Hinter den Kulissen des Wandels
Die Entstehung eines neuen Staates erklärt sich nicht einfach als Folge des dramatischen Wandels auf dem Territorium seines Vorgängers. Vor allem der Umschwung vom totalitären- zu rechtsstaatlichen Systemen, wie ihn die Staaten Zentral- und Osteuropas Ende der 80er und Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts erlebt haben, setzt ein völlig verändertes Staatsverständnis voraus. Die Beschränkung der Staatsmacht durch eine Verfassung stellt gegenüber dem totalitären System, in dem staatliches Handeln automatisch und quasi per Definition rechtens ist (siehe Abbildung 1), eine revolutionäre Neuerung dar. Der Tag des Sturzes einer politischen Führung markiert deshalb auch nicht die Vollendung, sondern – im Gegenteil – erst den Beginn eines Systemwechsels.
Das Vorhandensein von Verfassungsgerichten allein spiegelt dabei bereits das veränderte Verhältnis von Recht und Staat wieder: Das Primat der Verfassung und dessen Schutz durch eine eigene Institution gelten schließlich als Symbol demokratischer Rechtsstaaten schlechthin. Doch während deren Einrichtung häufig unter dem starken Eindruck westeuropäischer Vorbilder steht, wird ihre tägliche Arbeit von den sehr spezifischen Bedingungen eines Staates und seiner Bewohner im Wandel geprägt: Nicht nur juristische Institutionen und Politik, auch die Bürger müssen sich erst an ihre neuen Rechte gewöhnen und Vertrauen zu den Gerichten aufbauen, die nun nicht mehr die Macht des Staates, sondern die Rechte der Bürger vertreten. Dem juristischen Realismus zu Folge erklärt sich dabei das Verhältnis der Akteure zu einander nicht ausschließlich aus den entsprechenden Gesetzestexten, sondern auch aus der allgemeinen, zum Beispiel wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Situation und nicht zuletzt aus der Kultur und Tradition eines Staates.
So geht es in einer ersten Phase für das Verfassungsgericht darum, der relativen Unerfahrenheit aller politischen Akteure im Umgang mit ihm, bis zu mangelnder Akzeptanz, zu begegnen. Es muss dazu seine Position als Vermittler und Kontrolleur der beiden anderen Gewalten im Staat (Legislative und Exekutive) stärken, ohne selbst politisch vereinnahmt zu werden. Die möglichen Auswirkungen der genannten Faktoren auf das gesamte Machtgefüge führen die Regierungskrise in Russland vom Herbst 1993 vor Augen: Während das Verfassungsgericht nicht zu einer Entscheidung für oder gegen eine Dominanz des Parlaments gegenüber dem Präsidenten Boris Jelzin gelangte, verlor es kurz darauf das Recht, in solchen Angelegenheiten auf eigene Initiative tätig werden zu können. Eine (Nicht-)Entscheidung des Verfassungsgerichts zog hier also eine Verschiebung des Gleichgewichts zwischen den Staatsgewalten nach sich. Das in der Entstehung begriffene System erwies sich als relativ instabil.
Theorie der juristischen Standpunkte
(frz.: théorie des positions juridiques): Von den russischen Richtern Gadjiev und Vitrouk in den 1990er Jahren entwickelte Methode, die von der Rechtsauslegung in einem Einzelfall verbindliche Vorschriften für deren weitere Anwendung ableitet.(...)
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Die Schwierigkeit, gleichzeitig Stabilität garantieren und Veränderungen ermöglichen zu müssen, stellt sich für die Verfassungsgerichte jedoch nicht nur bei der gesetzlichen und mentalen Verankerung ihrer Position: Während einer Übergangsphase, die leicht ein Jahrzehnt dauern kann, müssen nicht selten die neuen, häufig gerade erst ins Leben gerufenen Gesetze angewandt werden, um alte, überkommene Regelungen abzuschaffen. Diese Funktion der Verfassungsgerichte, die ein russischer Richter sinngemäß als „Saubermann im Gesetzesdschungel” bezeichnet hat, ist typisch für einen Systemwechsel und fordert von den Juristen großes methodisches Geschick, um einen Mangel an Regelungen ganzer Rechtsgebiete ebenso wie widersprüchliche Gesetze zu vermeiden. Eine Lösung für den Fall möglicher Gesetzeslücken bietet die direkte Anwendung der Verfassung, wie sie in Russland in Artikel 15 verankert ist. Dabei geht diese Methode weit über das hinaus, was der Wortlaut vermuten lässt: Die Verfassung wird nicht als bloße Lückenbüßerin bei der Klärung einer Reihe von Einzelfällen verwendet, vielmehr sind die Verfassungsrichter dazu übergegangen, aus ihren jeweiligen Entscheidungen relativ verbindliche Richtlinien für den Gesetzgeber zu entwickeln. Gesetzlich ist die Legislative zwar an diese so genannten „Appelle” nicht unmittelbar gebunden. Angesichts der Notwendigkeit der Reform ganzer Rechtsgebiete (wie des Strafrechts, bürgerlichen Rechts et cetera), die ihrerseits eines hohen Maßes an Expertise bedarf, werden sie in der Praxis jedoch als Handlungsempfehlungen angesehen, auf die sich das Parlament bei der Ausarbeitung neuer Gesetze stützt. Auch die Ausarbeitung der Theorie der juristischen Positionen (Infokasten) erklärt sich aus dieser speziellen Anforderung eines Systems mit tiefgreifendem Reformbedarf: Sie rechtfertigt auf der Ebene juristischer Methoden den Einfluss des Gerichts auf den Gesetzgebungsprozess.
Auch in der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Verfassungsgericht und Bürgern zeigt sich der Einfluss eines Staates auf die konkrete Arbeitsweise des Verfassungsgerichts: Waren Gerichte in der Sowjetzeit die „rechte Hand des Staates”, die den Willen der Mächtigen ausführten, sind sie im modernen Rechtsstaat ein Weg für die Bürger, ihre Rechte auch gegenüber dem Staat geltend zu machen. Auch um diesen neuen Wert der Unabhängigkeit der Gerichte greifbar zu machen, hat man sich in Russland entschieden, die Klage vor dem Verfassungsgericht jedem Bürger unmittelbar zugänglich zu machen. Eine Möglichkeit, die seit ihrer Einführung zunehmend wahrgenommen wird. Den enormen Aufwand, der erforderlich ist um die Klagen der Bürger juristisch korrekt zu formulieren, übernimmt – nach einer Überprüfung der Statthaftigkeit – in Moskau eine eigens zu diesem Zweck eingerichtete Abteilung. Ein Aufwand, der in den ärmeren Nachfolgestaaten der Sowjetunion gelegentlich an finanzielle Grenzen stößt.
Schließlich ist auch die Prozedur der Prozesse selbst vor dem russischen Verfassungsgericht durch die speziellen Anforderungen des Wandels geprägt: Mündliche Verhandlungen, an vielen Verfassungsgerichten westlicher Staaten eher unüblich, die zudem häufig öffentlich sind und sogar vom Fernsehen gefilmt werden dürfen, erfüllen nicht nur den Zweck, dem Volk die „Entstehung von Recht” zu demonstrieren. Der Vortrag von Argumenten und Gegenargumenten stellt gleichzeitig ein äußerst konstruktives Verfahren der Entscheidungsfindung und somit eine weitere Möglichkeit dar, bestehende Gesetzeslücken in angemessener Weise zu schließen.
Das Verfassungsgericht ist also während des Wandlungsprozesses eines Staates mehr als nur ein bloßes Symbol des Systemwechsels: Es übernimmt weiter reichende Aufgaben im Gesetzgebungsprozess als vergleichbare Institutionen gefestigter Systeme – und muss sich in seiner Organisation und seinen Prozeduren den Anforderungen der jeweiligen Gesamtsituation fügen.
Links zum Thema
- Einführender Text der Bundeszentrale für politische Bildung zum Staatssystem
- Lehrmodul Rechtsstaat der Uni Karlsruhe
- Prinzipien und Zusammenhänge der deutschen Demokratie
Literaturliste
- Russland. Informationen zur politischen Bildung Bd. 281. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2003.