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Berichte & Reportagen  August 2004

Fatalistisch zufrieden?

Nicole Burzan Es gibt die gelangweilten Alten und die eiligen Alten, so ein gängiges Vorurteil. Die Realität sieht anders aus. Ein Interview mit der Hagener Sozialwissenschaftlerin Nicole Burzan, die sich mit dem Thema Alter(n) und Zeit beschäftigt.

sg: Wie kamen Sie als Nachwuchswissenschaftlerin zu Ihrem Dissertationsthema „Zeitgestaltung im Alltag älterer Menschen“?

NB: Ich habe mich bereits während meines Studiums der Sozialwissenschaft mit Biografien beschäftigt. Vor allem ältere Menschen haben in der Retrospektive eine Menge zu erzählen. Eher zufällig stolperte ich im Anschluss an mein Studium über Literatur zum Thema Zeit. Daraufhin dachte ich: Ältere Menschen könnten eine interessante Untersuchungsgruppe sein, an der ich die These von der beschleunigten Gegenwartsgesellschaft überprüfen könnte.

Alter(n)sforschung
Altern und Altsein gehören zu den zentralen Gegenwarts- und Zukunftsproblemen der modernen Gesellschaft. Die Alter(n)sforschung ist in den vergangenen drei Jahrzehnten sprunghaft gewachsen, weil alte Menschen einen immer größeren Teil moderner Gesellschaften ausmachen und damit sich die Strukturen nachhaltig verändern. Es entstehen soziale Probleme – Alter(n) wird als "soziales Schicksal" begriffen – von bislang ungekannten und noch nicht recht absehbaren Ausmaßen.

sg: Aber warum speziell ältere Menschen? Die These der Nonstop-Gesellschaft hätte ja auch an jüngeren Menschen überprüft werden können, oder?

NB: Nun, ältere Menschen stellen aufgrund der Lebensphase, in der sie sich befinden, eine Kontrastgruppe zur Vorstellung von jungen, getriebenen Menschen – mit Karriereabsichten, Familien- und Kinderwunsch – dar. Sicherlich wäre es auch interessant, die Gruppe der Älteren etwa mit einer Gruppe junger Studierender in einer Untersuchung gemeinsam zu betrachten.

sg: Wie sind Sie in Ihrer Studie methodisch vorgegangen?

NB: Ich führte bundesweit gut 30 leitfadengestütze Interviews, die die zeitliche Organisation im Alltag älterer Menschen thematisierten. Meine Zielgruppe waren Menschen im Alter ab 60, die sich seit mindestens einem Jahr im Ruhestand befinden mussten. Zudem sollten die von mir Befragten in Privathaushalten und nicht etwa in Seniorenheimen leben und körperlich noch so fit sein, dass sie ihr Leben in zeitlicher Hinsicht frei gestalten konnten. Mir ging es also um Interviewpartner in eingespielter Rentenphase. Im Rahmen der qualitativen Interviewauswertung versuchte ich dann, Typen unterschiedlicher Zeitgestaltung zu bilden.

sg: Und zu welchen zentralen Ergebnissen kamen Sie in Ihrer Studie?

NB: Im Leben älterer Menschen kommen sehr unterschiedliche Zeittypen vor: Erkennbar wurden sowohl starke als auch mittlere und schwache Zeitstrukturierer. Starke Zeitstrukturierer sind gekennzeichnet durch facettenreiche institutionelle Anbindungen wie beispielsweise der Besuch regelmäßig stattfindender Kurse oder die Ausübung eines Ehrenamtes. Darüber hinaus pflegen diese Menschen vielfältige private Kontakte. Schwache Zeitstrukturierer hingegen verbringen oftmals viel Zeit alleine und mit Routineaktivitäten. Interessant erscheint mir dabei, dass es keinen engen Zusammenhang gibt zwischen dem individuellen Grad zeitlicher Strukturierung einerseits und subjektiver Zufriedenheit andererseits: Man kann also nicht sagen – was man ja gerne vermuten würde –, dass die Aktiven grundsätzlicher zufriedener wären als die weniger Aktiven. Insgesamt gilt, dass zeitlich-soziale Konventionen auch für ältere Menschen gelten, die nicht mehr berufstätig sind oder Kinder erziehen, doch ältere Menschen gehen oftmals souveräner mit diesen Regeln um, als es ihnen teilweise zugetraut wird.

sg: Also gibt es einen Unterschied zwischen Erwerbstätigen und Ruheständlern?

NB: Ein Teil der Ruheständler ist den Erwerbstätigen im Hinblick auf die Zeitgestaltung ähnlicher, als man es annehmen könnte. Aber als Gesamtgruppe erfreuen sich Rentner, wie gesagt, einer größeren zeitlichen Souveränität. Durchaus viele ältere Menschen finden für sich eine gelungene Balance zwischen zeitlicher Strukturierung und Raum für Spontaneität und Muße.

sg: Haben Sie eine Erklärung für diese Grundtendenz?

Burzan, Nicole (2002): Zeitgestaltung im Alltag älterer Menschen
Burzan, Nicole (2002): Zeitgestaltung im Alltag älterer Menschen. Eine Untersuchung im Zusammenhang mit Biographie und sozialer Ungleichheit. Leske + Budrich, Opladen.

NB: Ja, eine Erklärung habe ich in der Biografie meiner Interviewpartner gefunden. Bestimmte Biografien sind tendenziell mit typischen Zeitstrukturierungsmustern verknüpft; wer während der Rentenphase eine vergleichsweise schwache zeitliche Strukturierung aufweist, führte nicht selten schon im mittleren Lebensalter ein relatives passives Leben. Die biografischen Typen habe ich danach unterschieden, ob ein oder mehrere Lebensbereiche für die Menschen vor der Phase des Ruhestands zentral waren – also der Beruf, die Familie, Hobbies oder ein Ehrenamt. Im Falle der schwach strukturierten Ruheständler spielte oft schon früher lediglich ein zentraler Bereich im Leben eine große Rolle. Ob diese Konzentration auf einen einzigen zentralen Aspekt im Leben nun als negativ empfunden wird, lässt sich nicht pauschal beurteilen. Vorsichtig formuliere ich: Passivität – verbunden mit der Konzentration auf nur einen zentralen Lebensbereich – führt zu schwacher Zeitstrukturierung, eine subjektiv hohe Bedeutung mehrerer Lebensbereiche zu mindestens mittlerer Zeitstrukturierung.

sg: Stichwort: „Ehrenamt“. Man darf sicherlich zu Recht annehmen, dass ältere Menschen über ein hohes Maß an frei disponibler Zeit verfügen. Wird diese auch häufig für die Ausübung eines Ehrenamtes genutzt?

NB: Das lässt sich nicht grundsätzlich behaupten. Gerade die schwächer Zeitstrukturierten üben trotz ihrer freien zeitlichen Ressourcen selten ein Ehrenamt aus. Für die stark Zeitstrukturierten gilt, was auch schon die Ehrenamtsforschung herausfand: Das Ehrenamt muss Spaß machen und sich in Konkurrenz zu anderen Aktivitätsmöglichkeiten behaupten können. Also, man kann nicht sagen, dass ältere Menschen aufgrund ihrer freien Zeit automatisch für ein Ehrenamt zu gewinnen sind.

sg: Bisher klingt es ja doch so, als bringe eine mittlere oder starke Strukturierung der Zeit Vorteile mit sich – Vorteile in Richtung einer höheren Zufriedenheit und Erfüllung. Ist dem so?

NB: Nein, das konnte ich gerade nicht herausfinden. Zeitstrukturierung und Zufriedenheit hängen nicht so eng zusammen, wie man es vermuten könnte. Manche schwach Strukturierten haben einfach niedrige Ansprüche an ihr Leben – ich nenne sie mal die „fatalistisch Zufriedenen“. Man sollte sich davor hüten, die Frage der individuellen Zeitstrukturierung allzu normativ beantworten zu wollen. Bedenken Sie, dass es Menschen mit einem hohen zeitlichen Strukturierungsgrad gibt, die auch in ihrer Rentenphase eher unruhig sind oder trotz vielfältiger Aktivitäten keine Erfüllung finden.

sg: Welche Rolle spielen die beiden Faktoren Lebenspartner und Familie?

NB: Das Zusammenleben mit einem Partner ist – wie in jüngeren Jahren – auch im Alter alltagsprägend: Ältere Menschen, die zu zweit leben, unternehmen in der Regel auch viel zu zweit. Zudem müssen sie in zeitlicher Hinsicht ihre Tage aufeinander abstimmen. Dies wiederum erhöht ihre zeitliche Strukturierung.

sg: Also lässt sich festhalten, dass frühere Zeitgestaltungsmuster die späteren stark determinieren?

NB: Ja, das stimmt so. Kompetenzen, die man im Laufe des Lebens erworben hat – etwa der Umgang mit Veränderungen und Umbruchsituationen –, spielen eine bedeutsame Rolle für das spätere Leben. Andererseits darf man älteren Menschen – bei aller Habitualisierung – Wandlungsfähigkeiten nicht absprechen.

sg: Was würden Sie älteren Menschen im Hinblick auf ihren Umgang mit Zeit raten?

NB: Es gibt nicht nur einen Weg zur Zufriedenheit im Alter. Es wäre falsch, das Defizitmodell des Alters – abnehmende Gesundheit, abnehmende Mobilität, et cetera – allzu stark zu verinnerlichen. Daher würde ich älteren Menschen raten, ihren Alltag und ihre Zeit selbstbewusst zu leben, und zwar auch dann, wenn die eigene Zeitgestaltung nicht der in dieser Gesellschaft weit verbreiteten normativen Vorgabe hoher Aktivität entspricht.

sg: Und welche Ratschläge würden Sie jüngeren Menschen geben?

NB: Reflektieren Sie Ihre gegenwärtige Zeitgestaltung; dies können Sie bereits als junger Mensch tun. Bauen Sie mögliche Vorurteile gegenüber der Zeitgestaltung älterer Menschen ab, denn es gibt weitaus mehr als die zwei Extremklischees der gelangweilten Alten und der eiligen Alten.

Das Interview führte Nadine M. Schöneck

Links zum Thema

  • Sektion „Alter(n) und Gesellschaft“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS)
  • Literatur über das Alter
  • Deutsches Zentrum für Altersfragen; gibt einen "Informationsdienst Altersfragen" heraus
  • Deutsches Zentrum für Alternsforschung an der Universität Heidelberg
  • Interessantes zum Thema Alter(n)

Zur Person

Dr. Nicole Burzan, Jahrgang 1971, Junior-Professorin für Sozialstrukturanalyse und empirische Methoden an der FernUniversität in Hagen, studierte Sozialwissenschaft in Bochum und befasste sich in ihrer Dissertation, die sie bei Werner Fuchs-Heinritz in Hagen schrieb, mit der Zeitgestaltung im Alltag älterer Menschen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören soziale Ungleichheit und Individualisierung, Inklusion, Zeitsoziologie, Biographie.

Kontakt

Dr. Nicole Burzan, Junior-Professorin für Sozialstrukturanalyse und empirische Methoden, FernUniversität in Hagen, Institut für Soziologie, Fleyer Straße 204, D - 58084 Hagen, Tel. 02331/987-4696.
E-Mail:

Literaturliste

  • Burzan, Nicole (2002): Zeitgestaltung im Alltag älterer Menschen. Eine Untersuchung im Zusammenhang mit Biographie und sozialer Ungleichheit. Leske + Budrich, Opladen.
  • Brüscher, Petra/Naegele, Gerhard/Rohleder, Christiane (2000): Freie Zeit im Alter als gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe? Aus Politik und Zeitgeschichte. B 35-36.
    Online abrufbar unter: www.das-parlament.de/2000/35_36/Beilage/005p.pdf
  • Hondrich, Karl Otto (2004): Die mittleren Jahre. In: FAZ vom 18.05.2004, S.7
  • Martin, Peter (2000): Altern und Zeit. Ansätze zur Theoriebildung in der Gerontologie. Ethik und Sozialwissenschaften, 11, 453-455.
  • Prahl, Hans-Werner/Schroeter, Klaus R. (1996): Soziologie des Alterns. Eine Einführung. Paderborn u.a.
  • Schlaffer, Hannelore (2003): Im Alter wird der Spleen zur Pflicht. DIE ZEIT vom 03.07.2003.
    Online abrufbar unter: www.zeit.de/2003/28/Altern

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"A theory is something nobody believes, except the person who made it. An experiment is something everybody believes, except the person who made it."

Albert Einstein,  Physiker,  1879-1955

 
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