August/September 2007

„Jedes Wissenschaftssystem bekommt das, was es prämiert“

Ulrich SiegDer Historiker Ulrich Sieg, Träger des deutschen Nachwuchshistorikerpreises, sprach mit sciencegarden über sein neues Buch über Paul de Lagarde, über die Reste Humboldtscher Ideale an der deutschen Universität und über tüchtige Studenten und junge Wissenschaftler, die sich auch unter absonderlichen Bedingungen behaupten.

sg: Herr Sieg, Ihr neues Buch handelt von Paul de Lagarde, einem herausragenden Orientalisten des 19. Jahrhunderts, der als wissenschaftliches Genie bewundert wurde, dessen nationalchauvinistische und antisemitische Schriften eine enorme Rezeption erfuhren und der heute dennoch fast vollkommen vergessen ist. Welche Motive veranlassten Sie zu einer Beschäftigung mit diesem ambivalenten Wissenschaftler?

Ulrich Sieg: Den gewaltigen Nachlass von Paul de Lagarde habe ich schon vor vielen Jahren kennengelernt und hatte das Gefühl, dort liegt ein echtes Buch verborgen. Vor einigen Jahren fragte mich dann Tobias Heyl vom Hanser Verlag, ob ich eine Kulturgeschichte des Antisemitismus schreiben wolle. Da wir die Gedanken- und Gefühlswelt von Antisemiten noch ausgesprochen schlecht kennen, schien es mir reizvoll, mich dieser Aufgabe in biographischer Verdichtung zu nähern. Das Risiko bestand darin, dass den um 1900 viel bewunderte Kulturpessimisten Lagarde heutzutage kaum einer mehr kennt; als Herausforderung empfand ich es, ein weitgehend unerforschtes Thema kartieren und gestalten zu können.

sg: Lagarde wirkte auf so unterschiedliche Personen wie Nietzsche, Thomas Mann und schließlich auch Adolf Hitler. Heute erscheint uns die Aggressivität seiner politischen Schriften als besonders abstoßend.

Ulrich Sieg
1960 in Lübeck geboren, ist Professor für Neueste Geschichte an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u.a. auf der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, der politischen Ideengeschichte und der Geschichte des deutschen Judentums im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Für seine Studie über „Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg“ erhielt er den deutschen Nachwuchshistorikerpreis.

Sieg: Wie kaum ein anderer Denker des ausgehenden 19. Jahrhunderts verkörperte Lagarde die Widersprüche seiner Zeit. Er bot seinen Lesern zugleich radikale Gegenwartskritik und die Aura akademischer Gelehrsamkeit. Er prangerte Entfremdungsphänomene der heraufziehenden Industriegesellschaft an und arbeitete als wissenschaftlicher Spezialist wie ein Besessener. Er verachtete das seiner Ansicht nach fade und halbherzige Christentum und hoffte auf eine völkisch gefärbte Religion der Zukunft. Er predigte nationale Eintracht und kultivierte Feindbilder, welche die gesellschaftliche und ideologische Zerklüftung erhöhen mussten. Und während er als Wissenschaftler ein staubtrockener Positivist war, äußerte sich in seinen antisemitischen Traktaten mit einer Vehemenz, die selbst in einem Zeitalter rhetorischer Kraftmeierei auffallen musste.

sg: Was war Lagardes geistiges Erbe?

Sieg: Lagardes wichtigstes Erbe war die Vorstellung, dass einer „deutschen Religion“ die Zukunft gehöre. Aus heutiger Perspektive mag dies skurril klingen, aber man sollte nicht vergessen, dass vor 1914 eine Nationalisierung Gottes in vielen europäischen Ländern verkündet wurde. Lagarde bot ein kühnes Konzept, warum dem „jungen deutschen Volk“ die Zukunft gehöre. Nach dem Ersten Weltkrieg pries man ihn als „Deutschlands Propheten“, der eine große Katastrophe als Bedingung für Deutschland Wiedergeburt vorhergesehen habe.

sg: Dem Laien erscheint oft der Nationalsozialismus umfassend erforscht, manchmal ist sogar von Überdruss die Rede. Nach der Lektüre Ihres Lagarde-Buches bleibt der Eindruck, dass wir über seine geistigen Grundlagen hingegen immer noch wenig wissen.

Sieg: Ich glaube, es fällt Intellektuellen sehr schwer, das Weltanschauungsgebräu der Nationalsozialisten ernst zu nehmen. Doch ist mit dem bloßen Aufweis ideengeschichtlicher Motive noch wenig über deren konkrete Funktion und politische Bedeutung gesagt. Ich glaube, es hilft nichts, wir müssen uns die erfolgreichen antisemitischen Schriften viel genauer anschauen. Denn es handelt sich bei ihnen um Werke, die ein breites Publikum zu faszinieren vermochten und nicht selten bis tief in das Bildungsbürgertum hinein wirkten. Paul de Lagarde, Julius Langbehn oder Houston Stewart Chamberlain waren Weltanschauungsschriftsteller, die gezielt den Erfolg anstrebten. Gerade deshalb sollten sich ihre sprachlichen Mittel benennen und ihre ideologischen Strategien dechiffrieren lassen.

sg: Der sogenannte „Cultural Turn“ zurück zu einer Gesellschaftsgeschichte, die kulturelle Phänomene nicht nur als „Überbau“ sozio-ökonomischer Strukturen betrachtet, findet immer noch seine Gegner. Was entgegnen sie diesen?

Sieg: In meinem Freundes- und Bekanntenkreis befinden sich nur wenige Gegner des „Cultural Turns“. Selbst beinharte Sozial- oder Politikhistoriker gehen nur noch selten in die Offensive, wenn man für die Erforschung vergangener Symbolwelten plädiert. Im Moment liegt vermutlich die größere Gefahr darin, dass ein ebenso unscharfer wie ubiquitärer Kulturbegriff das präzise Nachdenken über kulturhistorische Phänomene erschwert. Was in Deutschland jahrzehntelang stattgefunden hat, ist eine Marginalisierung der Ideengeschichte, deren Bedeutung für die Veränderung von Weltbildern massiv unterschätzt wurde. Glücklicherweise beginnt sich das gerade zu ändern, und vielleicht leisten Historiker bald einen größeren Beitrag für das Verständnis von Ideen, die vergangenen Zeiten ihre Signatur gaben.

sg: Neben der politischen Ideengeschichte und der Philosophiegeschichte gehen Sie in zahlreichen Ihrer Schriften wissenschaftsgeschichtlichen Themen nach. Was interessiert Sie daran?

Sieg: Wissenschaftsgeschichte bietet einen gute Gelegenheit über sich selbst und sein Tun nachzudenken. So vieles, was an der deutschen Universität fragwürdig ist, hat tiefe Wurzeln. „Humboldt“ ist aber nicht nur eine Verlegenheitslösung im Zeitalter der Massenuniversität und eine Chiffre im bildungspolitischen Kampf. Man kann in den Schriften Wilhelm von Humboldts viele bedenkenswerte Ideen finden, wie jüngst Liessmanns „Theorie der Unbildung“ eindrucksvoll demonstriert hat. Generell interessiert mich der konflikthafte Zug der Wissenschaftsgeschichte, der häufig Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Kräfte gestattet. Überdies hilft der Blick auf die sozialen Exklusionsmuster vergangener Tage bei der nötigen Distanz gegenüber der Werbeprosa aus Bildungseinrichtungen und Wissenschaftsministerien, von der wir gegenwärtig überschwemmt werden.

sg: Nehmen wir die positiv konnotierten Schlagworte, die wir heute noch mit Humboldts Namen in Verbindung bringen: „Einsamkeit und Freiheit“, „Verbindung von Lehre und Forschung“. Spüren Sie noch etwas von diesem Geist in Ihrer Lehre und Forschung ?

Sieg: Erstaunlich viel im Vergleich mit dem, was die Medien für gewöhnlich berichten. In dem Moment, wo man Studenten von den eigenen Forschungen erzählt, leuchten nicht selten ihre Augen und sie wollen Genaueres wissen. Gerade wenn man ihnen konkrete Forschungsaufgaben stellt, bewegt sie das häufig mehr als der übliche Paukstoff.
Letztendlich gibt die Arbeit an großen Fragen einem Wissenschaftlerleben den eigentlichen Atem. Gewiss kann man sich für kurzfristige Aufgaben mal motivieren, aber von innen her bewegen einen doch die Probleme, zu deren Lösung es eine gewisse Einsamkeit und große Freiheit braucht. Zudem sollten Wissenschaftler in größeren Projektzusammenhängen agieren und ergebnisoffen sein, was sich prima mit den Gedanken Humboldts kombinieren lässt.

sg: Wie verträgt sich dieses Ideal mit den hochschulpolitischen Reformen der vergangenen Jahre?

Sieg: Mittelfristig drohen die Reformen der Hochschulpolitik dieses Ideal abzuschaffen. Es braucht einfach eine gewisse Luft für die Betreuung der Studenten und ein Mindestmaß an materiellen Ressourcen, wenn Forschung und Lehre verknüpft bleiben sollen. Jedes Wissenschaftssystem bekommt das, was es prämiert. Starre modularisierte Studiengänge lenken die Hauptenergie der Studenten darauf, die geforderten Bedingungen zu erfüllen: Für das eigene, freie Arbeiten bleibt nicht mehr viel Zeit, und man wird immer weniger den Sinn dafür einsehen. Kurz gefasst: Die Studenten werden mittelfristig erheblich unselbständiger.

sg: Der Wandel zur Massenuniversität tritt nicht erst mit der Hochschulerweiterung der 1970er Jahren ein. Schon im Kaiserreich stieg die Studentenzahl erstmals rasant an. Waren Humboldts Vorstellungen jemals mit den Erfordernissen des industriellen Zeitalters und der heutigen sogenannten Wissensgesellschaft in Einklang zu bringen?

Deutschlands ProphetIn seinem neuesten Buch „Deutschlands Prophet“ erzählt Ulrich Sieg eine vergessene, aber umso bedeutendere Geschichte über die Entstehung des modernen Antisemitismus.

Sieg: Ja, aber nicht umstandslos! Die Großforschung konnte man schon im Kaiserreich nicht aus den rein staatlichen Töpfen finanzieren, für sie musste man private Geldquellen erschließen. Natürlich kann die Idee Humboldts nicht allen Ausbildungsanforderungen genügen. Aber neben pragmatischen Überlegungen braucht es ja auch noch Ideen, an denen sich die der Ausbildung orientiert. Die Universität ist ein zentraler Ort dafür, dass sich die Gesellschaft Rechenschaft über sich selbst gibt. Wenn wir die großen Fragen nicht mehr an der Universität diskutieren, wo denn dann? Es ist doch bezeichnend, dass gegenwärtig alle erfolgreichen Universitätssysteme in der Welt, vor allem natürlich diejenigen an der amerikanischen Ostküste, viel Raum für die Ideen Humboldts lassen. So fördert etwa das MIT in Massachusetts massiv die Geisteswissenschaften, weil man sich davon spürbaren Erkenntnisgewinn verspricht. Und naturwissenschaftliche Großforschung ohne begleitende philosophische Reflexion mag man sich dort gar nicht vorstellen.
Letztendlich braucht aber alles eine materielle Basis: Allein Harvard besitzt über 20 Milliarden Dollar. Das Geld haben wir hier überhaupt nicht. Das ist in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts vernichtet worden. Und schon bei Humboldt muss man das mitdenken! Humboldt konnte eine attraktive Berufungspolitik durchführen, weil er einfach über Geld verfügte, um eine Schar hochrangiger Wissenschaftler nach Berlin zu locken.

sg: Wissenschaft lebt auch durch den fachübergreifenden, sich gegenseitig befruchtenden Austausch: Fehlen uns in Deutschland nicht vielleicht auch Begegnungsorte dafür?

Sieg: Ich finde sehr! Wenn ich in einem Oxforder College bin, dann rede ich mit Leuten aus ganz unterschiedlichen Fächern und erkläre ihnen meine Forschungen, so gut ich es kann. Diese fragen neugierig zurück und zwingen mich zu plausiblen Argumenten, auf die ich ohne die anregende Gesprächssituation gar nicht käme.
Es ist eine Tragödie, dass die deutsche Universität solche Orte nicht mehr kennt! Orte, wo sich die Professoren einfach miteinander treffen und reden. Nicht zufällig besteht eines der Hauptprobleme des akademischen Betriebs darin, dass man mehr übereinander als miteinander redet.

sg: Ein Historiker hat diese fehlende Institutionalisierung des wissenschaftlichen Austausches, wie Sie ihn für England beschreiben, als „Humboldt-Lücke“ bezeichnet.

Sieg: Aber es gab in Deutschland doch Formen akademischer Gemeinschaft, auch wenn sie nur selten von Historikern beschrieben werden. Gerade im Kaiserreich existierten vielfältige Gelehrtenzirkel, stiftete die Philosophische Fakultät noch eine größere Einheit. Gerade in den klassischen Universitätsstädten wie Marburg setzte man sich abends zusammen, las Klassikertexte oder debattierte aktuelle Fragen. Ich schätze die Bedeutung der „Humboldt-Lücke“ nicht allzu hoch ein, weil damals die Universitäten überschaubar groß waren und man tatsächlich miteinander geredet hat.

sg:Was geschah dann?

Sieg: Die Universität ist enorm expandiert! Von wenigen hundert Studenten auf Zehntausende. Spätestens im Massenbetrieb der zweiten Nachkriegszeit hätte man sich dann Orte wie „Faculty-Clubs“ einfallen lassen müssen. Universitätsgebäude wie hier in Marburg besitzen gar keine Räume, wo sich Wissenschaftler einfach treffen und miteinander reden können. Die „Humboldt-Lücke“ existiert heute! Doch bislang fehlt es an Mitteln und an kreativen Einfällen, um sie zu kompensieren.

sg: Dafür soll der sogenannte Bologna-Prozess aber immerhin den internationalen Austausch fördern: Auch durch die bessere Vergleichbarkeit von Bachelor und Master-Abschlüssen.

Sieg: Also ich bin ja nicht sicher, ob dieser Prozess die Internationalisierung überhaupt fördert. Bislang weist die empirische Befundlage darauf hin, dass weniger Studenten ins Ausland gehen, weil sich diese Zeit nur schwierig in einen modularisierten Studiengang einbauen lässt. Ich weiß auch nicht, ob steigende Internationalität für die Wissenschaft ein Letztwert ist. So wünschenswert – und unvermeidlich im Zeitalter der Globalisierung – internationaler Austausch ist, sollte doch auch daran gedacht werden, dass Wissenschaft Zeit für die geduldige Prüfung von Sachfragen braucht. Die Dominanz rein statistischer Überlegungen droht dies in den Hintergrund zu rücken.

sg: Man gewinnt leicht den Eindruck, dass in Deutschland zwischen Gesellschaft und Wissenschaft eine besonders große Lücke klafft. Oft mangelt es wissenschaftlichen Werken allein an sprachlicher Verständlichkeit.

Sieg: Gedanken des deutschen Idealismus prägten im 19. Jahrhundert das Selbstverständnis vieler Fächer und förderten eine starke Grundsätzlichkeit des Denkens. Gelegentlich lästert man in der angelsächsischen Welt: „Wo der Deutsche hindenkt, wächst kein Gras mehr.“ Und das kryptische Deutsch mancher geisteswissenschaftlichen Studie ist gewiss verbesserungswürdig. Umgekehrt kann man das philosophische Interesse deutscher Wissenschaftler aber auch als Stärke sehen! An der amerikanischen Ostküste staunt man etwa über die Zahl und die Güte theoretischer Physiker aus Deutschland. Dies dürfte auch eine Folge der Tatsache sein, dass hierzulande Grundlagenreflexionen eine lange Tradition haben.
Ein viel größeres Problem besteht meiner Ansicht darin, dass zentrale wissenschaftliche Themen nur selten allgemeinverständlich debattiert werden. Statt dessen erörtert man mit riesigem terminologischen Aufwand sehr kleine Probleme, was sich einer breiteren Öffentlichkeit kaum vermitteln läßt. Man sollte in Ruhe darüber nachdenken, wie man hier Abhilfe schafft.

sg: Wir haben nun viel über das Elend der deutschen Universität geklagt. Glänzt an ihr auch noch etwas?

Sieg: Ich glaube, wir haben immer noch viele tüchtige jüngere Wissenschaftler. Wenn Sie durch die Neue Welt reisen, finden Sie an jeder guten Universität einige deutsche Forscher, die dort ihre Chance suchen. Ich glaube, die Ausbildungsleistung der deutschen Universität ist immer noch ausgezeichnet. Und dass die Studenten im Geiste Humboldts lernen, selbständig zu arbeiten, ist gewiss nichts Kleines. Vermutlich können wir Hochschullehrer auf unsere Lehrleistung nicht übermäßig stolz sein, doch bei den absonderlichen Zuständen, die hier herrschen, lernen die Studenten immer noch erstaunlich viel.

Beitrag von Joachim Jachnow
Bildquellen der Reihenfolge nach: A. Schulz | Hanser-Verlag

Links zum Thema

  • Homepage von Ulrich Sieg. Für alle, die sich für alte Philosophen und neue Ideengeschichte interessieren.
  • Leseprobe (Hanser-Verlag)

Literatur

  • Ulrich Sieg (2007): Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus. München. 25,90 Euro
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