„Phæno“ – Wissenschaft zum Anfassen oder: Wo Besucher Schatten fangen
Eileen, Jessica und Nadine stehen in einem dunklen Raum. Eigentlich ist nichts zu sehen, nur die schweren Vorhänge und eine Wand. Außerdem eine Kamera, die man aber nicht sofort bemerkt. „Gleich geht’s los“, sagt die eine und lächelt wissend. „Was denn?“ fragt die andere, aber da ist es schon passiert: Es blitzt einmal hell auf, das war’s. Dann schauen sich die Kids um: „Cool!“ ruft Nadine. Hinter den dreien ist ihr Schatten an die Wand gebannt. Wie gefroren bleibt er einige Zeit sichtbar. „Voll genial! Gleich noch mal!“ Die Siebtklässlerinnen aus Celle sind nicht auf einem Jahrmarkt, sondern mit ihrem Erdkundelehrer im Rahmen eines Projekttags unterwegs. Die kleine Kabine, in der sie stehen, ist eine Experimentierstation mit dem Namen „Gefrorene Schatten“. Und diese befindet sich in einem äußerst futuristischen Bauwerk – dem „Phæno“ in Wolfsburg, ein „Science Center“ der besonderen Art.
Phæno – Die Experimentierlandschaft
Willy-Brandt-Platz 1 in Wolfsburg, direkt neben dem ICE-Bahnhof
Info-Telefon für Besucher:
0180 – 10 60 600 (bundesweit zum Ortstarif)
Öffnungszeiten und Ticketpreise unter www.phaeno.de.
Schon von außen wird klar: Jetzt kommt etwas ganz anderes. Gigantisch thront eine von konischen Füßen getragene zackige Konstruktion über dem Platz, wie ein seltsam fremdes, monströses Insekt. Lange Rolltreppen führen durch einen Fuß nach oben in den Bauch der architektonischen Kreatur. Über dem Eingang schwebt ein überdimensionales Perpetuum Mobile mit rollenden Kugeln. Dann öffnet sich der Raum, 9000 Quadratmeter „Wunderwelt der Wissenschaft“.
Ein lauter Ort an diesem Vormittag. Fußgetrappel, Kinder, die sich rufen, Gejohle, ein lauter Knall. Es klingelt, hämmert, rattert, sirrt, rauscht. Aber nicht nur die Ohren, sondern auch die Augen, der Tastsinn, die Nase sind gefordert. Staudämme werden gebaut, riesige Wellen in einem Glastank erzeugt, ein Wasserball auf einem Luftstrom durch Metallringe transportiert. Viermal in der Stunde pustet ein Mitarbeiter am Eingang einen fünf Meter hohen Feuertornado in die Luft.
„Experimentierlandschaft“ nennt sich das Phæno und macht seinem Namen alle Ehre. Anfassen ist Prinzip. Es darf, nein, es soll gedrückt, gezogen, gedreht werden. Herumtoben gehört auch dazu. An einer Station im Themenbereich „Materie“ nimmt ein Junge Anlauf und rennt mit vollem Karacho gegen eine Wand, die mit einer Matte abgefedert ist – wie bei einem Crashtest wird der Aufprall gemessen. In einer anderen Ecke jagen zwei kleine Mädchen kichernd Lichtlinien hinterher, die in ein Feld auf dem Boden projiziert werden – doch die Linien sind immer schneller als sie, verändern sich mit ihren Bewegungen. Es sieht aus, als ob sie vor den Mädchen davonlaufen. Sie zeigen den persönlichen Raum einer Person, die „Boundary Functions“.

© phæno /
Rainer Jensen
250 solcher Experimentierstationen hat das Phæno. Wer hier mit den Händen in den Hosentaschen herumsteht und Schilder liest, ist fehl am Platz. Besucher müssen sich auf Spielerisches, auf das Ausprobieren einlassen – ganz anders als in „den anderen langweiligen Museen“, sagt Eileen. Gerade Wände, Vitrinen mit Exponaten oder einen Rundgang sucht man hier vergebens. Jeder kann sich seinen eigenen Weg durch die große Halle bahnen, systematisch nach Themen oder eher assoziativ. Anfang ist überall. „Phæno ist ein nichtlineares Netzwerk“, erläutert Dr. Wolfgang Guthardt die Gestaltung des Raums. Guthardt selbst hatte Ende der neunziger Jahre als Kulturdezernent die Idee für ein Wissenschaftsmuseum in Wolfsburg. Heute verantwortet er als Direktor das 80-Millionen-Projekt.
Eileen, Jessica und Nadine springen, winken und hopsen mittlerweile vor einer Leinwand auf und ab. Mit ihren Armen zeichnen sie wilde Kreise in die Luft. Auf der Fläche entsteht ein Gemälde aus leuchtenden, psychedelischen Farben und Formen. Sie stehen vor dem Exponat „Erinnerungen“ von Ed Tannenbaum, das ihre Bewegungen einfriert und als Einzelbilder sichtbar macht. Es ist eines von rund 40 Kunstwerken, die – eigens von verschiedenen Künstlern für das Phæno entwickelt – in die Ausstellung integriert sind. Dann pesen sie zur nächsten Station. „Das ist super, man kann sich einfach das aussuchen, was Spaß macht“, sagt Eileen und ihre beiden Freundinnen nicken. Meistens probieren sie gleich alles aus. Wenn sie nicht weiter wissen oder alles getestet haben, liest eine den anderen beiden vor, was sie da gerade gesehen und gehört haben.

© phæno /
Rainer Jensen
Weil man alles selbst entdeckten kann und muss, sind kleine Erfolgserlebnisse vorprogrammiert. Zum Beispiel bei der Übung „Seilzüge“. In der Mitte einer runden Fläche steht ein kleiner roter Hocker, an dem drei Seile befestigt sind. Die Seile werden mit einer, zwei oder drei Rollen umgelenkt. Eileen springt in die Mitte, setzt sich hin, Jessica und Nadine testen, mit welchem Seil sie ihre Freundin am besten ziehen können. Nadine, die kleinste, zieht an dem Seil, das dreimal umgelenkt wird. Der Hocker beginnt zu rutschen. „Genial, da können auch Kleine die Großen ziehen!“ ruft sie begeistert und zerrt Eileen ein kleines Stück vorwärts. „Mit drei Rollen klappt’s am besten.“ Prinzip „Flaschenzug“ durchschaut!
Die Stationen müssen dabei einiges aushalten – gerade die Jugendlichen gehen nicht eben zimperlich mit den Exponaten um. Wenn doch einmal etwas kaputt geht, werden die ramponierten Stücke in den hauseigenen Werkstätten verarztet. Ein bisschen funktioniert Phæno dabei wie ein Baukasten: Man kann Stationen den Platz wechseln lassen oder neu zusammenstellen. „Manch einer wird aber richtig böse, wenn er sein Lieblingsstück nicht findet. Viele möchten ihren mitgebrachten Freunden oder Verwandten gerade diese Station zeigen“, erläutert Wolfgang Guthardt.

© phæno / Rainer Jensen
Aber nicht nur Kinder und Jugendliche haben hier ihren Spaß. Im grauen Kostüm mit schwarzer Handtasche sieht Erika Klein eher aus, als wolle sie ins Theater. Aber auch die 71-Jährige steht an einer Station – der „verstärkten Brücke“. Hier kann sie durch das Laufen auf einer Holzplanke austesten, wie sich Seitenteile auf die Stabilität auswirken. Denn die Seiten des Bretts lassen sich hochklappen, so dass ein U-Profil entsteht. Frau Klein wartet, bis sie allein ist. Dann steigt sie auf die plane Planke, erst vorsichtig, dann mutiger, und balanciert über das Brett. Es hängt in der Mitte stark durch. Die Seitenteile hochzuklappen, ist allein nicht ganz einfach, aber es geht. Sie hält sie fest und tritt nochmals auf das Brett – es ist deutlich stabiler. Eine Gruppe Jugendlicher kommt angelaufen. Nun hat sie keine Ruhe mehr, zieht sich zurück, schlendert weiter. Und während sie nach dem Motto „learning by doing“ an die Sachen herangeht, liest ihr Mann Günter erst einmal mit ernster Miene das Schild, das sich neben jeder Station findet und das jeweilige Phänomen erklärt.
Das ist ganz typisch: Die Großen lesen, die Kleinen handeln. Viele Erwachsene laufen mit einem Plan in der Hand durch das Gebäude. Sie sprechen auch öfter als die Kinder die so genannten Phæno(wo)men an, die für alle Fragen und Hilfestellungen zur Verfügung stehen.
Zu ihnen gehört auch Jeannette Schmid – eine Biologin mit zwei Leidenschaften: Wissenschaft und Sprech- und Bewegungstheater. Das Wissenschaftstheater, räumlich ein Krater mit schrägen Wänden, ist ihr Hauptarbeitsplatz. Hier führt sie die Kinder durch die „Gas-Show“. Sei es die Kraft des Luftdrucks oder die Wirkungsweise des Stickstoffs – Interaktivität ist oberstes Prinzip: „Wer kann mir denn hier einmal behilflich sein? Freiwillige vor“, ruft sie in die vollbesetzte Runde. Kein Problem, einen Assistenten zu finden. Gleich mehrere Kinderhände schnellen hoch. „Applaus für den ganz Mutigen!“
Ein kleiner Junge im weißen Pulli ist der Auserwählte. Er darf eine Rose in flüssigen Stickstoff halten. Der Junge ist ganz bei der Sache. „So, nun hol’ die Rose wieder heraus“, sagt Jeanette Schmid. „Und fass’ sie ruhig einmal an.“ Sie zerbröckelt. Ein Raunen, „Ahs“ und „Ohs“ gehen durch die Ränge. Gefriertrocknung anschaulich gemacht.

© phæno / Rainer Jensen
„Der Job ist wunderbar. Ich bin in Kontakt mit Menschen und wenn ich erkläre, dann entdecke ich jedes mal mit“, schwärmt die 45-Jährige. Bei den Kindern ist Experiment und Spiel zumeist noch eins. Mit dem Erwachsenenwerden verliert sich diese Lust am eigenen Experimentieren und Spielen bei vielen Menschen. Wissen und die Meinungen anderer werden wichtiger; das eigene Tun verliert an Bedeutung. „Wir sprechen aber den Spieltrieb im Menschen an. Und dem kann sich kaum jemand entziehen“, beschreibt Direktor Guthardt das Phæno-Konzept.
Dass diese Rechnung aufgeht, sieht man auch bei Günter und Erika Klein. An der Station „Jeder ist Du und Ich“ wird der Gatte seiner Frau zum Versuchsobjekt. In diesem Teil, der auf dem Hochplateau liegt, dreht sich alles um „Licht und Sehen“. Die beiden sitzen sich an einem halbtransparenten Spiegel gegenüber. Frau Klein steuert das Experiment, er schaut erwartungsvoll. „Oh, jetzt sehe ich’s!“ ruft Frau Klein plötzlich und lächelt: Ihre beiden Gesichter verschmelzen durch den Lichteinfall zu einem Gesicht. Bei den Lichtexperimenten ist sie die Aktive, bei den mechanischen er. An der 15 Meter langen „großen Feder“ bleibt er lange stehen. An einem Ende ist die Feder fixiert, am anderen ist ein Hebel angebracht, mit dem sie zu Quer- oder Längsschwingungen gebracht werden kann. Wie auf einer überdimensionalen Gitarrensaite lassen sich so Ausbreitung, Reflexion und Interferenz von Wellen beobachten. Und das möchte Herr Klein doch einmal ausprobieren: Erst bewegt er den Hebel ganz bedächtig hin und her, dann immer kräftiger – bis er richtig mit vollem Karacho an der Feder ruckelt – die beiden schmunzeln. Da ist es also: Das Spielkind.
Gekommen sind die beiden übrigens wegen der Architektur, nicht so sehr wegen der Experimentierwelt. „Wir finden den Bau wirklich ganz wunderbar. Und hatten im Vorfeld schon viel darüber gelesen“, sagt Erika Klein. Geschaffen hat das skulpturale Gebäude die englische Stararchitektin Zaha Hadid. Im Innenraum gehen Krater, schiefe Aufgänge, Terrassen, ein Hochplateau und „unterirdische“ Ecken ineinander über, so dass sich immer wieder neue Ausblicke und Perspektiven ergeben. Der Blick nach draußen öffnet sich an einigen Panoramafenstern. Sonst: Kleine Bullaugen, die eher dekoratives Detail sind als Ausguck ins Draußen. Erika Klein blickt vom Plateau auf die unter ihr liegende Experimentierfläche, dann hoch unter die „Decke“, die keine ist. Wie ein Netz überspannt die fächerförmige Dachkonstruktion aus Stahlträgern die Phæno-Welt. „Wirklich beeindruckend“, murmelt sie. „Aber wenn wir schon einmal hier sind, dann will ich natürlich auch die Stationen sehen“, fügt ihr Mann hinzu. Er ist Physiker und findet die Experimente sehr anregend. „Für die Jugendlichen ist es oftmals mehr Spielzeug“, meint Klein.
Doch reine Unterhaltung ist das Phæno auch für die Kleineren nicht. Eileen, Nadine und Jessica sitzen total begeistert in der „Gas-Show.“ Wenn die Seifenblasen auf CO2-Schwaden tanzen, werden die Mädchenaugen groß. Und hinterher sind alle drei überzeugt: „Das ist total gut für Chemie und auch Physik. Dann können wir uns mal mehr melden.“ Nach der Show springen sie auf und sausen quasselnd zum nächsten Abenteuer. Es gibt ja noch so viel zu entdecken im Wissenschaftswunderland von Wolfsburg.
Links zum Thema
- Homepage des Phæno mit zahlreichen Informationen zum Programm, zur Architektur und allem Drum and Dran
