptieren modellgenerierte Zahlen eher als die „Bauchgefühl-Einschätzungen“ von Experten. Zum Beispiel, wenn es um die optimale Größe und Lage von Schutzgebieten geht. So stand eine PVA über den Fleckenkauz in den 90er Jahren sogar im Mittelpunkt einer Serie von Prozessen in den USA, in denen um die Einrichtung von neuen Schutzgebieten gestritten wurde. [Infos zu den Fleckenkauzprozessen]

Rote Liste
Rote Listen verzeichnen ausgestorbene, verschollene oder gefährdete Tier- und Pflanzenarten, Pflanzengesellschaften oder Biotoptypen für einen bestimmten Bezugsraum, z.B. weltweit, in Deutschland oder in der Stadt Hamburg. In Deutschland ist folgende Skala gebräuchlich:
0 - ausgestorben oder verschollen
1 - vom Aussterben bedroht
2 - stark gefährdet
3 - gefährdet
R - extrem selten
G - Gefährdung anzunehmen
I - gefährdete wandernde Tierart


Weitere Infos: www.bfn.de, www.redlist.org.

In Europa ist der Edelkrebs (Astacus astacus) eine vom Aussterben bedrohte Art (Rote Liste 1, s. Kasten), die nur noch in wenigen Populationen in besonders sauberen und abgeschiedenen Oberläufen von Flüssen vorkommt. Der dramatische Rückgang der Edelkrebse während des letzten Jahrhunderts wird der Krebspest zugeschrieben. Dabei handelt es sich um einen Pilz, der gemeinsam mit einem amerikanischen Verwandten des Edelkrebses nach Mitteleuropa eingeschleppt wurde. Während die amerikanischen Krebse gegen die Krebspest „immun“ sind, haben die einheimischen Krebse gegen den neu angekommenen Krankheitserreger keine Chance. Die betroffenen Edelkrebspopulationen werden binnen Stunden vollkommen auslöscht. Der dadurch verursachte hohe Isolationsgrad der Restpopulationen des Edelkrebses macht diese interessant für die Wissenschaft: Sind diese Populationen überlebensfähig? Wenn nein, wie sind sie noch zu retten, was sind die Gefährdungsfaktoren? Wenn ja, sind es noch genug, um die Art in Europa zu erhalten?

Eine PVA, die ich im Rahmen meiner Diplomarbeit im Jahr 2003 durchführte, konnte zumindest die ersten beiden Fragen beantworten. Das von mir entwickelte Flusskrebsmodell ergab, dass 50 Prozent der fiktiven Flusskrebspopulationen innerhalb der ersten 80 Jahre nach Simulationsbeginn aussterben. Und das unter realitätsnahen Bedingungen, wie sie in einem kleinen seit mindestens 70 Jahren von einer Edelkrebspopulation bevölkerten Bach in Hessen herrschen. Diese Überlebenszeit sinkt sogar noch auf 20 Jahre, wenn die Häufigkeit von katastrophalen Hochwassern auf eins pro Jahr erhöht wird. Dies ist im Rahmen eines globalen Klimawandels eine durchaus realistische Prognose.

*
Unter solchen überhängenden Ufern nisten sich Flusskrebse gerne ein.
Foto: Knut Gimpel

Wo sollten also angesichts dieses dramatischen Szenarios Rettungsmaßnahmen am effektivsten ansetzen? Das Modell ergibt, dass die Veränderung der Reproduktionsparameter die Überlebenswahrscheinlichkeit der Population am stärksten heben könnte. Dies könnte beispielsweise durch weniger verschmutztes Wasser erreicht werden. Die Eier würden dadurch nicht mehr so leicht von Schimmelpilzen befallen werden.

Bleibt zu hoffen, dass die Ergebnisse den Flusskrebsen dabei helfen werden, wieder dauerhaft überlebensfähige Populationen aufzubauen. Viel Zeit bleibt nicht. Aber mit Hilfe ökologischer Simulationsmodelle kann man wenigstens versuchen, ein wenig in die Zukunft zu blicken. Ob es in siebzig Jahren noch Edelkrebs-Populationen in unseren Bächen geben wird, darüber kann man nur spekulieren. Ökologische Modellierung kann Entscheidungsträgern dabei helfen, die richtigen Maßnahmen zum Schutz der Restpopulationen zu finden. Hoffen wir, dass die richtigen Entscheidungen fallen werden. Hoffen wir, dass die Krebse es schaffen werden. Nach dem Motto: Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

Beitrag von Katrin Meyer

Links zum Thema

  • Fleckenkauz-Prozesse in den USA
  • Tollwut-Studie vom UFZ Halle
  • Tollwut-Studie der EU

Zur Person

Katrin Meyer (25) hat in Marburg Biologie studiert und promoviert am Institut für Ökologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie modelliert südafrikanische Savannen-Ökosysteme.

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