Juni 2006

Damit Europa nicht durch die Maschen geht

Die EU ist ein Koloss, der auf einem sensiblen Räderwerk basiert: Europaabgeordnete stützen sich zur Entscheidungsfindung auf ihre persönlichen Netzwerke, von denen Constanze Adolf in ihrer Dissertation ein facettenreiches Bild zeichnet.

Constanze Adolf ist überzeugt von der europäischen Idee. Ausländische Freunde und ihre Auslandssemester in Straßburg (Frankreich) und Odense (Dänemark) schärften das Bewusstsein der jungen Kulturwirtin für Situationen kultureller Fremdheit. Von Konflikt und Konfrontation möchte sie allerdings in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Damit steht sie im Gegensatz zu vielen ihrer Wissenschaftskollegen, die die interkulturelle Kommunikation als Minenfeld ansehen, auf dem man nur mit hartem Methodentraining und viel Übung bestehen kann.

Constanze Adolf
Constanze Adolf
» zur Person

Stattdessen zeigt die junge Frau, wie Menschen in Europa über Kulturgrenzen hinweg erfolgreich zusammen arbeiten können. Als Beobachtungsfeld hat Constanze Adolf einen ganz besonderen Mikrokosmos gewählt: das Europäische Parlament. Über die Zusammenarbeit der Euro-Parlamentarier schreibt Adolf ihre Dissertation mit dem Titel: „Interkulturelle informelle Netzwerke im Europäischen Parlament“. Die Studie entsteht im Rahmen des Doktorandenkolloquiums „Interkulturelle Kommunikation – Interkulturelle Kompetenz“, einem Kooperationsprojekt des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen mit der Professur für Interkulturelle Kommunikation der TU Chemnitz, das von der Hans-Böckler-Stiftung unterstützt wird.

Im Europaparlament sitzen 730 Abgeordnete aus nunmehr 25 Nationen. Die Karawane der Parlamentarier pendelt jedoch nicht nur zwischen Straßburg und Brüssel hin und her, sondern auch zwischen politischen Entscheidungsgremien und dem Wahlkreis – Experten für Atomenergie konfrontiert mit Fragen zur Zwerghuhnzucht.

Vielgestaltig sind die Schwierigkeiten, denen sich die Europaabgeordneten gegenübersehen. Sprachprobleme stellten noch das geringste Problem dar, lautet einer der Schlüsse der Diplomarbeit, die Constanze Adolf zu demselben Thema schrieb. Unzureichende Sachinformation kommt in dieser Position jedoch selten vor, berichtet Adolf. Im Gegenteil: „Was als Erstes auffällt, ist die riesige Informationsflut, die die Abgeordneten täglich zu bewältigen haben.“
Die wirkliche Herausforderung ist es, eine Entscheidung so zu treffen, dass Menschen aus 25 verschiedenen Ländern am Ende damit zufrieden sind. Adolf bringt das Dilemma auf den Punkt: „Ein Abgeordneter hat nicht die Chance, die Gesetzgebungsverfahren aller 25 Mitgliedsstaaten im Detail zu kennen, geschweige denn den Meinungsbildungsprozess wirklich zu erleben.“ Und sie analysiert weiter: „Für einen zufrieden stellenden Kompromiss sind aber gerade dessen Subtilitäten Gold wert.“ Solche Informationen erhält man jedoch nicht mit der Presseschau.

Nicht, dass es an gutem Willen mangele. Auch der Umgangston sei stets auf Höflichkeit bedacht, gaben die Beteiligten zu Protokoll. Nur: dass ein Finne ganz anders verhandelt als beispielsweise ein Italiener, empfinden auch die Mustereuropäer als extrem störend. Da erscheint es nur allzu menschlich, dass die – nach Nationalität getrennten – Flure der Abgeordnetenbüros gelegentlich zu Rückzugsorten werden; dort entlädt sich schon mal das Unbehagen über die eine oder den anderen Amtskollegen. Denn ein Gesprächspartner aus einer anderen Kultur verhält sich oft nicht so, wie Menschen es aus ihrer gewohnten Umgebung kennen. Der Einzelne fühlt sich in der Folge oft einflusslos, Gruppen oder Gremien kommen mit ihrer Arbeit entsprechend langsamer voran. Also zurück zur Minenfeld-Metapher der interkulturellen Begegnung?

Keineswegs! Das Europäische Parlament erarbeitet trotz der kulturellen und auch institutionellen Komplexität immer wieder erfolgreich tragfähige Kompromisse. Dabei spielt die traditionelle Partei- oder Fraktionsdisziplin augenscheinlich eine untergeordnete Rolle. „Vor jeder Abstimmung sucht man sich seine Mehrheit neu zusammen“, so Constanze Adolf. Die „überzeugten Europäer“ kehrten selbst in schwierigen Phasen immer wieder an den Verhandlungstisch zurück: „Ihre Überzeugung hilft ihnen, ihrer komplexen Aufgabe gerecht zu werden.“

Nicht gerecht wird diese Erklärung unter Berufung auf den europäischen Geist allerdings wissenschaftlichen Maßstäben, und so brütete die junge Forscherin einige Zeit über einem möglichen Zusammenhang zwischen der scheinbar unsystematischen Entscheidungsfindung und dem konstruktiven Umgang mit kultureller Komplexität.
Erst ein weiteres Praktikum bei einem Brüsseler Politikberater, der sich vorwiegend darum bemüht „die richtigen Leute zusammen zu bringen“, brachte Constanze Adolf auf den Kerngedanken ihres aktuellen Forschungsprojekts: Zu den Schlüsselqualifikationen der Straßburger Politiker gehört es, Netzwerke zu knüpfen.
Bald fand sie auch die passende Methode: Wissenschaftler erforschen die sozialen Kontakte älterer Leute mit Hilfe von Netzwerkdiagrammen. Warum sollte sich diese Methode nicht auch auf die Europarlamentarier im Brüsseler und Straßburger Institutionengeflecht anwenden lassen?

Constanze Adolf besuchte nach ihrem Praktikum 90 deutsche Europaabgeordnete aller Parteien, um die Daten für eine so genannte qualitative Netzwerkanalyse zu sammeln. Sie befragte die Abgeordneten zu ihren wichtigsten Handlungsfeldern. Außerdem wollte sie wissen, mit welchen Schlüsselpersonen sie in diesen Handlungsfeldern zusammentreffen. Auf DIN A-3 großen „Netzwerkkarten“ ließ die junge Forscherin ihre Probanden durch farbige Punkte auf einer Art Zielscheibe eintragen, wie nahe ihnen diese Kontaktpersonen stehen. Anhand des Diagramms entwickelte sich ein strukturiertes Interview, das weitere Informationen über die Art des Verhältnisses zu den genannten Personen lieferte. „Die qualitative Netzwerkanalyse gibt detailliert Aufschluss über die Rolle der einzelnen Ansprechpartner“, kommentiert die Autorin den Vorteil ihrer Methode.
Die Datenauswertung soll empirisch zeigen, welche ihrer Kontakte die Europaabgeordneten als besonders relevant für ihre Arbeit ansehen. An prominenter Stelle steht Adolfs vorläufiger Auswertung zufolge der heimische Wahlkreis. Ein Ergebnis, das der „gefühlten“ Distanz vieler Bürger zu den europäischen Amtsträgern widersprechen dürfte.

Außerdem zeigt die Netzwerkanalyse, auf welchem Wege und über welche Kontakte Europaabgeordnete ihren politischen Einfluss ausüben. Im EU-Institutionengefüge ist es für den Einzelnen unmöglich, jede Institution, jede Lobbygruppe und die Details aller beteiligten EU-Organe zu kennen. Kontaktpersonen treffen häufig eine Vorauswahl relevanter Informationen, und ermöglichen so überhaupt erst eine effiziente Vorbereitung auf schwierige Entscheidungen. Auf dem interkulturellen Parkett leisten sie allerdings einen noch wertvolleren Beitrag: Gerade Kontaktpersonen anderer Nationalität sind Mittler, die Vertrauen schaffen und Mentalitätsunterschiede überbrücken. Wer gleicher Meinung ist, bisher aber Zweifel an der forschen oder zu zurückhaltenden Art des Gegenübers hatte, findet so vielleicht zum Dialog.

Networking stellt im Europäischen Parlament eine konstruktive Reaktion auf kulturelle Fremdheit dar. Persönliche Netzwerke helfen den Abgeordneten, unüberschaubare soziale Situationen richtig einzuordnen. Sie dienen als Informationsfilter, Orientierungshilfe und Überlastungsschutz, ähnlich wie ein Freundeskreis. Sie bieten den Abgeordneten die Möglichkeit, trotz der jeweiligen Eigenlogik der Kulturen tragfähige Lösungen zu erarbeiten, ohne an den oft beschriebenen Klippen interkultureller Kommunikation zu scheitern. Netzwerke sorgen dafür, dass der Dialog in Europa lebendig bleibt – und gute Ideen den Europaidealisten nicht durch die Maschen gehen.

Beitrag von Christiane Zehrer
Bildquellen (der Reihenfolge nach): Constanze Adolf

Links zum Thema

  • Weitere Informationen zum Dissertationsprojekt von Constanze Adolf
  • Website des Europäischen Parlaments
  • Informationen der Bundeszentrale für politische Bildung zum Europäischen Parlament

Zur Person

Christiane Zehrer ist Redakteurin dieses Magazins.

Literatur

  • Dorothea Jansen (2003): Einführung in die Netzwerkanalyse: Grundlagen, Methoden, Anwendungen, 2., erw. Aufl. Opladen.
    Das Standardwerk der Netzwerkforschung.
Anzeigen
Anzeige
dle.icio.usMrWongbackprinttop

Suche

Online-Recherche

Suchmaschinen, Infos, Datenbanken » mehr

Wettbewerbe

Wettbewerbsdatenbank für junge Forscher » mehr

Rezensionen

Buchrezensionen der sg-Redaktion » mehr

Podcasts

Übersicht wissenschaftlicher Podcast-Angebote » mehr

sg-Newsletter


anmelden
abmelden
?

sg-News-Feed

Abonnieren Sie unseren News-Feed:

News-Feed
Add to Netvibes
Add to Pageflakes
Add to Google

Space-News

Aktuelle News bei Raumfahrer.net:
» 13. Dezember 2007
GRAIL - Neue Mission im Discovery-Programm der NASA
» 13. Dezember 2007
Saturn - Neue Erkenntnisse über seine Rotation
» 12. Dezember 2007
Atlantis: Fehlersuche beginnt
» 06. Dezember 2007
Atlantis: Kein Start mehr 2007!
» 06. Dezember 2007
Atlantis: Startverschiebung bestätigt

sg intern

Anzeigen

BCG
Infos | Events | Kontakt


Deutscher Studienpreis