Das Netzwerk der Angst
Wie geht es Ihnen, wenn Sie eine Spinne sehen? Oder eine Schlange? Wird Ihnen im Fahrstuhl mulmig? Bringen Prüfungen Sie um den Schlaf? – Wenn ja: Willkommen im Club! In den deutschsprachigen Ländern soll es rund 17 Millionen Menschen mit Angsterkrankungen geben. Vermutlich sind etwa 25 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens von einer Angststörung betroffen. Zumindest eine oder auch mehrere Phobien haben viele von uns. Nun sind wir natürlich nicht alle schwer angstgestört. Denn dazu müssen die Gefühle nicht nur unangemessen stark, häufig und anhaltend erlebt werden; sie müssen auch die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Bei den meisten Phobien, wie etwa der vor Spinnen, ist das nicht der Fall.
Übertriebene Angst hat oft wenig mit wirklichen Gefahren zu tun. Befürchtet ein Mann, jeden Moment sterben zu können, obwohl er erst Mitte 30 und kerngesund ist, ist die Angst unbegründet. Geht eine junge Frau im Sommer nicht aus dem Haus, weil sie glaubt, eine Wespe könnte sie in den Mund stechen und sie müsse dann qualvoll ersticken, wird man ebenfalls stutzen. Menschen mit Angststörungen sind dabei keineswegs prinzipiell furchtsam. Vor tatsächlich gefährlichen Dingen haben sie nicht unbedingt mehr Angst als andere.
Davon abgesehen hat Angst nicht nur negative Seiten – ganz im Gegenteil ist sie zugleich eine große Quelle schöpferischer Leistungen. Wie wir unser Leben gestalten, was wir aus ihm machen, ist nicht nur von unseren Wünschen, sondern auch unseren Ängsten beeinflusst. Viele berühmte Persönlichkeiten litten unter Angststörungen: Charles Darwin etwa hatte Panikattacken und entwickelte Angst vor dem Reisen und blieb nach der ersten Weltumseglung lieber zu Hause, wo er dann die Evolutionstheorie formulierte. Auch Sigmund Freud waren Panikattacken und andere Ängste aus eigener Erfahrung vertraut. Brecht, Kafka, Vivaldi, Lincoln – die Liste berühmter Menschen mit Angst ist endlos. Und nicht nur als „Antriebsmittel“ für die Lebensleistung als Ganze, sondern auch in einer akuten Situation wie etwa einer Prüfung ist moderate Angst durchaus zu begrüßen: Denn ein mittleres Angstlevel treibt zu Bestleistungen an. So sagt es das „Yerkes-Dodson-Gesetz“, benannt nach zwei amerikanischen Psychologen. Wird die Angst allerdings übermächtig, sinkt das Leistungsniveau wieder ab.
Angst ist also eine hoch effiziente Emotion. Innerhalb von Sekundenbruchteilen können wir reagieren, schneller als die bewusste Wahrnehmung einsetzen kann. Dabei spielt das so genannte „Angstnetzwerk“ im Gehirn eine wichtige Rolle, insbesondere die Amygdala, die wegen ihres Aussehens oft Mandelkern genannt wird. In diesem Schaltzentrum, das mit zwei symmetrischen Teilen etwa in der Mitte unserer Köpfe in den Schläfenlappen liegt, werden die Informationen – etwa vom Sehnerv – blitzschnell emotional bewertet. Erinnerungen aus der Hirnrinde werden mit einbezogen: „Oh, das hier könnte eine Spinne sein!“ Dadurch wird der Hypothalamus alarmiert, der Stressreaktionen in Gang setzt: Hormone werden freigesetzt, der Blutdruck steigt, man atmet schneller, das Herz klopft stärker. Erst dann kommt es zum bewussten Sehen: „Ach, nur eine Staubflocke“.
Erweist sich die Situation als harmlos, gibt der Hippocampus Entwarnung und die Amygdala beruhigt sich. Doch genau dies funktioniert bei Angstpatienten nicht mehr. So kommt es zu einer Aufschaukelung: Die selbst ausgelösten Symptome werden als Bedrohung registriert und die erlebte Angst steigert sich immer weiter.
Ängste gibt es in den vielfältigsten Formen. Viele Menschen haben etwa Angst vor Spinnen, Höhen, Bienen oder Spritzen. Weil diese Ängste ein konkretes Objekt haben, nennt man sie „spezifische Phobien“. Wir haben sie im Prinzip noch aus der Höhlenmenschenzeit. Denn Dinge, die heute wirkliche Risiken darstellen, sind selten Objekt von Phobien: Wer hat schon Angst vor Zigaretten, Schnaps, Chips oder Autos? Weit verbreitet ist zudem die soziale Phobie: Sie zeigt sich in der Angst, von anderen Menschen negativ bewertet zu werden. Man fürchtet Situationen, bei denen man im Mittelpunkt stehen muss, oft wird direkter Blickkontakt als belastend empfunden, aber auch das Reden vor anderen oder Telefonieren. Unsere moderne, virtuelle Welt unterstützt Sozialphobiker daher perfekt. Versteckt am heimischen Rechner kann man sich nach Herzenslust in „Second Life“ tummeln, Kontakte knüpfen und tun, was man sich sonst nicht traut.
Eine der häufigsten und schwersten Angsterkrankungen ist die Panikstörung. Namentlich haben wir sie dem Gott Pan zu verdanken, der – halb Mensch, halb Bock – Reisende zu Tode erschreckte. Bei der Panikstörung tritt wie aus dem Nichts ein unglaublich starkes Angstgefühl auf, das von schweren körperlichen Symptomen begleitet wird: Herzrasen, die Brust schnürt sich zusammen, Atemnot, es kommt zur Hyperventilation (überstarkem Atmen), man schwitzt, zittert, hat Hitzewallungen, Kälteschauer, Schwindel und fühlt sich „wie im falschen Film“. Manche Menschen befürchten, wahnsinnig zu werden.
Oft kommt zu den Angstattacken noch die so genannte Agoraphobie hinzu – die „Platzangst“, was allerdings nicht die Angst vor leeren, sondern vor engen und vollen Plätzen meint. Im Vordergrund steht die Angst, in einer solchen Situation, in der man nicht flüchten kann und die peinlich werden würde, eine Panikattacke zu bekommen: im Kaufhaus, Fahrstuhl, Bus oder Theater. Gerade bei der Panikstörung dauert es oft lange, bis sie als solche erkannt wird. Denn der Körper imitiert haargenau eine lebensbedrohliche Krankheit. Daher lassen sich viele Betroffene wegen ihrer körperlichen Beschwerden durchchecken. Oft haben sie eine endlose Odyssee bei den verschiedensten Ärzten hinter sich, die nicht auf die richtige Diagnose kommen.
Sigmund Freud und die Angst
Freud war einer der ersten, der sich systematisch mit den Ursachen von schweren Ängsten beschäftigte und der bereits verschiedene Erscheinungsbilder differenzierte, etwa die „phobische Neurose“ (heute Phobien und Agoraphobie), chronische Angstzustände (heute Generalisierte Angststörung) und „frei flottierende Angst“ (heute Panikstörung).
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Doch woher kommt sie, die Angst? Warum überstehen viele Menschen Stress-Situationen ohne Schaden, während andere eine Angststörung entwickeln? Die Antwort berührt einen grundlegenden Streit der Psychologie: Ist unsere Veranlagung – die Gene – oder eher die Umwelt ausschlaggebend dafür, wie wir sind?
Lange war das Verständnis von Ängsten durch die Psychoanalyse Sigmund Freuds geprägt, die bestimmte frühkindliche Erfahrungen wie Traumata als Ursache von Ängsten annimmt. Das große Plus dieser Theorie ist, dass sie in sich stimmig wirkt, oft sogar spannend und spektakulär: etwa, wenn sie die soziale Phobie durch Kastrationsängste erklärt.
Freud selbst änderte seine Ansichten über die Entstehung von Ängsten mehrfach. Vom heutigen Stand der Forschung sind die tiefenpsychologischen Ansätze zu einseitig – sie überbetonen die Lebensgeschichte des Menschen und tragen den Erkenntnissen der Genetik, Neurobiologie, Verhaltens- und Kognitionsforschung zu wenig Rechnung.
So verdanken wir beispielsweise Lerntheorien, die davon ausgehen, dass Ängste gelernt werden können, auch einige der effektivsten Therapiemethoden. Etwa das Konzept der systematischen Desensibilisierung von Joseph Wolpe. Dabei wird der Patient nach und nach mit angstauslösenden Situationen in immer stärkerer Intensität konfrontiert. Die so genannte „Überflutung“, bei der man sich gleich dem schlimmsten Reiz aussetzt, hat allerdings größere Wirkung. Also: nicht erst ein Foto von einer Spinne angucken, dann lebende Spinnen von weitem ansehen, bevor man eine kleine Hausspinne anfasst, sondern gleich die Hand in ein Terrarium mit Vogelspinnen legen. Der Betroffene muss sich dabei der Angst so lange aussetzen, bis sie von selbst abklingt – denn das tut sie – und erleben, dass die erwartete Katastrophe ausbleibt („Ich sterbe“, „Die Spinne wird mich angreifen“).
Die Lerntheoretiker zeigen uns auch, dass nicht alle Reize Angst auslösen können: So versuchten die Psychologen Watson und Raynor ihrer Testperson, dem kleinen Albert, Angst vor Bauklötzen anzutrainieren – doch das ging, zum Glück, nicht. Zudem können Ängste dadurch ausgelöst werden, dass wir zufällige oder anders bedingte Körpersymptome mit der aktuellen Umwelt verknüpfen: Haben Sie etwa einen Kaffee getrunken und steigen dann in einen Fahrstuhl, so könnten Sie die auf das Koffein zurückgehende Nervosität fälschlicherweise dem Fahrstuhl zuschreiben. Heute geht man außerdem davon aus, dass für die Ausbildung von Angststörungen neben solchen Einflussfaktoren auch die Vererbung eine gewisse Rolle spielt. Die Dosierung der Botenstoffe im Gehirn, die Einstellung der Rezeptoren in den Neuronen: All dies ist genetisch beeinflusst. Wodurch auch immer letztlich bedingt – Gene oder auch belastende Erfahrungen – scheint es so zu sein, dass die Prozesse zur Bewertung von gefährlichen Situationen im Gehirn bei Angstpatienten zu sensibel eingestellt sind. Das heißt, ihr Hirn signalisiert „höchste Gefahr!“, obwohl alles noch im grünen Bereich ist. Wo genau dieser Fehlalarm ausgelöst wird, weiß man heute noch nicht. Aber man sucht natürlich rund um die Amygdala.
Wenn wir auch noch nicht alles wissen , so liegen heute doch so viele Erkenntnisse über Ängste vor, dass die Chancen auf Heilung sehr gut stehen. Es gibt Schätzungen, dass über 80 Prozent der Phobien und Panikstörungen erfolgreich behandelt werden können. Von der Krankenkasse werden jedoch nur zwei Therapiemethoden erstattet: die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie. Aus psychologischer Sicht ist die kognitive Verhaltenstherapie heute erste Wahl. Zu ihr gehören die Informationen über die Störung ebenso wie die genannten Konfrontationstechniken, die manchmal wie eine Rosskur anmuten: Bei Höhenangst nicht erst auf die Leiter, sondern gleich auf den Eifelturm.
Die Aufklärung über die natürlichen Abläufe im Körper ist dabei bereits Teil des Heilungsprozesses. Manche Therapeuten machen mit ihren Patienten zum Beispiel Übungen, die gezielt die Symptome einer Panikattacke hervorrufen, etwa ein so genanntes Hyperventilationstraining. Knackpunkt hierbei ist es zu spüren, dass man die Symptome der Angst – erhöhter Herzschlag, Engegefühle in der Brust, schnelles Atmen, Kribbelgefühle in Armen und Beinen, weiche Knie – selbst beeinflussen kann.
Meist werden auch Denkstrategien besprochen, mit denen man sich selbst beruhigen kann und die katastrophisierenden Gedanken – „ich hab’ einen Herzinfarkt“, „ich finde keinen Arzt“, „alle werden über mich lachen“ – hinterfragt. Es gibt sogar Crashkurse, in denen eine ganze Reihe von Ängsten in kurzer Zeit wegtrainiert werden, nach dem Motto: erst Bus fahren, dann ein Popkonzert besuchen, zwischendurch Fahrstuhl fahren und anschließend vom Kölner Dom runtergucken. Für Sozialphobiker eignen sich in einem ersten Schritt Rollenspiele, dann Blamier-Übungen: So müssen die Klienten an einem sonnigen Tag mit Regenschirm rumlaufen oder Leute nach einem kirchlichen Postamt fragen.
Und auch Medikamente haben bei der Therapie von Angsterkrankungen durchaus ihre Berechtigung. In akuten Fällen können sie sehr hilfreich sein. Sinnvollerweise sollten sie mit einer Therapie kombiniert werden – denn kombinierte Therapien erweisen sich in vielen Studien als wirksamer als die beiden Alternativen für sich. Vermutlich empfiehlt sich ein undogmatischer Ansatz, der Medikamente nicht als Teufelswerk verdammt, sondern sie als brauchbares Mittel der Behandlung betrachtet und der sich von allen Therapieschulen-Doktrinen emanzipiert. Vor Hardlinern sollte man sich jedenfalls in Acht nehmen.
Und auch das Prinzip „abwarten und Tee trinken“ hat durchaus seine Berechtigung, kommt es doch in vielen Fällen auch ohne Intervention zur natürlichen Heilung. Der Altersgipfel bei Angststörungen liegt nämlich bei 36 Jahren. Also: Manchmal hilft auch einfach nur Älterwerden.
Links zum Thema
- Dr. Dr. med. Herbert Mück informiert Betroffene und Bezugspersonen rund um das Thema Angst und Panik.
- Hier finden Sie Informationen, Selbsthilfe-Adressen, Bücherlisten und Links. Auch die Berichte von Betroffenen und Diskussionsforen.
- Gute Einführung in das Thema Angst durch eine PowerPoint-Präsentation.
- Betroffene kommunizieren über Angstzustände und Panikattacken.
- Internetseite, auf der Phobien aufgeführt und mit einem Fachausdruck belegt werden, z.B. „Paraskavedekatriaphobie“: Angst vor Freitag, dem 13.
