Die Grenzen menschlicher Hochleistungsganglien sprengen…
Stellen Sie sich vor, Sie haben die Patentlösung für alle gegenwärtigen Weltprobleme entwickelt. Da Sie den mächtigsten Mann der Welt als besten Ansprechpartner erachten, wollen Sie sich mit diesem Fundstück an George W. Bush wenden. Glauben Sie, diese Kontaktaufnahme wird Ihnen nicht gelingen, weil der einflussreichste Ihnen bekannte Politiker lediglich Mitglied im örtlichen Stadtrat ist?
Nein, mit ein bisschen Überlegung und Geduld wird es Ihnen möglich sein, dem US-Präsidenten Ihr Geschenk an die Welt zu überreichen. (Ob Ihre Kontaktaufnahme tatsächlich die Welt retten wird, steht dabei selbstverständlich auf einem anderen Blatt.) Die Überlegung zum Erreichen Ihres Ziels namens Bush lautet: Wer ist der beste erste Ansprechpartner für Ihr Anliegen? – Und da eignet sich ein Mitglied im örtlichen Stadtrat gar nicht mal so schlecht. Geduld ist notwendig, denn auch dieser Mensch – sofern er willens ist, eine Lösung für Ihr Anliegen zu finden – benötigt Zeit.
Über maximal sechs, wahrscheinlich sogar nur über drei Ecken, sollte es Ihnen möglich sein, Bush zu erreichen: über vermittelnde Menschen, über „Verbindungsmänner“ – keine Frage, dass dies auch Frauen sein können. Im weltweiten Netz der Menschen lässt sich eine Art Kontakt-Domino-Effekt in Gang setzen. Konkret: Ihr Stadtratsmitglied könnte in einem günstigen Augenblick jemanden ansprechen, der die Kanzlerin kennt und anspricht, und diese spricht dann den US-Präsidenten an. Sie sehen, die Kontaktkette, könnte sogar sehr kurz sein.
Alles nur ein unbrauchbares Gedankenspiel ohne Realitätsbezug? – Nein!
Sozionik ist ein Kunstwort, eine Synthese aus Soziologie und Informatik.
Zu den Forschern, die solche und ähnliche Fragen vom Trockendock der Theorie in die – zugegeben: zunächst simulierte – Realität tragen, zählt der Privatdozent Dr. Thomas Kron (35) am Institut für Soziologie der FernUniversität in Hagen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter eines interdisziplinären DFG-Schwerpunktprogramms mit dem Titel Sozionik – Laufzeit: 1999 bis 2005 – widmete er sich unter anderem Fragen des so genannten Small-World-Networks. Eine dieser Fragen lautet: „Wie ist es möglich, dass man auf der ganzen Welt jeden Menschen mit maximal sechs Schritten erreichen kann?“ So eben auch George W. Bush.
Hochleistungsganglien zählen zu den Wortschöpfungen, die die Autorin dieses Beitrags – stets auf der Suche nach interessanten Formulierungen – irgendwann irgendwo aufpickte und in ihre Sammlung aufnahm. Sie stehen für neurophysiologische Voraussetzungen kognitiver Hochleistungen.
Das Verfahren, das hinter der Sozionik steckt, ist die computergestützte Sozialsimulation. Diese dient dazu, gesellschaftsrelevante Formen von Multikomplexitäten, Multikausalitäten und nicht-linearen Dynamiken nachzubilden, beziehungsweise treffender: zu prognostizieren. Selbst noch so gebildete und lebenserfahrene Menschen können diese Zusammenhänge mit bloßer Gedankenkraft nicht erfassen. Kron lässt sich zu einer saloppen Beschreibung der Grenzen menschlicher Hochleistungsganglien verleiten: „Der Mensch ist unfähig, komplexe soziale Prozesse insbesondere nicht-linearer Art zu erkennen, geschweige denn vorherzusehen. Sobald mehr als zwei wechselseitig wirkende Parameter beteiligt sind, ist der Mensch schlichtweg überfordert, und alles wird chaotisch in seinem Kopf.“
Die Netzwerkstruktur, die das Fundament der kurzen weltweite Wege und zugleich eines der Hauptforschungsfelder des Sozionik-Projekts darstellt, ist gekennzeichnet durch zwei Charakteristika. Diese führen dazu, dass eine solche Struktur extrem robust und überlebensfähig ist: Erstens, es gibt einige wenige Netzwerkknoten (Clusterungen). Zweitens, die Strecke von einem Netzwerkknoten zum anderen ist schnell zu überwinden. „Soziologisch formuliert“, erläutert Kron, „bedeutet das: Globalisierung plus Gemeinschaftlichkeit.“ Beispiele für solche Small-World-Netzwerke sind das Netz internationaler Großflughäfen oder auch das Internet mit seiner überschaubaren Anzahl an Hauptrechnern. Ein nach diesem Prinzip organisiertes System bricht nicht zusammen, wenn ein Netzwerkknoten defekt ist, sondern versagt erst dann, wenn alle Clusterungen gleichzeitig außer Gefecht gesetzt sind.

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Aber wozu dienen all diese wissenschaftlichen Erkenntnisse? Der Soziologe Kron antwortet: „Ein großer Teil der sozionischen Forschung ist sicherlich ohne unmittelbaren praktischen Einfluss. Es handelt sich um Grundlagenforschung, die wir betreiben. Gleichwohl gewinnen wir auf diesem Wege Erkenntnisse, die – mittelbar –auf die Gesellschaft zurückwirken.“ Dabei handelt es sich nicht nur um spielerisch-faszinierende Computersimulationen wie das Beispiel vom kurzen Weg zu Präsident Bush, sondern auch um Anwendungsfelder von hoher praktischer Relevanz. So können über das Modell des Small-World-Networks beispielsweise Katastrophen simuliert werden, ohne dass – einmal abgesehen von dazu notwendigen Forschungsgeldern – nennenswerte Kosten entstehen: Angenommen, eine Seuche breitet sich aus, und es muss nun entschieden werden, welche Großflughäfen geschlossen werden sollen, um die Gefahr zu bannen. Diese Fragestellung lässt sich computergestützt beantworten.
Ein anderes Beispiel für das Einsatzgebiet soziologischer Computersimulationen ist das so genannte Bystander-Dilemma: Warum greifen Menschen nicht ein, wenn vor ihren Augen ein Fremder angegriffen, geschlagen, vielleicht sogar getötet wird? Bei computergestützten Nachmodellierungen derartiger Notfallszenarien wird deutlich, dass lediglich zwei von fünf Sozialcharakteren helfen werden: der Homo Sociologicus, der die Norm verinnerlicht hat, in Notlagen zu helfen, und der Held in Form des Identitätsbehaupters. Doch auch diese beiden Sozialcharaktere helfen nur, wenn sie in nahezu idealtypischer Reinform auftreten – eine Voraussetzung, die in der Realität selten erfüllt ist. Der Vorteil der PC-Simulation liegt nun auf der Hand: Sozialcharaktere lassen sich – realitätsadäquat – quasi per Schieberegler mischen. Auf diese Weise lässt sich die interessante Frage beantworten, wie groß der prozentuale Anteil des Homo Oeconomicus (Motto: „Ich helfe nur, wenn es mir einen Nutzen bringt.“) an einem Sozialcharakter sein muss, damit der an sich dominierende Homo Sociologicus nicht mehr bereit ist zu helfen. Krons Antwort klingt ernüchternd: „Schon bei einem Mischungsverhältnis von 90% Homo Sociologicus zu 10% Homo Oeconomicus hilft der computersimulierte Akteur nicht mehr. Ergo ist Helfen sehr unwahrscheinlich.“ Was die Empirie leider bestätigt.
Zu guter Letzt: Wie läuft interdisziplinäre Projektarbeit? Die Zielsetzungen der am Sozionik-Projekt beteiligten Wissenschaftler waren zuweilen divergierender Art. Die Informatiker, in diesem Fall personalisiert durch Peter Dittrich (Jena) und Christian W.G. Lasarczyk (Dortmund), erhofften, soziologische Mechanismen kennen zu lernen, um darauf aufbauend flexible und robuste informatische Systeme entwickeln zu können. Die Soziologen hingegen betrachteten die Informatik vor allem als Dienstleistungswissenschaft, die technische Tools entwickelt, mit denen sie dann weiterarbeiten können. Vor dem Hintergrund völlig unterschiedlicher Fach- und Denkkulturen verwundert es nicht, wenn Kron rückblickend befindet: „Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis alle Projektmitarbeiter in Ansätzen dieselbe Sprache sprachen. Andererseits war das auch ein interessanter wechselseitiger Lernprozess. Da treffen wirklich Kulturen aufeinander, und wie das so ist: Wenn man in eine andere Kultur kommt, kann man eine Menge lernen.“
LuSi steht für den im Sozionik-Projekt entwickelten Luhmann-Simulator, ein Simulationsprogramm, das u.a. der computergestützten Untersuchung der Dynamiken von Small-World-Networks dient.
Nach Niklas Luhmann, dem großen soziologischen Systemtheoretiker, ist die Gesellschaft wie sie ist, eigentlich hoch unwahrscheinlich. Aber sie funktioniert trotzdem! Und genau dies fasziniert die Informatiker an der Soziologie. Die Soziologie wiederum wählt für intransparente Sozialzusammenhänge allzu gerne diffuse Worte, mit denen die Informatiker nichts anfangen können. Als Beispiel dafür nennt Kron den soziologischen Grundbegriff der sozialen Ordnung: „Der Informatiker fragt, woran er soziale Ordnung erkennen könne, welches Maß es für soziale Ordnung gebe. Wenn er eine funktionierende Simulationssoftware entwickeln soll, bedeuten offene Fragen fast zwangsläufig Lücken im Programm. Also ist das Nachhaken des Informatikers berechtigt. Aber das Problem ist, dass wir Soziologen kein intersubjektiv anerkanntes Maß für soziale Ordnung haben.“ Im Tandemprojekt müssen solche amorphen Grundbegriffe der Soziologie dann erst operationalisiert, das heißt messbar gemacht werden. Im konkreten Fall könnte das Ausmaß sozialer Ordnung beispielsweise über eine bestimmte Anzahl gesellschaftsweit verwendeter und auch verstandener Symbole ermittelt werden. „Die Konstruktion eines interdisziplinären Simulationsprogramms wie etwa LuSi, Luhmann simuliert, ist verdammt harte Arbeit, denn wir Soziologen sind dabei gezwungen, keine Fragen offen zu lassen.“ so Kron.
Aber: Diese harte Arbeit lohnt sich, denn sie trägt dazu bei, dass wir die uns umgebende Welt noch ein Stückchen besser verstehen – und bei Bedarf zuversichtlich genug sind, die Mächtigen dieser Welt kontaktieren zu können.
Links zum Thema
- Homepage des Sozionik-Projekts
- Homepage von Professor Duncan J. Watts an der Columbia University
- Startseite zum Small World Project, einem Mitmach-Projekt
Literatur
- Buchanan, Mark (2002): Small Worlds. Spannende Einblicke in die Komplexitäts-Theorie. Frankfurt am Main und New York.
- Dörner, Dietrich (2003): Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek bei Hamburg (5. Auflage).
- Kron, Thomas (Hrsg.) (2002): Luhmann modelliert. Sozionische Ansätze zur Simulation von Kommunikationssystemen. Opladen.
- Kron, Thomas/Christian W.G. Lasarczyk/Uwe Schimank (2003): Doppelte Kontingenz und die Bedeutung von Netzwerken für Kommunikationssysteme. In: Zeitschrift für Soziologie, 2003, Heft 5, Seite 374-395.
- Kron, Thomas (2005): Der komplizierte Akteur. Vorschlag für einen integralen akteurtheoretischen Bezugsrahmen. Münster.
- Watts, Duncan J. (2004): Six Degrees. The Science of a Connected Age. New York u.a.