Codebrecher gesucht:
Eine Handschrift sucht ihren Meister
„Ein hässliches Entlein“ nannte es der Mann, der das Manuskript entdeckte und an die Öffentlichkeit brachte: der Antiquar Wilfried Voynich. Ständig auf der Suche nach neuen Raritäten kaufte er 1912 im italienischen Frascati eine mittelalterliche Dokumentensammlung. Darunter das Manuskript, das zwischen ledergebundenen Folianten in der Tat recht unscheinbar wirkt. Die Blätter sind klein, das Pergament dünn und die Zeilen gänzlich in Chiffren geschrieben. Niemand weiß, was sie bedeuten und wer sie schrieb. Denn die Schrift wehrt sich beharrlich gegen jeden Entschlüsselungsangriff auf Inhalt und Autor.
In der Kryptologie unterscheidet man grundsätzlich zwei Verschlüsselungsmethoden: die Chiffren und den Code. Beim Chiffrieren werden die einzelnen Buchstaben von Wörtern durch andere Buchstaben, Zahlen oder Symbole ersetzt. Beim Code passiert das mit ganzen Wörtern oder gar Satzteilen. Hierbei ändert sich daher der gesamte Satzbau, während er beim Chiffrieren erhalten bleibt.
Voynich war überzeugt, ein Werk des britischen Franziskaners Roger Bacon aus dem 13. Jahrhundert in Händen zu halten. Ein dem Manuskript beigefügter Brief von vermutlich 1665 scheint dies zu bestätigen. Johannes Marcus Marci von Cronland, seinerzeit Rektor der Universität Prag, bittet darin um Hilfe bei der Dechiffrierung und Bewertung der Schrift. Einst habe sie Kaiser Rudolf von Böhmen gehört, und auch der habe Bacon für den Verfasser gehalten.
Die Nähe zum Habsburger Regenten verwundert nicht weiter, sammelte er doch alle möglichen Skurrilitäten. Und auch die Figur Roger Bacons passt in das Bild. Denn der Universalgelehrte maß dem durch Erfahrung und Beobachtung gewonnenen Wissen ebensoviel Bedeutung bei wie dem Glauben. Zudem beschäftigte er sich mit Astrologie und Alchimi – Grund genug für den Vorwurf der Gotteslästerung. Für mehr als zehn Jahre verbat ihm die Kirche das Lehren und Schreiben. Es liegt daher nah, dass er seine Texte verschlüsselte, um sie argwöhnischen Augen zu entziehen.

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William Romaine Newbold, Sprachkundler und Professor für griechische Philosophie, behauptete 1919 als erster, den Schlüssel gefunden zu haben: ein mehrstufiges Chiffrier- und Codiersystem in Kombination mit Stenographie.
In jedem Buchstaben erkannte er winzige Striche und Schnörkel, die zusammen wie ein einzelner Buchstabe aussahen, in Wirklichkeit aber ein ganzes Wort darstellten.
Obwohl Newbold damals keine Erfahrung mit Kryptologie und Dechiffrierung besaß, präsentierte er bereits 1921 eine teilweise Übersetzung, die Roger Bacon als Urheber zu bestätigen schien. Von sich überzeugt und von der Presse gefeiert, mag Newbold durchaus mit ewiger Ehre und Ruhm geliebäugelt haben.
Dieser Traum platzte jedoch, als John Mathews Manly – ein erfahrener Codebrecher beim amerikanischen Militär – Newbolds Kurzschrift 1928 als über die Jahre verlaufene Tinte entlarvte. Noch posthum verlor Newbold jedes Ansehen als Wissenschaftler, und das Manuskript derangierte zum Freizeitvergnügen. Aus Angst, den Ruf zu verlieren, wollte sich kein Wissenschaftler mehr hauptberuflich damit beschäftigen.
Kunstsprachen setzen sich entweder aus vorhandenen Sprachstrukturen natürlicher Sprachen zusammen (z. B. Esperanto), oder sie basieren auf logischen Denk-Kategorien. Hierzu werden menschliche Erfahrungen in eine Art „Schubladensystem“ sortiert. Ein einziges Symbol kann dann für ganze Gedankengänge stehen.
Allerdings rätselt seit Newbold und Manly bis heute eine ganze Armada von Hobby-Dechiffrierern über den merkwürdigen Zeichen. Lassen sich die Buchstaben auch keinem bekannten Alphabet zuordnen, besitzt „Voynich“ doch wie jede natürliche Sprache eine erkennbare Struktur.
Einige glauben daher an eine fremde, „echte“ Sprache, andere an eine mehr oder weniger komplizierte Verschlüsselung, und wieder andere plädieren für eine frühe Kunstsprache.
Zahlreiche Abbildungen helfen, das Buch in sinnvolle Abschnitte zu gliedern, wenn sie auch den Buchstabendschungel nicht großartig lichten: Nackte Nymphen baden in grünlicher Flüssigkeit und entsteigen seltsamen Röhren, Seite an Seite mit nicht identifizierten Pflanzen und astrologisch-astronomischen Sterndiagrammen.
Das Werk hat viele Seiten: Es könnte als Handbuch über Botanik und Pflanzenheilkunde durchgehen, aber auch als universal-wissenschaftliche Kladde oder gar als das aus geistiger Umnachtung geborene Werk eines Schizophrenen – nichts davon lässt sich beweisen.
Bisher hat kein Wissenschaftler etwas anderes darin gesehen als Unsinn, obwohl das Manuskript einen zusammenhängenden Eindruck macht. Ging der esoterisch veranlagte Rudolf vielleicht einer Fälschung auf den Leim? Möglich, schließlich kaufte er oft alchimistischen Nonsens zusammen. Also alles ein historischer Scherz, um Leichtgläubigen das Geld aus der Tasche zu ziehen?
Ebenso könnte ein ganz anderer seine Finger im Spiel haben: Wilfried Voynich selbst, bei weitem kein Saubermann und ständig in Geldnöten. Der polnischstämmige Wahlamerikaner war Mitglied der Untergrundbewegung gegen das zaristische Russland und obendrein ein geschickter Passfälscher. Möglicherweise waren seine Antiquariate nur Tarnung und Geldquelle für seine politische Arbeit. Die notwendigen Geschichts- und Stilkenntnisse hätte der Literaturkenner zweifelsohne gehabt. Doch auch dies ist reine Spekulation.
Gewinn machte jedoch keiner der Besitzer des Manuskripts. Weder Voynich, noch der Buchhändler Hans Peter Kraus, der das Konvolut Anfang der sechziger Jahre zum Weiterverkauf von Voynichs Erben erwarb, konnte es versilbern. Niemand war bereit, die geforderten 160 000 Dollar zu zahlen – nach heutigem Schätzwert immerhin etwa 2,5 Millionen Dollar. Kraus schenkte es daher 1969 der Beinecke Bibliothek für seltene Bücher und Manuskripte der Universität Yale.
Was bleibt, ist eine Fülle verwirrender Theorien, die sich quer durch das mittelalterliche Europa ziehen. Ganz gleich, für welche wir uns entscheiden, sie bringt uns nicht näher an Autor und Inhalt des Buches heran. Vielleicht brächte eine genaue Altersbestimmung neue Hinweise auf das Jahrhundert, in dem Urheber und Verschlüsselungsmethode zu suchen sind.
Ausgerechnet hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn die Bibliothek sperrt sich gegen die Datierung. „Welchen Sinn macht es, etwas zu datieren, was doch keiner lesen kann?“, so Robert Babcock, der zuständige Kurator. „Außerdem hat noch niemand einen wissenschaftlichen Antrag dafür gestellt.“
Bei den ägyptischen Hieroglyphen vergingen dreizehn Jahrhunderte, bis man sie wieder deuten konnte. Die Voynich-Handschrift wartet erst acht. Sie kann also hoffen, dass auch sie irgendwann jemand liest.
Zur Person
Cornelia Reichert studierte in Bremen Geologie/Paläontologie. Nach einem Praktikum in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des DFG-Forschungszentrums Ozeanränder geht sie heute wieder zur Uni und studiert Wissenschaftskommunikation.
Literatur
- G. Kennedy/R. Churchill (2005): Der Voynich-Code. Das Buch, das niemand lesen kann. Berlin 2005 (Originalausgabe 2004: The Voynich Manuscript. London).
Umfassender Überblick über die Geschichte des Dokumentes, die verschieden Theorien über Schrift und Inhalt sowie über die Personen, die seinen Weg säumten. Ein spannendes Lesevergnügen – auch ohne Fachkenntnisse in Kryptologie.
