„Die klassischen ‚Hochparabelflüge‛ sind nach wie vor die steilsten Karrieren.“
sciencegarden: Herr Genzel, haben es junge Wissenschaftler heute schwieriger, im Wissenschaftsbereich Fuß zu fassen, als Sie nach Ihrer Promotion?
Reinhard Genzel: Das glaube ich nicht. In dieser Beziehung hat sich wenig geändert; eine reine Wissenschaftlerkarriere im akademischen Bereich war auch vor zwanzig Jahren ein gewisses Risiko.
sg: Kann man aus Ihrer Sicht heraus noch zu einer Karriere im Wissenschaftsbereich raten, oder ist die Gefahr zu groß, im Endeffekt vor dem Nichts zu stehen?
RG: Sagen wir mal so, ich kann mich trotz der Vielzahl an Doktoranden oder Postdoktoranden in meiner Zeit bei Max-Planck an eigentlich keinen erinnern, der nach seiner Zeit hier arbeitslos geworden wäre. Für die meisten war die Doktorarbeit der Beginn einer wissenschaftlichen Karriere – sei es an einer Universität, einer außeruniversitären Einrichtung, oder beispielsweise in der Industrie; sei es im Inland oder im Ausland. Manche konnten ihre Promotionsarbeit fortsetzen, andere arbeiten in benachbarten Wissenschaftsfeldern.
sg: Aber dennoch: Wissenschaftliche Arbeitsplätze, vor allem in der Industrie, scheinen immer weniger zu werden. Teilen Sie diesen Eindruck?
RG: Sicherlich ist das wahr, wenn man industrielle Grundlagenforschung betrachtet. Das traurigste Beispiel für diese Tendenz ist Bell Telephone in den USA. Dort wurden bahnbrechende Entdeckungen wie der Transistor gemacht. Nobelpreisträger kommen von dort. Aber im Zug der Zerschlagung von AT&T und dem wirtschaftlichen Druck, der alles nur noch nach Halbjahreszyklen beurteilt, wurde jegliche Forschung der längeren Art unmöglich, da die Industrie meint, diese nicht mehr finanzieren zu können.
Das hat jedoch zur Folge – und das ist das Gefährliche – dass in bestimmten Bereichen die Erwartung wächst, dass die öffentliche Grundlagenforschung, also wir hier bei Max-Planck, in Bereichen forscht, wo in kurzer, das heißt absehbarer Zeit bereits industriell anwendbare Ergebnisse vorliegen.
sg: Wozu wird dies langfristig führen?
RG: Ich kann mir vorstellen, dass angewandte, industriell nutzbare Forschung in verstärktem Maße an dafür vorgesehenen Einrichtungen, ähnlich den Fraunhofer-Instituten, stattfindet. Ich kann mir aber auch einen anderen Fall vorstellen. Nämlich, dass Grundlagenforschung in Zukunft mehr durch industrielle Mäzenen und Stiftungen gefördert wird. Auch das ist nichts Neues. Denken Sie nur an die Medicis und Johannes Kepler!
Für die Max-Planck-Institute sehe ich es als wichtig an, dass diese weiterhin zuallererst langfristige Forschung leisten. Dass es Bereiche wie die Biologie gibt, wo die Ergebnisse der Grundlagenforschung schneller umgesetzt werden können als in anderen Fachgebieten, beispielsweise Physik oder auch Mathematik, ist selbstverständlich.
sg: Mit der Reduzierung der Industrieforschung werden wissenschaftliche Arbeitsplätze an den Universitäten umso begehrter. Die Einrichtung der Juniorprofessuren ist jedoch umstritten. Was halten sie von dieser Konstruktion?
„Tenure-Track“
Als „Tenure-Track“ wird im amerikanischen Sprachbereich eine Form der Laufbahn vor allem an Universitäten beschrieben.
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RG: Ich verstehe den Zweck und den Sinn einer Juniorprofessur noch nicht ganz. Entweder es ist eine „Tenure Track“ – Konstruktion, ähnlich der des „Assistant Professors“ in den USA. Dann muss dies aber auch bedeuten, dass man bei guter Performance und Evaluation nach einer gewissen Zeit eine feste Anstellung bekommt. Dieses Element ist ganz wichtig. Es ist nicht logisch, jungen Wissenschaftlern zwar die Verantwortung für eigenständige Arbeit zu geben und herausragende Ergebnisse zu erwarten, ihnen aber gleichzeitig keine Perspektive für die Zukunft zu bieten.
In der Physik gibt es viele Nachwuchsprogramme und unabhängige Nachwuchsgruppen. Daher ist die Juniorprofessur hier meines Erachtens nicht so wichtig. Bei langfristigen Projekten wie in meinem Fachgebiet ist es auch sehr schwierig, einen selbständig arbeitenden Wissenschaftler für eine nur relativ kurze Zeit in das Projekt einzubinden. Häufig dauert es ja bereits fünf, sechs Jahre, bis es richtig losgeht.
sg: Ein dritte Möglichkeit des Einstieges in den Wissenschaftsbereich können Stipendien, Förderungen im Rahmen von Graduiertenprogrammen oder ähnliches sein. Als Preisträger der Balzan-Stiftung 2003 konnten Sie selbst auf solche Art eine Nachwuchswissenschaftlerin fördern.
Balzan-Stiftung
Die Internationale Balzan-Stiftung wurde 1956 von Angela Balzan zu Ehren ihres Vaters gegründet.
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RG: Das von der Balzan-Stiftung vergebene Preisgeld ist zur Hälfte für die Nachwuchsförderung vorgesehen. Mit Hilfe dieser Mittel konnte ich eine junge Wissenschaftlerin, Frau Dr. Förster-Schreiber, einstellen und gleichzeitig mit ihr zusammen ein neues Forschungsprojekt, die Erforschung der Eigenschaften von Galaxien im frühen Universum, angehen. Dieses Projekt ist jetzt mit großem Erfolg kurz vor dem ersten Abschluss.
Übrigens ist Frau Förster-Schreiber ein gutes Beispiel für einen gelungenen, internationalen Karrierestart: Sie ist Deutsch-Kanadierin und hatte mich vor zehn Jahren von Kanada aus kontaktiert, und dann in meiner Gruppe ihre Dissertation gemacht. Danach ist sie als Postdoc in Frankreich und den Niederlanden gewesen. Die mir durch den Balzan-Preis zur Verfügung stehenden Mittel habe ich dann benutzt, um Frau Förster-Schreiber eine Rückkehrmöglichkeit nach Deutschland anzubieten.
sg: Das Beispiel der von Ihnen unterstützten Wissenschaftlerin zeigt, wie Diplom, Promotion, und Postdoktorat aufeinander aufbauen können. Worauf sollte man achten, wenn die Suche nach einer neuen Stelle ansteht?
RG: Auswahl! Informieren Sie sich! Die verfügbaren Informationen im Zeitalter des Internet sind unglaublich reichhaltig und gut.
Worauf man dann Wert legt, ob beispielsweise auf den renommierten Namen des Betreuers oder die Aktualität des Forschungsvorhabens, muss jeder selbst entscheiden. Ich bin stets dorthin gegangen, wo die aus meiner Sicht interessanteste und auch quantitativ erfassbar beste Forschung gemacht wurde.
sg: Sie haben nach der Promotion in die USA gewechselt. Empfehlen Sie einen solchen Wechsel auch heute noch?
RG: Absolut. Gehen Sie weg, weg, weg. Die klassischen Hochparabelflüge sind nach wie vor die steilsten Karrieren. Natürlich erfordern gerade Auslandsaufenthalte ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität. Die veränderte Beziehungssituation mit häufig zwei gleichberechtigt beruflich engagierten Partnern hat leider häufig eine gewisse Immobilität zur Folge.
sg: Haben sie ein Patentrezept für Paare, bei denen beide Partner engagiert berufstätig sind?
RG: Es ist ganz sicher ein „challenge“, wie die Amerikaner sagen würden, zwei Karrieren zu vereinen. Man muss entweder einen Kompromiss finden, oder aber den schwereren Weg gehen und sich so in der Situation arrangieren, dass beide sich beruflich entwickeln können. Meine Frau ist ebenfalls Akademikerin und heute Professorin. Trotz Kinder. Ihr Weg war sicher nicht einfach, aber im Nachhinein sieht sie es vor allem positiv.
sg: Gerade Positionen im Universitätsbereich sind häufig mit Lehraufgaben verbunden. Ist Lehre wichtig für Nachwuchsforscher?
RG: Absolut. Es gehört dazu, zu lernen, und sich und sein Fach zu präsentieren.
sg: Viele sehen darin ja nur eine Zeitvergeudung.
RG: Natürlich kostet Lehre unheimlich viel Zeit, aber man lernt auch viel dabei. Es ist letztendlich eine Frage, was ist möglich, wie effizient ist man, wie gut kann man seine Arbeit einteilen. Aber man muss auch aufpassen. Entscheidet man, sich vor allem um die Lehre zu kümmern, dann können im nächsten Schritt auf einmal die Veröffentlichungen fehlen. Für eine akademische Laufbahn zählt in erster Linie die Forschung.
sg: Um als Nachwuchsforscher gute und beste Forschungsergebnisse zu liefern, sollten die Rahmenbedingungen möglichst ideal sein. Was sind aus ihrer Sicht wichtige Eckpunkte, um solche Bedingungen zu schaffen?
RG: Wir brauchen ein internationales und flexibles Austauschsystem, welches Wissenschaftlern ein freizügiges Hin- und Her erlaubt. Nicht nur der Schritt ins Ausland muss möglich sein. Es muss die Perspektive geben, nach einer gewissen Zeit wieder zurückkommen zu können – natürlich nicht garantiert für eine Lebensstelle, aber überhaupt. Mein Zeithorizont damals in den USA waren zunächst auch nur zwei Jahre. Ich habe das Risiko, nicht wieder nach Deutschland zurückzukommen, bewusst in Kauf genommen. Aber viele scheuen das.
Auch brauchen wir mehr „Tenure Track“ – ähnliche Konstruktionen an den Universitäten, aber auch an Forschungseinrichtungen wie der Max-Planck-Gesellschaft. Nur so können wir jungen Forschern eine gewisse Sicherheit für die Zukunftsplanung vermitteln.
Nicht zuletzt muss die Industrie endlich lernen, dass auch ältere Wissenschaftler geeignet und interessant sind. Heute sind Wissenschaftler jenseits der 35 scheinbar überhaupt nicht mehr annehmbar. Die USA zeigt jedoch, dass es geht.
Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Das Problem, dass junge Wissenschaftler am Anfang der Karriere noch nicht wissen, ob sie in einer Anzahl Jahren auch wirklich eine Lebensstellung haben ist nicht abschaltbar. Man kann ihnen diese Unsicherheit nicht nehmen, man kann sie nur beruhigen, dass sich bei guten Leistungen, Flexibilität und ein bisschen Mut zum Risiko schon alles positiv entwickeln wird. Wir Deutschen leiden oftmals unter zu viel Risikoangst; diese ein bisschen abzustellen kann ich nur empfehlen.
sg: Herr Genzel, wir danken Ihnen recht herzlich für das Gespräch.
Links zum Thema
- Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching (München)
- Balzan-Stiftung