Vorsicht Einsturzgefahr!
Natürlich gibt es nichts, was in Deutschland nicht mustergültig geregelt wäre. So formuliert die Musterbauordnung von 2002: „Anlagen sind so anzuordnen, zu errichten, zu ändern und instand zu halten, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben, Gesundheit und die natürlichen Lebensgrundlagen, nicht gefährdet werden.“ Aber was ist eigentlich Sicherheit? Genaugenommen ist es eher ein Gefühl, das Gegenteil von Angst. Aber Bauingenieure sind keine Psychologen, sie können keine Gefühle bauen. Sie brauchen etwas Handfestes, etwas Berechenbares im wahrsten Sinne des Wortes.
Newton und die Schokolade –
Maßeinheiten im Bauwesen
Belastungen werden im Bauwesen in der Einheit Newton angegeben. Sie wurde nach dem britischen Wissenschaftler Sir Isaac Newton benannt.
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Man rechnet im Bauwesen mit der Sicherheit ein bisschen so wie im Bankwesen: Auf der Haben-Seite des Kontos sollte mehr vorhanden sein als Belastungen auf der Soll-Seite anfallen. Für Bauingenieure heißt das, dass ein Gebäude mehr aushalten muss als von ihm gefordert wird. Alle Teile eines Gebäudes, also Decken, Wände, Säulen, Treppen und so weiter, müssen allen denkbaren Belastungen widerstehen können. Belastungen sind zum Beispiel die Inneneinrichtung (in manchen Archiven können das tonnenschwere Panzerschränke sein), große Menschenansammlungen in Veranstaltungsräumen und natürliche Belastungen wie Wind oder Schnee.
Bauingenieure rechnen auf der einen Seite alle anfallenden Belastungen zusammen und auf der anderen Seite rechnen sie aus, was das Gebäude tragen kann. Diese Gebäudefestigkeit hängt natürlich vom Material und der Bauweise ab. Am Schluss muss die Festigkeit des Gebäudes größer sein als die Summe der Belastungen. In der Fachsprache nennt sich diese Rechnung „Bemessung“.

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Bauingenieure schnappen sich also den Entwurf vom Architekten und suchen Antworten auf viele Fragen: Aus was für einem Material sollen die Wände und Decken sein? Wie dick sollen sie werden? Wie viele und wie große Säulen stehen in den Räumen? Wie sollen die Räume genutzt werden: Bibliothek oder normales Büro? Hat das Haus ein Flachdach, auf dem besonders viel Schnee liegen bleibt oder ein geneigtes Dach? Wo soll das Gebäude stehen? In Oberbayern fällt mehr Schnee als am Niederrhein. Wenn die Rechnung ergibt, dass das Gebäude den Belastungen nicht standhält, müssen die schwachen Teile verstärkt werden. Dann fordern die Ingenieure zum Beispiel, dass mehr Eisen in die Betondecken gelegt oder die Stützen ein wenig dicker gemacht werden.
Bis vor etwa 15 Jahren hat man die Belastung, der ein Gebäude widerstehen muss, noch einfach mit einem Sicherheitsfaktor multipliziert und damit etwas erhöht – sicher ist sicher. Ein Beispiel: Der Stahlbeton-Deckenträger eines Gebäudes ist für Druckspannungen von 10,9 MN/m² ausgelegt. Belastungen verursachen Spannungen im Träger, die sich ausrechnen lassen (siehe Bild 1). Die Summe der Belastungen kommt im Beispiel auf 5 MN/m², zur Sicherheit multipliziert mit 1,75 gibt das 8,75 MN/m². 8,75 ist weniger als 10,9 – der Deckenträger ist sicher.
Ohne Restrisiko geht’s nicht
Für jedes Gebäude gibt es ein Gefährdungspotenzial. Gegen unerkannte Gefahren können keine Maßnahmen getroffen werden.
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Damit das ganze Gebäude sicher ist, müssen diese Nachweise für alle Gebäudebestandteile berechnet werden, also für alle Decken und Deckenträger, alle Stützen, alle Wände. Doch trotz dieser Berechnungen sind nicht alle Gebäude sicher. Hallendächer stürzen ein, Balkone fallen ab, Säulen knicken ein.
Zum Teil liegt das einfach daran, dass Fehler gemacht werden und ein bestimmtes Restrisiko immer bleibt. Aber auch das alte Vorgehen zur Berechnung von Gebäuden hatte seine Schwächen: Es erweckte den Anschein, dass die Belastungen und die Festigkeiten der Gebäude feste Werte sind und sich auf den Punkt genau angeben lassen.
Die Wirklichkeit sieht anders aus, zufälliger. Am leichtesten nachzuvollziehen ist das für die natürlichen Belastungen: Es gibt nicht den einen maximalen Wert für eine Schneebelastung auf Dächern, wie dieser Winter wieder bewiesen hat. Jeder Winter bringt eine andere Belastung mit sich und auch ein „Jahrhundertschnee“ könnte nächstes Jahr schon wieder übertroffen werden. Die Schneebelastung ist also kein fester Wert, sondern eine statistische Zufallsgröße (siehe Bild 2).

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Letztlich sind alle Werte in der Bemessung Zufallsgrößen, auch die Festigkeit von Holz, Beton oder anderen Materialien. Holz ist ein natürlich gewachsener Stoff, Beton wird aus mehreren Zutaten zusammengemischt und gegossen und nicht ein Bauteil ist exakt identisch mit einem anderen.
Deshalb wurde das alte Bemessungskonzept in den 1990er Jahren durch ein neues abgelöst, dass die zufälligen Verteilungen der Bemessungswerte berücksichtigt und deshalb „probabilistisches Sicherheitskonzept“ heißt. Das neue Konzept ist realitätsnäher und kippte die Vorstellung von hundertprozentiger Sicherheit. War die Aussage früher: „Die Gebäudefestigkeit ist größer als die Belastungen und damit ist das Gebäude sicher“, lautet sie heute korrekt: „Mit großer Wahrscheinlichkeit ist die Gebäudefestigkeit größer als die Belastungen.“

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Eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass Gebäudeteile bestimmten Belastungen nicht standhalten und sich dann beispielsweise ein Deckenträger stark durchbiegt oder bricht. Damit diese Versagenswahrscheinlichkeit, in der die Belastung größer wird als die Festigkeit, möglichst gering bleibt, kommt wieder der Sicherheitsfaktor ins Spiel. Bildlich gesprochen drückt er die beiden Wahrscheinlichkeitsverteilungen auseinander, damit sich ihre Überschneidungsfläche, die Versagenswahrscheinlichkeit, verkleinert.
Um das ganze noch komplizierter zu machen – oder anders ausgedrückt: um noch ein Stück näher an die Wirklichkeit heranzukommen – werden die unterschiedlichen Belastungen und Festigkeiten mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsverteilungen abgebildet. Schneefälle schwanken eben deutlich stärker als die Festigkeit von Beton.
Deshalb hat man sich auch von dem einen Sicherheitsfaktor verabschiedet und benutzt jetzt verschiedene „Teilsicherheitsbeiwerte“. Für stark schwankende Größen sind diese Teilsicherheitsbeiwerte höher als für Größen, die nur wenig schwanken. Die Kurve für die Schneebelastung „schiebt“ man mit einem größeren Teilsicherheitsbeiwert „weiter weg“ als die Kurve für das Eigengewicht des Gebäudes, das relativ konstant ist. Die Höhe der Teilsicherheitsbeiwerte unterscheidet sich auch nach dem Gebäudetyp: Die Betonhülle eines Kernkraftwerkes soll eine geringere Versagenswahrscheinlichkeit haben als die Lagerhalle eines Großhändlers.
Das neue Bemessungskonzept hat verschiedene Vorteile: Es ist transparent und macht deutlich, welche Belastung und welche Festigkeit wie in die Berechnung eingehen. Dabei orientiert es sich näher an den wirklichen Belastungen und Festigkeiten und deren natürlicher Streuung. Mit verschiedenen Teilsicherheitsbeiwerten werden für unterschiedliche Belastungen angemessene Sicherheitspuffer eingerechnet. Das kann das Bauen auch wirtschaftlicher machen: Für wenig schwankende Belastungen und Festigkeiten muss der Sicherheitsabstand nicht so groß sein – was letztlich geringere Baukosten bedeutet.
In besonders kritischen Fällen können hohe Sicherheitsbeiwerte aber auch die Versagenswahrscheinlichkeit minimieren. Nur das hundert Prozent sichere Bauwerk gibt es trotz alledem nicht.
Links zum Thema
- Forschungsgebiet „Sicherheit und Zuverlässigkeit von Baukonstruktionen“ des Instituts für Massivbau der TU Darmstadt
- Musterbauordnung von November 2002
- Normen und Vorschriften zur Bemessung von Bauteilen
- Fachzeitschrift für Bauwesen mit aktuellen Meldungen (z.B. 22.02.06 zum Sicherheitsrisiko der Bausubstanz und 23.02.06 zur Schwachstellenanalyse durch Baudokumentation)
Zur Person
Katrin Winkelmann hat an der TU Darmstadt Bauingenieurwesen studiert und 1999 mit ihrer Studie zur Beurteilung von Sicherheit und Risiko bei Vertikalverglasungen den Deutschen Studienpreis gewonnen.
Literatur
- J. Schneider (1994): Sicherheit und Zuverlässigkeit im Bauwesen. Stuttgart.
- O. Klingmüller/U. Bourgund (1992): Sicherheit und Risiken im Konstruktiven Ingenieurbau. Braunschweig..
