Sein ohne Zeit
Allmorgendlich werden Menschen auf der ganzen Welt vom Klingeln des Weckers aus dem Schlaf geholt. Arbeit, Familie, Freunde und gesellschaftliche Aktivitäten gliedern ihren Tag in mehr oder weniger voneinander abgegrenzte zeitliche Einheiten. Zur Schule gehen, arbeiten, Menschen treffen, für das eigene Leben sorgen und Verantwortung übernehmen, all das findet in der Zeit statt – ein Leben lang. In einer Zeit, die von natürlichen Rhythmen (wie etwa dem unbestechlichen Wechsel von Tag und Nacht oder den vier Jahreszeiten) auf der einen, von den sozialen “Taktgebern” (Arbeit, Familie etc.) auf der anderen geformt und bestimmt wird.
In seinem epochalen Werk Sein und Zeit (1927) hat der Philosoph Martin Heidegger die Zeit deshalb als “Horizont” des Seinsverständnisses des Menschen, als Fundamentalkategorie des menschlichen Daseins, beschrieben. Das unvollendet gebliebene Buch hat (Philosophie-) Geschichte geschrieben. Eine ganze Enkelgeneration hat sich an dem provinziellen Großdenker aus dem beschaulichen Meßkirch im Schwarzwald abgearbeitet: Günther Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas (die sich in Heideggers Marburger Veranstaltungen kennen lernten), Jean-Paul Sartre, Emanuel Levinas und auch der philosophische Unruhestifter Peter Sloterdijk, sie alle konnten und können nicht ohne ihn. Die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins spielt bei allen diesen Autorinnen und Autoren – oft entgegen der ursprünglichen Intentionen Heideggers – eine mehr oder minder hervorgehobene Rolle.
So charakterisiert Hannah Arendt in ihrer voluminösen Untersuchung Vita Activa der modernen Arbeitsgesellschaft das Weltverständnis einer Gesellschaft, in der die Arbeit mit ihrem monotonen Rhythmus von permanenter Produktion und Konsumtion den Lebenstakt vorgibt. Günther Anders verfasst in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts zeitkritische Essays über die “Vernichtung von Raum und Zeit” durch die zivile Luftfahrt. Seine technikkritischen Überlegungen lassen sich problemlos in eine Kritische Theorie der modernen Zeitverhältnisse überführen: Der Eigenrhythmus technischer Apparate wird zum Zeitkorsett hoffnungslos überforderter Individuen, die zu bloßen Apparate-Anhängseln mutieren.
Peter Sloterdijk stellte vor zwanzig Jahren in seinem beschleunigungskritischen Buch mit dem programmatischen Titel “Eurotaoismus” fest, dass der “aktuelle Weltprozeß” eine “beschleunigte Katastrophendrift” aufweise. Die beschleunigte Moderne wird für Sloterdijk ein Ort pausenloser “Mobilmachung”, zu einer Lebensform, die “ins Falsche führt” (S. 12). In den letzten Jahren hat die Literatur zu den Themen Be- und Entschleunigung, Zeitmanagement und magisch anmutende “Zeitvermehrung” geradezu sintflutartig zugenommen. Doch viele neuere Analysen bleiben oberflächlich, feuilletonistisch oder ergehen sich in Klagen über das mörderische Tempo der Zeit und Ratschlägen zu einem “entschleunigten” Leben, die in etwa so realistisch und praktikabel anmuten wie der Ruf nach sofortiger Abschaffung von WTO oder NATO.
Die Evangelische Akademie in Tutzing
gehört zu den bekanntesten von insgesamt 19 solcher Einrichtungen auf deutschem Boden, die von den Evangelischen Landeskirchen oder ihnen verbundenen Vereinen, aber auch öffentlichen Mitteln und Spenden finanziert werden.
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Die Körber-Stiftung
in Hamburg des 1992 verstorbenen Industriellen Kurt A. Körber gehört zu den größten deutschen privaten Stiftungen.
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Die Frage, was los ist mit unserer aus den Fugen geratenen Zeit, steht weiter im Raum. Zu den jüngsten systematischen Arbeiten, die fundierte Antworten geben können, gehört das Buch Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung des Marburger Wirtschaftshistorikers Prof. Dr. Peter Borscheid. Der Jenaer Soziologe Prof. Dr. Hartmut Rosa wird seine soziologische Habilitationsschrift unter dem Titel Beschleunigung – Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne im kommenden Jahr im Suhrkamp-Verlag zur Diskussion stellen. Beide Wissenschaftler haben vom 30. August bis zum 2. September gemeinsam mit Preisträgerinnen und Preisträgern der vierten Ausschreibung des Deutschen Studienpreises 2002/2003 an einer Tagung teilgenommen, die das Forum Junge Erwachsene & Zeitakademie der Evangelischen Akademie in Tutzing in Zusammenarbeit mit der Körber-Stiftung aus Hamburg veranstaltet hat.
Unter dem Titel “Tempo! Tempo! Vom Bewegen in einer beschleunigten Welt” diskutierten junge Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, anerkannte Zeitforscher wie der Münchner Wirtschaftspädagoge und Mitbegründer der Gesellschaft für Zeitpolitik Prof. Dr. Karlheinz A. Geißler und die Tutzinger Studienleiter Dr. Martin Held und Ulrich Dettweiler drei Tage lang mit Tagungsteilnehmern aus unterschiedlichen Ecken Deutschlands und Österreichs, was es mit der häufig als wenig erfreulich empfundenen Beschleunigung des modernen Lebens auf sich hat. In Vorträgen zur Geschichte der Beschleunigung, zur Dominanz der Jetztzeit in den Medien, zur Bedeutung von Eigenzeiten und zu Beschleunigung und Herrschaft wurde das Tagungsthema durch Zeit- und Tempoexperten aufgenommen. Dazu hatten die Studienpreisträgerinnen und -preisträger mehrstündige Workshops zum Zeitmanagement, zur Zeiterfahrung beim Pilgern, zur Überbrückung von Reisezeit durch Medieneinsatz im Flugzeug oder zu philosophischen Grundlagenfragen im Angebot.
Man begab sich also auf die “Suche nach der verlorenen Zeit”, um sie mittels Arbeistzeitkostenberechnung, ABC-Analyse und Tagesleistungskurven vielleicht doch wieder zu finden. Manch einen beschlich dabei die Frage, ob “Zeitmanagement” am Ende wieder nur ein neuer, Souveränität bloß suggerierender Euphemismus für den Zwang ist, heutzutage auch noch das letzte Quentchen freie Zeit “effizient” zu nutzen – oder war es “effektiv”? Auch die Frage, welche “Beschleunigungs-Agenten” mehr oder weniger under cover in der westlichen Gegenwartsgesellschaft für Tempo sorgen, ließ sich nicht abschließend klären. Einig war man sich im Plenum allgemein, dass Ökonomie und Technik hier eine Schlüsselrolle spielen.
Dies betonte auch Hartmut Rosa in seinem temporeich vorgetragenen Einführungsvortrag. Er unterschied zwei Arten von Beschleunigung: technisch beziehungsweise ökonomisch induzierte Beschleunigung einerseits, ablesbar insbesondere an der technischen Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, und andererseits eine dadurch verursachte soziale Beschleunigung auf Seiten der Individuen. Letztere fühlen sich, so Rosa, in der beschleunigten Gesellschaft wie auf einer “schiefen Ebene”. Durch ökonomische und technische Vorgaben gezwungen, sich permanent konkurrenzfähig zu halten und “up to date” zu bleiben, entstehe eine Situation, in der die meisten das Gefühl haben, jederzeit “abgehängt” werden zu können: “Wer nicht pausenlos nach oben rennt, sein Wissen aktualisiert, neue Kleider kauft, die neueste Software installiert, die Nachrichten verfolgt, den Körper trainiert, das Freundesnetz pflegt, kann seinen Platz nicht halten und wird von der über ihn hinwegrollenden Zeit begraben”. Prof. Dr. Inge Newerla vom Hamburger Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft unterstrich mittels Videobeispielen ihre Beobachtung, dass das Tempo der Medien in den letzten Jahren offensichtlich stark zugenommen hat. Videoclips und hohe Schnittfolgen seien dafür ein Indiz.
Schließlich machte Prof. Dr. Karlheinz Geißler am letzten Tag der Tagung auf den engen Zusammenhang von Zeit, Beschleunigung und Macht aufmerksam. Im Laufe der menschlichen Geschichte haben sich alle Arten von Zeitmessgeräten (von der Sonnen- zur Atomuhr) zu einem mächtigen Disziplinierungs- und Formierungsinstrument der jeweils Herrschenden entwickelt. Dass immer mehr Uhren inzwischen aus öffentlichen Räumen (Parks, Bahnhöfen, Flughäfen etc.) verschwinden, muss deshalb, so Geißler, nicht als Zeichen für eine neue Freiheit von der Zeit missdeutet werden. Wahrscheinlicher ist, dass wir die Zeit(-herrschaft) nur schon allzu gut verinnerlicht haben.
Wer angesichts derartiger Überlegungen jedoch an trockene Theorie und ausgelaugte Diskussionsteilnehmer denkt, liegt völlig falsch. Klanginstallationen und Videoarbeiten luden zum Verweilen, Nachhören und Nachsehen ein. Wer von den Teilnehmern zu den von musikalischer Früherziehung hinlänglich Geschädigten gehörte, konnte sich im Workshop von Martin Rohrmeier aus Bonn aktiv im Hören musikalischer Differenzen zwischen klassischer Musik und “flotten Beats” einüben. Das erstaunliche Fazit der dreistündigen akustischen Nachschulung lautete: Die Songs von Pop-Ikone Britney Spears sind so konstruiert, dass man an jeder beliebigen Stelle “einsteigen” (und auch wieder “aussteigen”) kann, ohne Wesentliches zu verpassen. Nicht nur bei Spears fehlt das, was die Klassiker stets berücksichtigten: Anfang und Ende sowie ein runder Spannungsbogen. Ob moderne Popsongs deshalb häufig so vor sich hinplätschern, weil sie damit dem Hang der Postmoderne nach Beliebigkeit und Unbestimmtheit entsprechen, konnte in der Kürze der Zeit zwar nicht abschließend geklärt werden, wäre aber sicher eine vertiefende Untersuchung wert.
Abseits davon stand die ganz persönliche Zeit- und (die Relativitätstheorie lässt grüßen!) Raumerfahrung auf dem üppigen Tagungsprogramm, das, nebenbei bemerkt, bei einigen Tagungsteilnehmern durchaus auch ein gewisses Gefühl der Überforderung und des Zeitmangels aufkommen ließ. Neben Exkursionen zum Bernrieder Landschaftspark, zur Klosterbrauerei Andechs, frühmorgentlichen Ki-Übungen auf der Seeterrasse des malerischen Tutzinger Schlosses mit Körperpsychotherapeutin Mignon von Scanzoni sowie einer Kanufahrt auf dem Starnberger See um halb sechs Uhr morgens, an der aus chronobiologischen Gründen lange nicht jede(r) Tempoworkshoper(in) teilnahm, blieb immer wieder Zeit zu Spaziergängen im zauberhaft schönen Schlosspark. Wie es sich für eine gute Tagung gehört, vermehrten sich proportional zur fortschreitenden Zeit die Einsichten, Kontakte wurden an der Hausbar bei einer Flasche Tutzinger Bier geknüpft und Freundschaften gepflegt, Gedanken ausgetauscht und in spätsommerlicher Atmosphäre auch ein wenig Urlaubsluft geschnuppert. Manch eine(r) nutzte die Mittagspause für einen Sprung ins etwa zwanzig Grad kühle Seewasser, das einst einem bekannten bayerischen Monarchen zum Verhängnis geworden war, der seiner Zeit zu entfliehen versuchte, indem er sich vor den Alltagsgeschäften in Märchenschlösser und Grotten zurückzog – um letztlich für verrückt erklärt zu werden (weil er nicht mehr zeitgemäß gewesen war?).
Wenn man die Zeit dazu hätte, könnte man noch eine gute Weile weiterschreiben, über das Bewegen in einer beschleunigten Welt, über Zeiterfahrung und Zeittheorien. Aber die Zeit drängt. Man will schließlich nicht ausrutschen auf der schiefen Ebene der Tempo-Gesellschaft. Deshalb steht am Ende – neben vielen offenen Fragen und einer Menge schöner Eindrücke – ein knappes Fazit: Über Beschleunigung nachzudenken, das Tempo der Zeit wissenschaftlich, künstlerisch, seelisch und körperlich zu verarbeiten und zu hinterfragen, ist nötiger denn je. Das Schöne dabei: In der richtigen Umgebung kann man, neben produktiven Ergebnissen, sogar sehr viel Spaß dabei haben! Das Einzige, was auch in Tutzing absolut gefehlt hat, war – man ahnt es schon – die nötige Zeit. Und die sollte man sich auf jeden Fall nehmen. Vielleicht reicht sie am Ende ja sogar dafür, Heideggers berühmtes, aber unvollendetes Zeitbuch wenigstens um das ein oder andere Kapitel zu ergänzen.
Links zum Thema
- Homepage der Evangelischen Akademie in Tutzing
- Homepage der Körber-Stiftung Hamburg
- Gesellschaft für Zeitpolitik
Zur Person
Christian Dries studierte Philosophie, Soziologie, Psychologie und Geschichte in Freiburg und Wien. Derzeit arbeitet er an einem UTB-Lehrbuch zur soziologischen Modernisierungstheorie.
Literatur
- Hannah Arendt (1960): Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München
- Peter Borscheid (2004): Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt/M.
- Karlheinz A. Geißler (2004): Alles. Gleichzeitig. Und zwar sofort. Unsere Suche nach dem pausenlosen Glück. Freiburg
- Martin Heidegger (1927): Sein und Zeit. Halle/Saale
- Fritz Reheis (2003): Entschleunigung. Abschied vom Turbokapitalismus, 1. Aufl., München
- Hartmut Rosa (Hrsg.) (2004): Fast Forward. Essays zu Zeit und Beschleunigung. Hamburg
- Peter Sloterdijk (1989): Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt/M.
- Peter Spork (2004): Das Uhrwerk der Natur. Chronobiologie – Leben mit der Zeit. Reinbek bei Hamburg
