Grippe im Ei
Albert Osterhaus wird nicht müde. Immer wieder erklärt der niederländische Grippe-Forscher: „Wir müssen die Impfstoffentwicklung vorantreiben, die derzeitige Technologie reicht nicht.“
Er sagt das schon lange, doch nach dem deutschen Daueralarm seit dem ersten H5N1-Fall auf Rügen hat die Botschaft eine andere Bedeutung. „Was immer Regierungen sagen, sie haben Impfdosen bestellt – wenn wir von der momentanen Technologie abhängig sind, dann wird es im Pandemiefall so etwas wie eine Impfung in einem halben Jahr einfach nicht geben“.
Es gibt zwei Herstellungsverfahren. Für die jährliche, normale Grippe wird das so genannte „Reassortment“ eingesetzt. Impf-Prototypen für neue Varianten der Vogelgrippe werden von der WHO mit Hilfe von Gentechnik hergestellt.
Osterhaus, ein rastloser, energischer Mann, zeigte 1997 als erster, dass das Vogelgrippevirus H5N1 den Menschen infizieren kann. Die Übertragung von Mensch zu Mensch ist bisher nicht eingetreten. Doch auch wenn die Seuche derzeit nur eine Tierkrankheit ist – wahrscheinlich wird irgendwann eine Pandemie kommen, auch wenn nicht jetzt und nicht mit H5N1. „Natürlich müssen wir die Vogelgrippe jetzt eindämmen, müssen Nutzgeflügel impfen. Aber wir müssen auch den nächsten Schritt vorbereiten, an den Pandemiefall und die Impfung für Menschen denken“, sagt Osterhaus.
Seine Rechnung ist einfach. Die Grippeimpfung wird in Hühnereiern produziert. Jede Firma hat da ihre begrenzten Kapazitäten: so viele Hühner legen so viele Eier, ergeben so viele Impfdosen. Und weder kann man einem Huhn befehlen, mehr Eier zu produzieren, noch kann man plötzlich die maschinellen Möglichkeiten erweitern.
Wie viele Impfdosen, Herr Osterhaus, wären denn vorhanden? „Weltweit werden jedes Jahr etwa 300 Millionen Grippeimpfungen hergestellt“. Dabei enthält jede Spritze drei Wirkstoffe, dieses Jahr zum Beispiel gegen H1N1, H3N2 und Influenza B. Im Falle einer Pandemie müsste man aber nur gegen einen einzelnen neuen Stamm schützen, die Kapazitäten würden sich verdreifachen. Macht 900 Millionen Impfdosen im Jahr. Bei einer zweimaligen Impfung, die bei einem ganz neuen Stamm nötig wäre, hieße das: 450 Millionen Menschen könnten pro Jahr geschützt werden. Das entspricht nicht einmal 7 Prozent der Weltbevölkerung.
Wenn überhaupt diese Mengen hergestellt werden könnten. Denn wenn nur ein Rädchen im Getriebe klemmt, verschlechtern sich die Zahlen. Genau das wäre der Fall, wenn mit dem jetzigen H5N1-Stamm eine Pandemie ausbrechen würde.

Sobald ein neuer Subtyp eines Virus auftaucht, konstruiert die Weltgesundheitsorganisation WHO einen Prototyp für einen Impfstoff gegen genau dieses Virus. Mit diesem testen die Firmen ihre Produktionen – um Erfahrungen für den Ernstfall zu sammeln. Dieser Impfstoff wird wahrscheinlich nicht bei einer Pandemie eingesetzt werden, weil das Virus sich ja noch ändern muss. Aber es ist der Testdurchlauf.
Und im Moment erreichen die Firmen nur etwa die Hälfte der Produktion. Manchmal auch weniger. „Im Ernstfall wäre das schlimm, wir bräuchten länger, um die Impfdosen herzustellen“, nickt Elisabeth Neumeier, Leiterin der Virologie beim Sächsischen Serumwerk Dresden, einem Produktionswerk der Firma GlaxoSmithKline.
Warum ist der momentane Stamm so schwierig? „Da addieren sich viele Effekte“, meint Neumeier. „Das Virus vermehrt sich schlechter im Ei und wir verlieren bei der Aufreinigung ein bisschen mehr als sonst.“ Wenn das allen Herstellern so geht, addiert sich das zu einem immensen Produktionsverlust. Im Ernstfall müsste man versuchen, möglichst schnell ein neues Impf-Virus zu konstruieren.
Doch das dauert. Wie lange? Niemeier zuckt die Achseln. „Das hängt von den einzelnen Schritten ab“. Die neuen Prototypen für Impfstoffe werden in den Hochsicherheitslaboren der Weltgesundheitsorganisation WHO hergestellt. In der Regel dauert es etwa vier Wochen. In weiteren neun bis zwölf Wochen wird das neue Impf-Virus einem umfassenden Sicherheitscheck unterzogen. Dann wird es von der WHO versendet. Die Firmen „sähen“ es dann in ihre Eier, es vermehrt sich, die Eier werden eingesammelt, das Virus aufgereinigt, chemisch abgetötet und in Spritzen verpackt.
Und hier erst kommt das halbe Jahr ins Spiel, das von den Politikern genannt wird. „Von dem Zeitpunkt an, wo wir von der WHO das Saatvirus bekommen, brauchen wir etwa drei bis sechs Monate, bis wir die erste Charge ausliefern“, so Neumeier. Wenn alles gut geht, können dann weltweit die jährlichen 900 Millionen Dosen produziert werden – vorausgesetzt, das Virus ist nicht so schlapp, wie der derzeitige Prototyp.
Es gibt mehrere Lösungsansätze für das Problem. Zum einen kann durch Zusatzstoffe das Immunsystem alarmiert werden, zum Beispiel durch Aluminium. Dann wird weniger Virus pro Impfstoff gebraucht – macht mehr Impfdosen pro Ei. Die zweite Verbesserung wären Zellkulturen: Sie sind schneller expandierbar und könnten daher leichter an größeren Bedarf angepasst werden.
Der dritte Fortschritt wäre ein Universalimpfstoff. Die Idee: Die Grippeviren haben auf der Oberfläche nicht nur H- und N-Proteine, sondern auch das versteckt sitzende Protein „M20“. Es verändert sich viel weniger als H und N. Bisherige Forschungen zeigen, dass eine Impfung gegen M20 gegen mehrere Grippeviren schützt. Kritiker befürchten aber, dass sobald eine Impfung gegen M20 eingesetzt würde, ein Selektionsdruck entstünde und sich dieses Protein auch verändern würde. Doch bei einer auftretenden Pandemie könnte sie vielleicht das Schlimmste abwehren.