Oktober 2004

Wieso weshalb warum, wer nicht fragt bleibt dumm!

Spurendokumentation

Nach Flugzeugkatastrophen und Eisenbahnunglücken lauten die ersten Fragen stets: Wieso? Weshalb konnte das nur passieren? Warum konnte dieser Unfall nicht verhindert werden? Auf diese Fragen zu antworten, ist selten einfach.

Die gefundenen Ursachen hängen nämlich mit der Sicht des Fragenden zusammen. “Das Eisenbahnunglück in Brühl beispielsweise. Auf den ersten Blick scheint es selbstverständlich, dass der Lokführer einen Fehler gemacht hat. Schaut man sich den Fall jedoch genauer an, so kann man auch zu einem anderen Schluss kommen. Tragen nicht beispielsweise die Verantwortlichen für die Ausbildung des Lokführers oder die Organisatoren der Baustelle zumindest eine Mitschuld?” stellt Gunnar Bosse, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung der TU Braunschweig fest. Er und sein Kollege Oliver Lemke beschäftigen sich mit der Frage, wie man die Ursachen von Eisenbahnunglücken möglichst genau herausfinden kann. Ihnen geht es nicht darum, im strafrechtlichen Sinne Schuldige zu identifizieren. Vielmehr versuchen sie, Ursachen für Ereignisse und damit Schwachstellen im System Eisenbahn zu identifizieren. Das Wissen darum ermöglicht es, so hoffen sie, zukünftige Unglücke zu verhindern.

Die Why-Because-Analyse
geht auf Peter Ladkin, Professor an der Universität Bielefeld zurück. Angeregt durch Unzulänglichkeiten in Unfallberichten entwickelte der studierte Mathematiker und Philosoph in den neunziger Jahren ein erstes Konzept der Why-Because-Analyse. Dieses wurde zunächst auf Luftfahrtunfälle angewandt. Neben der Erstellung des Why-Because-Graphen strebt Peter Ladkin an, die formale Richtigkeit des Graphen zu beweisen.

“Unser Ziel ist es, alle Ursachen eines Unfalls strukturiert zusammen zu stellen und diejenigen herauszufinden, die vermeidbar gewesen wären” umreißt Oliver Lemke das Vorgehen bei ihrer Forschungsarbeit. Die vermeidbaren Ursachen sind die Stellschrauben, um zukünftig ähnlich gelagerte Unfälle zu vermeiden. Ein neues Verfahren mussten die beiden Forscher für ihre Aufgabe nicht erfinden. Sie bedienen sich der Why-Because-Analyse. “Ausgehend von einem Unglück werden rückwärts – oder top down wie es in der Fachsprache heißt – , die Ursachen Schritt für Schritt identifiziert. Ein Ereignis wird nur dann als Ursache des Unfalls bezeichnet, wenn es unabdingbar notwendig für den Unfall war. “Wir fragen uns bei jeder potentiellen Ursache, ob der Unfall auch eingetreten wäre, wenn diese Ursache nicht existiert hätte” verdeutlicht Oliver Lemke den Untersuchungsprozess. In der Fachsprache werden Ursachen, die zwingend für ein Ereignis notwendig sind, als kausale Faktoren bezeichnet. Um sicher zu sein, dass man alle kausalen Faktoren für ein Ereignis gefunden hat, muss überprüft werden, ob sie hinreichend sind. Die beiden Wissenschaftler stellen dazu die Frage, ob bei einem Zusammentreffen der gefundenen kausalen Faktoren es immer wieder zu einem Unfall kommen würde. Nur wenn diese Frage bejaht werden kann, ist davon auszugehen, dass keine Ursache übersehen wurde. Hat man einen oder mehrere kausalen Faktoren ermittelt, wird versucht, wiederum deren Ursachen herauszufinden. Auch für diese muss die Kausalität gelten, also muss festgestellt werden können, dass sie zwingend notwendig für den betrachteten kausalen Faktor waren.

Spurendokumentation
Unfallexperten bei der Spurendokumentation an sichergestellten Weichen

Wie weit wird so eine Untersuchung getrieben? “Überspitzt gesagt, ließe sich der Zusammenstoß eines Personenzuges mit einem sowjetischen Panzer in der DDR auch auf die Machtergreifung Hitlers 1933 zurückführen” stellt Gunnar Bosse provozierend in den Raum und macht die Notwendigkeit, die Untersuchungen abzugrenzen deutlich. Er liefert umgehend die Erklärung: “Ein solcher, historisch sicherlich ableitbarer kausaler Faktor macht für die Sicherheitsarbeit keinen Sinn, weil er nicht im Einflussbereich des Systems Eisenbahn liegt.” Deshalb wird im Allgemeinen immer dann auf eine weitere Analyse eines kausalen Faktors verzichtet, wenn dieser in keiner direkten Abhängigkeit mit dem System Bahn mehr steht. Solche nicht weiter detaillierten Faktoren werden als Grundursachen bezeichnet. “Wichtig ist es, stets das Ziel der Analyse im Auge zu behalten. Wir möchten erreichen, dass das System Bahn noch sicherer wird. Deshalb sind für uns alle diejenigen kausalen Faktoren interessant, die innerhalb der oder zumindest an den Grenzen des Eisenbahnsystems liegen. Sind sie beeinflussbar, sind sie die Ansatzpunkte für Verbesserungen. Manche Faktoren hingegen sind nicht mehr beeinflussbar und müssen deshalb als unabdingbare Randbedingungen hingenommen werden.” erläutert Gunnar Bosse und fügt an “Schlechte Sicht wegen Nebels wäre ein Beispiel für so eine Randbedingung, mit der die Eisenbahn fertig werden muss.”

Analyse-Diagramm
Analyse-Diagramm
» vergrößern (PDF)

Die Ergebnisse der Analyse werden in einem Graphen, also in einer Art Diagramm dargestellt. Dies hat den Vorteil, dass sich der Betrachter schnell einen Überblick über das Ursachengeflecht eines Ereignisses verschaffen kann. Auch Laien sind bereits nach kurzer Zeit in der Lage, den Graphen zu interpretieren und die Zusammenhänge zu verstehen. Einen weiteren Vorteil einer grafischen Darstellung gegenüber einem Text erläutert Oliver Lemke: “Wir sind dazu übergegangen, Ursachen, die auf ähnliche Gründe, also beispielsweise das Versagen der Technik oder den Fehler eines Menschen zurückzuführen sind, mit gleichen Farben zu kennzeichnen. Auf einen Blick kann man so erfassen, wer oder was im Wesentlichen zum Ereignis beigetragen hat.

Gunnar Bosse
Gunnar Bosse

Nach weiteren Vorteilen der Why-Because-Analyse befragt, wird Oliver Lemke deutlich: “Bei uns fällt nichts unter den Tisch! Alle kausalen Faktoren werden gleich behandelt und bis zu den Grundursachen verfolgt. Erst dann interpretieren wir das Ergebnis. Ohne Anwendung einer strukturierten Methode kann es leichter passieren, dass Ursachen bereits frühzeitig als unwichtig nicht weiter berücksichtigt werden, obwohl sie bei näherer Betrachtung ganz wesentlich für ein Ereignis sein können.”

Oliver Lemke
Oliver Lemke

Auch wenn die Methode bereits an verschiedenen Unfällen angewendet wurde, besteht noch reichlich Forschungsbedarf. Oliver Lemke beschäftigt sich zurzeit damit, die im Graphen hinterlegten Ergebnisse für andere Anwendungen, also andere Programme nutzbar zu machen. Dazu entwickelt er eine Möglichkeit, die Informationen aus dem Graphen als Programmcode auszudrücken. Andere Programme können die so erzeugten Programmtexte lesen und entsprechend weiterverarbeiten.

Gunnar Bosse möchte zeigen, dass man die Why-Because-Analyse nicht nur zur Analyse des Unfalls im Nachhinein beim Vorliegen aller Fakten anfertigen kann. Seine Forschungsziel liegt in der Anpassung der Why-Because-Analyse zur Erfassung von Daten, Fakten und Informationen vor Ort. Seine Vorstellung ist ein wissensbasiertes Tool, das die Ermittler bei der Aufnahme eines Unfalls unterstützt und dazu beiträgt, dass nicht nur alle Indizien gefunden werden, sondern dass dies auch strukturiert geschieht.

Hintergrund 1:
Unfall Brühl

Hintergrund 2:
Die Machtergreifung Hitlers – Ursache für ein DDR-Zugunglück?

Hintergrund 3:
Eine andere Methoden zur Unfallursachen-Analyse: STAMP

Hintergrund 4:
Strafrecht versus Unfallursachenanalyse?

Beitrag von Birgit Milius

Links zum Thema

  • Institut für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherheit an der TU Braunschweig
  • Graph für das Ereignis in Brühl (Din A3, PDF)
  • Mehr Informationen zur Why-Because-Analyse inklusive vielen Beispielen
  • Informationen zu STAMP

Zur Person

Gunnar Bosse ist Mitarbeiter am Institut für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung (IfEV) der TU Braunschweig. Im Rahmen der Lehre für Studierende des Bauingenieurwesen beschäftigt er sich mit der Planung und dem Bau von Bahnanlagen. Das Interesse an der Unfallursachenanalyse als Forschungsthema wurde in Folge seiner Gutachtertätigkeit zur Aufklärung des ICE-Unglücks 1998 in Eschede. Seine Aufgabe war es damals, den Unglückshergang anhand der gefundenen Spuren zu rekonstruieren. Neben der Unfallursachenanalyse gilt sein Interesse der Beschreibung des Systems Eisenbahn.
Weitere Informationen: www.ifev.de/info/bosse

Oliver Lemke ist ebenfalls Mitarbeiter am Institut für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung der TU Braunschweig. Ihn interessieren vor allem die formalen Aspekte im Rahmen der Why-Because-Analyse.
Weitere Informationen: www.ifev.de/info/lemke

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