Dezember 2006 / Januar 2007

„Dieser Zug endet dort...“

*Die Deutsche Bahn AG entledigt sich ihrer Verantwortung, um kapitalmarktfähig zu werden – zum Nachteil von Fahrgästen und Beschäftigten.

Seit Anfang November herrscht Gewissheit: Um die im Jahre 1994 eingeleitete Bahnreform zu vollenden, geht die Deutsche Bahn (DB) AG an die Börse. Bis spätestens 2009 sollen in einem ersten Schritt 24,9 Prozent des Bahnbetriebs in die Hände privater Anteilseigner überführt worden sein.
Doch wenn der ehemals größte Arbeitgeber der Bundesrepublik aufs Börsenparkett geht, wo Marktmechanismen am wirkungs- und oftmals auch am verhängnisvollsten greifen, dann verheißt das für die Fahrgäste nichts Gutes.

Am 1. Januar 1994 trat das Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens in Kraft. Aus der formellen Privatisierung ging die Deutsche Bahn AG hervor, deren Alleineigentümer bis heute der Bund ist. Erst wenn mit dem Börsengang mehrheitlich private Anteileigner gefunden wurden, ist auch die materielle Privatisierung vollzogen – und damit die Preisgabe unmittelbarer staatlicher Handlungsmöglichkeiten.

Bundesweit wurden seit Reformbeginn 455 Strecken stillgelegt, das Streckennetz somit von ehedem 42.800 auf 34.200 Kilometer gekürzt. Es ist damit bereits zum jetzigen Zeitpunkt nur noch so lang wie die westdeutschen Schienenwege von 1952. Trotzdem soll der Rückzug aus der Fläche weiter voranschreiten. Räumlich und zeitlich verlängerte Anfahrtswege sind schon jetzt vielerorts die Folge.
Landstriche, die von Wirtschaftszentren entfernt liegen, sind für die privatrechtlich organisierte Bahn zunehmend unattraktiv. Statt mit einem breiten Angebot an Regional- und Nahverkehrszügen möglichst „viele Fische am Verkehrsmarkt zu fangen“, konzentriert sich die DB AG auf eine spezifische Klientel: „Die neuen Götter des Bahnmanagements sind die Geschäftsreisenden, die Laptopper, die Handymen, die First-Lounge-User und die City-Hopper“, so Winfried Wolf, Sprecher der Initiative „Bürgerbahn statt Börsenbahn“.
Die Abkehr von einer Flächenbahn wurde seit Hartmut Mehdorns Amtsantritt als Konzernchef im Dezember 1999 forciert, obwohl langfristig maximal ein stagnierendes, wahrscheinlicher sogar eher ein rückläufiges Fahrgastaufkommen im Fernverkehr zu erwarten ist.

Die nahezu bundesweite Einstellung des – wohlgemerkt profitablen – InterRegio ist ein weiterer sichtbarer Beleg für die Konzentration auf den Hochgeschwindigkeitsverkehr – und eine folgenschwere Fehlentscheidung: Der InterRegio garantierte mit mehr als 420 Zügen ein nahezu flächendeckendes attraktives Schienenangebot zwischen mehr als eintausend deutschen Groß-, Mittel- und Kleinstädten. Das Kalkül der Bahnverantwortlichen, die 68 Millionen jährlichen Fahrgäste zur Nutzung der teureren, oftmals aber lediglich umlackierten IC- und EC-Züge zu bewegen, ging nicht auf. Stattdessen sind die Verkehrsmarktanteile im Fernverkehr rückläufig.
Ebenso fatal dürfte das derzeitige Vorhaben sein, bis 2010 zwei Drittel der Zugflotte als ICE fahren zu lassen.

Tim Engartner
Tim Engartner

Ein weiteres zentrales Merkmal des Bemühens, die Kapitalrendite durch den Abbau des Anlagevermögens zu steigern, sind die zahlreichen Bahnhofsschließungen sowie die mehr als 1.200 Bahnhofsverkäufe seit Reformbeginn. Viele dieser ehemaligen Bahnhöfe – sofern nicht zum Abriss freigegeben – werden aufgrund der Um- und Rückbauten ihrer eigentlichen Funktion als Zu- und Abgangsstellen zum Schienennetz nicht mehr gerecht.
Zahlreiche Empfangshallen büßen durch die Veräußerungen an Privatinvestoren ihren Charakter als öffentliche Räume und Kulturdenkmäler ein. Die Forderung nach einer flächendeckenden Aufwertung der Bahnhöfe zu attraktiven Städte- und Gemeindezentren verhallte auch in der jüngeren Vergangenheit meistens ungehört.
Zahlreiche Gebäude sind von nüchternem Funktionalismus geprägt und versprühen wenig Charme – woran die in Waschbeton eingefassten Durchgänge ebenso Schuld tragen wie die vielfach unzureichende Beleuchtung und die Ballung von Discountern und Imbissläden im Bahnhofsinneren.

Marode oder an Privatinvestoren veräußerte Bahnhofsgebäude in Klein- und Mittelstädten lassen darüber hinaus den Wandel des „Unternehmens Zukunft“ (Eigenwerbung) zum international agierenden Mobilitäts- und Logistikdienstleister erkennen.
Insgesamt 210 Marken führt die DB AG gegenwärtig unter dem Konzerndach, darunter das Logistikunternehmen Stinnes, den Reiseanbieter Ameropa, den Bahn Shop 1435, die Nuclear Cargo & Service GmbH, den DB Auto-Zug, die DB-Carsharing, den Luftfrachtspezialisten Bax Global sowie den größten europäischen Fahrradverleih namens Call a Bike. Was die Markenarchitektur vermuten lässt, zeigt sich in der Neuausrichtung des Konzerns: der Wandel vom Schienentransporteur zu einem integrierten Logistikkonzern mit mehr als 1.500 Standorten in 150 Staaten.
Der Bahnverkehr als ursprüngliches Kerngeschäftsfeld verliert dramatisch an Bedeutung: Zu Lande, zu Wasser und in der Luft – nur nicht auf der Schiene, ließe sich sagen.

Personenkilometer errechnen sich aus der Anzahl der beförderten Personen multipliziert mit der von ihnen zurückgelegten Entfernung in Kilometern. Sie sind der verlässlichste Maßstab, um die Personenbeförderungs-
leistung zu messen.

Mittlerweile erzielt der letzte große bundesdeutsche Staatskonzern mehr als 60 Prozent seines Gewinns mit bahnfremden Leistungen, denn die DB AG ist nicht nur zum größten Straßenspediteur Europas aufgestiegen. Unter Hartmut Mehdorn avancierte das Unternehmen auch zum zweitgrößten Luftfrachttransporteur der Welt.
Gemessen in Personenkilometern je Einwohner können die staatlich (!) organisierten Bahnen in zahlreichen Nachbarstaaten wie der Schweiz, den Niederlanden und Frankreich signifikant höhere Verkehrsleistungen aufweisen als die DB AG hierzulande.
Die Kapitalmarktorientierung der DB wiederspricht nicht nur den Bestimmungen des Art. 87e Abs. 4 GG, wonach den Verkehrsbedürfnissen der Allgemeinheit beim Aus- und Neubau des Schienennetzes Rechnung getragen werden muss. Ferner bleibt denjenigen der Zugang zu öffentlichen Verkehrsleistungen verwehrt, denen es an den notwendigen finanziellen Ressourcen mangelt – ein fataler Selektionsmechanismus, da ein wachsender Personenkreis von Erwerbslosen, Auszubildenden, Studierenden sowie älteren Mitbürgern in Folge fehlender Zahlungskraft auf keinen alternativen Verkehrsträger ausweichen kann.
Aber auch Millionen von Berufspendlern sind betroffen. Sie mussten in den vergangenen zwei Jahren gleich dreimal eine Anhebung der Fahrpreise hinnehmen. Zum 1. Januar 2007 wird nun nicht allein die Pendlerpauschale für die ersten 20 Entfernungskilometer gestrichen. Zeitgleich sollen die Preise im Fernverkehr abermals angehoben werden, und zwar um 5,7 Prozent – was größtenteils der dreiprozentigen Mehrwertsteuererhöhung geschuldet ist.

Der Rückzug aus der Fläche, die Ausdünnung der Fahrtakte, die Abschaffung des InterRegio, das Festhalten am Personalabbau (und die damit sinkende Servicequalität im Fahrkartenverkauf), die erneute Anhebung der Fahrpreise und die breit angelegte Veräußerung von Bahnhöfen und bahnnahen Liegenschaften (die sich unter anderem als großflächige Park and Ride-Parkplätze nutzen ließen) – das alles steht in deutlichem Gegensatz zu den Bedürfnissen und Wünschen der Fahrgäste nach flexibel nutzbaren, preiswerten und pünktlichen Zügen.
Wenn das Unternehmen weiterhin auf eine börsentaugliche Schrumpf- statt eine bürgerfreundliche Flächenbahn setzt, werden Bahnfahrer in den Zügen künftig noch häufiger als bislang die Durchsage vernehmen müssen: „Dieser Zug endet dort, Fahrgäste bitte alle aussteigen.“

Beitrag von Tim Engartner.

Links zum Thema

  • Ein weiterer Artikel zur Bahnreform von Tim Engartner in der Frankfurter Rundschau
  • Tim Engartner zur Bahnreform in jungeWelt

Zur Person

Tim Engartner, Studienpreisträger 2006, hat in Trier, Oxford und Köln Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert. Derzeit promoviert er an der Universität zu Köln als Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Privatisierung des deutschen und britischen Bahnwesens.

Literatur

  • Heinz Dürr (1998): Privatisierung als Lernprozess am Beispiel der deutschen Bahnreform. In: Horst Albach (Hrsg.): Organisationslernen – institutionelle und kulturelle Dimensionen. Berlin.
  • Tim Engartner (2006): Von der Bürger-Bahn zur Börsen-Bahn. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 9, S. 1121-1129.
  • Henrik Paulitz (1993): Geschäfte erster Klasse. Die Bahnreform als Ende der Verkehrspolitik. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 12, S. 1487-1493.
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