August 2005

Wie viel Vergessen ist normal?

Tau-Fibrillen
Tau-Fibrillen im Gehirn eines Patienten
Foto: www.alzheimers.org

Alzheimer ist mehr als „vergesslich werden“. Häufig wird die Erkrankung jedoch erst erkannt, wenn es bereits zu spät ist.

Hellblau sollte es sein. Henriette S. (Name von der Redaktion geändert) schloss die Augen und lächelte zufrieden. Dann schob sie ihre Lesebrille zurecht, fuhr sich etwas nervös durch das Haar und notierte etwas auf dem kleinen Notizblock: ein Sommerkleid, Bestellnummer 86628577 bei Peter Hahn. Jeden Tag stand die gleiche Nummer auf ihrem Notizblock. Und jeden Tag, wenn sie Besuch bekam, sagte sie: „Schau mal, Kind, was ich mir für ein schönes Kleid herausgesucht habe.“

Senile Plaques
Senile Plaques im Gehirn eines Alzheimer-Patienten sind unter dem Mikroskop sichtbar
Foto: www.alzheimers.org

Aber wirklich bestellt hatte sie es nie. Weil sie es bis dahin schon wieder vergessen hatte – genau wie die Existenz der Enkeltochter, die sie besuchte. Dann sagte sie zu ihrem Pfleger: „Und heute morgen, da war so eine junge Dame bei mir. Ich kannte sie ja gar nicht, aber sie war so nett.“

Extreme Vergesslichkeit ist nur eine der Facetten der Alzheimer-Erkrankung. Wutausbrüche, Persönlichkeitsveränderungen und Desorientierung gehören auch dazu. Die Krankheit betrifft nicht nur die Dementen selbst, sondern in besonderem Maße auch ihre Angehörigen, die mit dem gravierenden Wandel ihrer eigenen Eltern oder Großeltern nur schwer zurechtkommen. Häufig führt der Weg dann in ein Pflegeheim. Denn die Diagnose Alzheimer kommt, wenn überhaupt, meist zu spät.

Die verabreichten Medikamente Aricept, Exelon und Reminyl können die Symptome nur lindern und den mentalen Abbau verlangsamen. Stoppen kann die Krankheit bisher nichts. Einmal verlorene Geisteskraft kann nicht wieder gewonnen werden. Die Alzheimer-Demenz gilt nach wie vor als unheilbar.

Über 14 Millionen Erkrankte
Weltweit gibt es schätzungsweise 14 Millionen Alzheimer-Erkrankte, von denen über 60 Prozent in Entwicklungsländern leben. In Deutschland schätzt man über eine Million Fälle.

Aber wie erkennt man Alzheimer? Ist es nicht ganz normal, dass man mit höherem Alter irgendwie „vergesslich“ wird? Für Laien ist eine Diagnose fast unmöglich. In einer vom Meinungsforschungsinstitut TNS-Emnid durchgeführten Studie vom November 2004 gaben zwei Drittel der über tausend Befragten an, Persönlichkeitsveränderungen seien eine „normale Begleiterscheinung“ des Alterns – ein fataler Irrtum.

Denn diese Veränderungen sind eines der mittlerweile sehr klaren Merkmale dieses mentalen Leidens. Mit ausgeklügelten Testverfahren können Ärzte heute eine Alzheimer-Erkrankung mit fast völliger Sicherheit erkennen. Solche Tests werden beispielsweise unter dem Namen „Mini Mental Status Test“ (MMSE) standardisiert durchgeführt und können einen ersten Hinweis auf gestörte Gedächtnisfunktionen bieten. Durch Ausschluss anderer Ursachen, wie zum Beispiel Depressionen oder Vitaminmangel, kann man Alzheimer inzwischen mit bis zu 95-prozentiger Sicherheit diagnostizieren.

Vor hundert Jahren war das anders. Damals, im Jahr 1906, konnte der deutsche Neurologe Alois Alzheimer erst nach der Obduktion einer vollkommen verwirrten Patientin feststellen, dass diese Frau unter mehr als dem „normalen“ Vergessen gelitten hatte. Er fand kleine Herde über die Hirnrinde verstreut, die „durch Einlagerung eines eigenartigen Stoffes“ enstanden waren.

Test
Machen Sie einen vereinfachten Test zur Alzheimer-Diagnose (PDF).

Die Strukturen, die Alois Alzheimer im Gehirn seiner ersten Patientin fand, gelten auch heute noch als charakteristisch für die Erkrankung. Untersucht man das Gehirn eines Gesunden unter dem Mikroskop, so erkennt man normales Nervengewebe – Nervenzellen, die ein dichtes Geflecht bilden, ein einziges großes Kommunikations-Netzwerk.

Ein Alzheimer-Patient hingegen zeigt inmitten des gesunden Gewebes seltsame Ansammlungen von Eiweißpartikeln. Von diesen Ansammlungen gibt es zwei Varianten: einerseits die so genannten senilen Plaques, andererseits Faserbündel, die als Tau-Fibrillen bezeichnet werden. Beide beeinträchtigen offenbar die „normale“ Funktionsweise des Gehirns.

Nach bisherigem Wissensstand entstehen die senilen Plaques aus einem Vorläufermolekül, dem sogenannten Amyloid-Precursor-Protein (APP). Auch die Tau-Fibrillen werden aus einem Vorläufermolekül gebildet, allerdings auf einfacherem Weg. Während das APP erst „zurechtgeschnitten“ wird, bevor es sich zu krankmachenden Klumpen zusammenlagert, entstehen die Tau-Fibrillen einfach so, das heißt ohne „Zuschnitt“.

*
Was ist „Amyloid“ und wie verursacht es Alzheimer?
» Eine Animation.
(Flash, 134 KB; Quelle: www.solaris100.com)

Was aber ist daran überhaupt schlimm? Und wie führen solche winzigen Veränderungen im Gehirn dann zu so folgenschweren Fehlfunktionen? Der Australier Colin Masters hat bereits 1985 gemeinsam mit Konrad Beyreuther, einem Genetiker aus Köln, herausgefunden, dass die senilen Plaques im Wesentlichen aus einem Eiweiß namens Amyloid-ß-Protein bestehen. Und genau dieses Eiweiß scheint geradezu tödlich auf Nervenzellen zu wirken. Der Biologieprofessor Vernon Ingram vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat herausgefunden, dass sich Faserbündel aus Amyloid-ß-Protein an die Außenseite von Nervenzellen anlagern können, um sie dann langsam abzutöten. Was nach einem harmlosen Andockmanöver klingt, ist für die Nervenzelle jedoch eine Katastrophe: Sobald die Faserbündel die Zelle umschlungen haben, werden schlagartig kleine Poren aufgerissen – der Calciumhaushalt der Zelle gerät aus dem Gleichgewicht, bis sie schließlich abstirbt.

Ein 2-minütiger Film (RealMedia) zeigt den Fortschritt von Alzheimer im Gehirn:
» Breitband/DSL
» Modem/56K
Quelle: Alzheimer's Disease Education and Referral Center, www.alzheimers.org

Wenn das Gehirn eine einzelne Nervenzelle weniger hat, so ist das noch nicht weiter schlimm; aber wenn größere Hirnbereiche betroffen sind, dann können Informationen nicht mehr gespeichert oder ausgetauscht werden – der Patient entwickelt Alzheimer.

Da die giftigen Varianten des Amyloid-ß-Proteins eine solche zentrale Bedeutung haben, konzentriert sich ein Großteil der Alzheimer-Forschung auf sie. Gelänge es, die todbringenden Faserbündel irgendwie „schachmatt“ zu setzen, könnte man das Absterben großer Gehirn-Areale möglicherweise verhindern.

Doch das Thema ist komplex, und fast jeder Forscher hat seine eigenen Vorstellungen darüber, wie man Alzheimer therapieren könnte. Da gibt es die „klassischen“ Molekularbiologen, die die senilen Plaques und deren Entstehung erforschen; dann die Immuntherapeuten, die mit speziellen Antikörpern gegen die krankmachenden Proteine vorgehen wollen, und schließlich Leute wie Mark Tuszynski, die der Alzheimer’schen Erkrankung mittels Gentherapie zu Leibe rücken wollen.

 
Lesen Sie hier weiter:

  • Ein Faktor gegen das Vergessen
    Forscher aus Nordamerika sind bei der Bekämpfung der Alzheimer-Erkrankung einen großen Schritt vorangekommen. Sie haben Patienten gentechnisch veränderte Hautzellen ins Gehirn injiziert.
  • „Das deutsche System ist ohne jede Kontinuität“
    Ein Interview mit Armin Blesch, Assistant Professor in San Diego, über Alzheimer-Forschung in Amerika, Gentherapie, Immuntherapie und die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland.
  • „Eine Behandlung mit M1-Antagonisten ist nicht ratsam“
    Wie funktionieren die bisherige Alzheimer-Medikamente? Manchmal eher schlecht, als recht. Der Leipziger Hirnforscher Thole Züchner entdeckte jetzt, dass eine Gruppe von Medikamenten nur kurzzeitig hilft.
Beitrag von Christoph Scherber

Links zum Thema

  • Informationsmaterial: Fast alles über Alzheimer
  • Alzheimer-Früherkennung: Hirnliga e.V.
  • Weltgesundheitsorganisation: Alzheimer Disease International
  • Infomaterial von „Altern in Würde“
  • Europäische Alzheimer-Gesellschaft
  • Deutsche Alzheimer-Gesellschaft

Zur Person

Christoph Scherber (28) promoviert in Biologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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