Januar 2005

Ansichten von der Kommandobrücke

Senator Willi Lemke
Senator Willi Lemke

Bei einem Vortrag in Freiburg gibt Bremens Bildungssenator Willi Lemke tiefe Einblicke in seine Schulpolitik – und seine ganz persönliche Auffassung, sie zu gestalten. Ein Porträt.

Bildungspolitik sei wie ein Tanker: groß, schwer, unbeweglich. Aus maximalen Kursänderungen folgten – zunächst – nur minimale Kursabweichungen im Wasser. Der Mann, der dieses Bild gleich mehrfach zitiert, ist seit 1999 Steuermann in Sachen Bildung und Wissenschaft in Bremen. Davor war er achtzehn Jahre lang „Schnellbootkapitän“, als Manager des Fußballclubs SV Werder Bremen: Willi Lemke, den meisten – nicht nur in seiner Wahlheimat – als ehemaliger Widerpart von Uli Hoeneß besser bekannt als in seiner aktuellen politischen Funktion als Senator, berichtet am 3. Dezember in Freiburg vor ausgewähltem Publikum von der Kommandobrücke. Zwei Stunden lang gewährt er dem Publikum tiefe Einblicke in die Arbeit eines Tankerkapitäns, der sein Schiff nicht nur auf Kurs halten, sprich: verwalten, sondern mit unermüdlicher Anstrengung auf einen neuen, besseren Kurs bringen will.

Willi Lemke
wurde 1946 in Pönitz/
Ostholstein geboren.
Nach dem Abitur studiert
er Erziehungswissen-
schaften und Sport in Hamburg.
» ganzer Text

Man merkt Willi Lemke in jeder Minute an, dass er mit dem Herzen bei der Sache ist. Er sei, so sagt man sich im Saal nach dem engagierten Vortrag, ein „Beseelter“. Geht es um die Erfolge, die seine Politik nach fünf Jahren Amtszeit aufzuweisen hat, um die große Schulreform etwa oder um die gezielte Förderung der Lese- und Lernschwachen, dann redet er sich systematisch in Fahrt. Sein Oberkörper neigt sich immer wieder ruckartig nach vorne, Arme und Hände sind ständig im Einsatz. Immer wieder wandert der ausgestreckte Zeigefinger an die Stirn, wenn Lemke Unverständliches und Absurdes anprangert. Lame Lehrer, zähe Verwaltung und mangelnder Arbeitseinsatz können ihn genau so krank machen, wie motivierte Pädagogen, elterliches Engagement und selbst persönlichste Lernerfolge ihn regelrecht elektrisieren. Schließt man während es Vortrags die Augen, so sieht man diesen Politiker in seinem Büro telefonieren, in die Schulen gehen, mit den Leuten vor Ort reden – niemals blasiert, niemals gelangweilt, immer in Bewegung, immer mittendrin.

Zu so viel Temperament gehört auch, dass Lemke sich gelegentlich vergaloppiert. Ein Satz hakt sich dann ohne Pause in den nächsten ein. Kleine Abschweifungen führen ab und an auf Seitenwege, die erst nach einer guten Weile wieder auf die Hauptstraße einbiegen. Dem Gesamteindruck tut das jedoch kaum einen Abbruch. Im Gegenteil. In zwei Stunden gelingt es Lemke, ein präzises, detailliertes Bild seiner Arbeit zu zeichnen. Seine Art zu denken und Bildungspolitik zu machen, lassen darüber hinaus so etwas wie einen neuen, zumindest einen anderen, einen eher ungewohnten und ungewöhnlichen Politikertypus erahnen. Ein Typus, so denkt man sich im Stillen, der Schule machen möge.

Obwohl in den siebziger Jahren als Parteisekretär des bremischen SPD-Landesverbandes auch mit den Niederungen des politischen „Geschäfts“ vertraut, ist Lemke kein Politiker in des Wortes negativer Bedeutung. Kein Parteisoldat, der seine Kreativität und seine Kritikfähigkeit auf der „Ochsentour“ durch den Parteiapparat hinter sich gelassen hat. Zwar schleichen sich auch bei ihm an diesem Abend ein paar stereotypische Floskeln und allzu vertraut klingende Plakatsätze ein. Den Eindruck können sie beileibe jedoch nicht zerstören, dass da einer sitzt, der seine neue Aufgabe ungemein persönlich nimmt; der sein Feld mit dem gleichen inneren Feuer und Ehrgeiz bestellt, wie achtzehn Jahre zuvor als Manager „seines“ Fußballclubs. Der aber, so wird im persönlichen Kontakt deutlich, auch nicht an seinem Sessel klebt, weil es für einen wie ihn viele reizvolle Aufgaben gibt. Vielleicht gewinnt man diesen Eindruck von Lemke, dem Politiker, weil in jedem Satz eben auch immer noch Lemke, der Manager, spricht, der seine Sache unbedingt gut machen will, ganz gleich, ob er auf dem fußballerischen Transfer- oder dem Bremer Bildungsmarktplatz agiert.

Und der ist in fünf Jahren Lemke gehörig in Bewegung geraten: Krebste die Hansestadt bei der ersten PISA-Studie noch am untersten Tabellenrand herum, ist sie nun bereits im Mittelfeld zu finden. Dies bestätigt zumindest ein von Rheinland-Pfalz initiierter Vergleichstest in Mathematik und Deutsch (VERA), dem sich auch die sechs anderen sozialdemokratisch regierten Bundesländer angeschlossen haben.

Doch bevor dieses „Etappenziel“ unlängst erreicht wurde, stand es nicht gut um den behäbigen Bremer Bildungstanker: Der Untertitel von Lemkes Vortrag in Freiburg lautete „Durch Investition in Köpfe die Zukunft sichern.“ Und in puncto Zukunftsinvestition, so Lemke, habe man in Bremen lange Zeit einiges falsch gemacht. „Mit der Gießkanne“ sei man von Schule zu Schule gezogen und habe Geld verteilt – so lange es vorhanden war. An Rückmeldungen, neudeutsch: Evaluationen, war man allerdings nicht interessiert. So versickerte viel Geld dort, wo es nicht gebraucht wurde oder niemandem zugute kam, der es dringender hätte brauchen können. Seit Lemke im Amt ist, gibt es die bremische „Gießkanne“ nicht mehr. Jetzt wird im wahrsten Sinne des Wortes in Köpfe investiert – und zwar, wenn möglich, in jeden einzelnen. So hat Lemke inzwischen beinahe alle seiner insgesamt 170 Schulen mindestens einmal besucht, was allerdings, wie er offen zugibt, im Vergleich zu einem Land wie Baden-Württemberg mit 14.000 Schulen auch ganz gut machbar sei. Seitdem aber weiß er, was „seinen“ Schulen wirklich zu schaffen macht. Für die Schwächsten gibt es in Bremen deshalb spezielle Fördergruppen, in denen sechs bis acht lese- und lernschwache Kinder innerhalb eines Jahres zwei, drei Notensprünge nach oben machen. Ohne diese „Investitionen“ wären solche Kinder verloren, rutschten womöglich sogar ganz nach unten ab, meint Lemke. Doch kein Kind soll in Bremen mehr „verloren“ gehen. Die ersten sechs Schulstunden werden dort garantiert gehalten. Sind nicht genügend examinierte Lehrerinnen und Lehrer verfügbar, springen Sozialpädagogen und sogar Therapeuten ein, die Theateraufführungen organisieren oder soziales Konfliktverhalten trainieren. Das heiße Eisen Gesamtschule hat Lemke in Bremen so angefasst, dass sich mancher Genosse ein Beispiel daran nehmen könnte. Anstatt sich in ideologischen Grabenkämpfen über pro und contra zu verlieren, hat er ein Schulmodell durchgesetzt, dass Hegels List der Vernunft alle Ehre macht: Neben der zur „Sekundarschule“ zusammengefassten Haupt- und Realschule und dem klassischen Gymnasium gibt es in Bremen auch die von konservativer Seit häufig inkriminierte Gesamtschule – auf freiwilliger Basis. Doch gerade diese Schulform werde inzwischen von rund 60 Prozent der Eltern präferiert, sagt Lemke verschmitzt. Wozu also der Bevölkerung aus parteipolitischer Überzeugung ein Schulmodell aufzwingen, für das sie sich auch freiwillig entscheidet, wenn man sie nur lässt? Nicht unwahrscheinlich, dass sich auch ein überzeugter Gesamtschulgegner dieser Argumentation kaum verschließen könnte. Auch in diesem Punkt liegt das womöglich daran, dass man im Reformwerk des im besten Sinne des Wortes „beherzten“ Sozialdemokraten auch die deutliche Handschrift des marktschlauen Managers entziffern kann.

Das gilt insbesondere für die Hochschulen, die Lemke zufolge möglichst autonom werden sollen. In interne Angelegenheiten mischt er sich nur ungern ein. Beschweren sich die Universitäten etwa über zu wenige Hörsäle, bekommen sie von Lemke schon einmal zu hören, dass sie ihre Veranstaltungen eben nicht nur von Dienstag bis Donnerstag, sondern auch Montag oder Freitag morgens um acht abhalten müssten. Auch hier hat das paternalistische Gießkannenprinzip ausgedient. Denn neben individueller Förderung steht bei Lemke das Fordern ganz oben auf der bildungspolitischen Agenda. Schließlich ist politische Steuerung nicht alles. Um im Bild zu bleiben: der Tanker fährt nur dann wirklich gut, wenn alle, Kapitän, Besatzung und Passagiere, eigenständig mit anpacken, wenn sie – in schwerem Gewässer – aus den vorhandenen, nicht immer üppigen Mitteln an ihrem jeweiligen Platz das Beste herausholen. Auch für diese Position erntet Lemke üppigen Beifall.

Nach dem Vortrag trinkt der Senator noch ein Bier und redet mit zwei, drei jungen Leuten aus dem Publikum. Er sei an diesem Abend deutlich länger geblieben als geplant, sagt er. Der Tankerkapitän verlässt sich eben nur ungern auf die automatische Navigation. Den Kurs gilt es mit vollem Einsatz durchzusetzen. Im direkten Gespräch, mit den Betroffenen, den im Dienst befindlichen Lehrern genau so wie den erst noch auszubildenden. Nur so lässt er sich eben ein gutes Stückchen bewegen, der Tanker Bildung, mit dem unsere Zukunft unterwegs ist.

Beitrag von Christian Dries
Bildquelle: Willi Lemke

Links zum Thema

  • Die Homepage des Senators für Bildung und Wissenschaft in Bremen
  • Der bremische Wissenschaftsplan 2010 (pdf)
  • Informationen zur bremischen Schulreform
  • Broschüre „Die neue Bremer Schule“ (pdf)
  • Link zu VERA

Zur Person

Christian Dries studierte Philosophie, Soziologie und Geschichte. Derzeit schreibt er an einem Lehrbuch zur soziologischen Modernisierungstheorie.

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