Oktober/November 2007

Relevanz gesucht

DSP-Tagung gesellschaftliche RelevanzIn aller Munde und doch schwer zu greifen: "Gesellschaftliche Relevanz" wird von der Wissenschaft oft gefordert, so auch beim Deutschen Studienpreis. Um des Rätsels Lösung zu finden, lud die Körberstiftung Alumni und Experten nach Hamburg ein – und erhielt neben Antworten vor allem neue Fragen.

Beim neuen Deutschen Studienpreis wird "gesellschaftliche Relevanz" zum Hauptkriterium für prämierungswürdige Arbeiten. Aus diesem Grund beschäftigt sich das Team des Deutschen Studienpreises intensiv mit dem Thema. Tatkräftige Unterstützung erhielt es auf der diesjährigen Alumnitagung. Zwei Tage lang erörterten und diskutierten in Hamburg Studienpreis-Alumni mit Experten über Inhalt, Sinn und Bewertbarkeit gesellschaftlicher Relevanz. Dabei trugen Geisteswissenschaftler und vor allem Soziologen ihren Teil bei, während die Debatte die Natur- und Technikwissenschaftler scheinbar weniger anzog.

Vom Wissen zum Handeln

Dass Wissen Macht sei, vertrat zum Einstieg der Wissenschaftssoziologe Nico Stehr von der Zeppelin University in Friedrichshafen. Jedoch beschränke sich das Potenzial von Wissenschaft zunächst darauf, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Ob sich dieses in "Gestaltungsmacht" ummünzen ließe, also der erfolgreiche Transfer, sei dann abhängig von der gesellschaftlichen Situation, auf die das Wissen träfe. Stehr erklärt so die augenscheinlich höhere Relevanz vor allem der Technikwissenschaften: im Gegensatz zu den Sozial- und Geisteswissenschaften könnten sie ihren Anwendungskontext, die Laborsituation, leichter mit transferieren. Kontrapunktisch hierzu unterstrich er jedoch die eigentliche Bedeutung der Sozial- und Geisteswissenschaften, deren Erkenntnisse nicht weniger wirkungsvoll, sondern ihre Wirkung nur schwerer zuzuschreiben sei. Die teilweise frustrierenden Grenzen einer wissenschaftlich geführten Relevanzdiskussion demonstrierte eindrucksvoll Christian Pohl. In seinem mit Selbstironie gespickten Vortrag "Bruchstücke der Relevanz" kehrte er von der Ausgangsthese "Relevante Wissenschaft ist relevante Wissenschaft" zu eben dieser zurück; in der Systemtheorie sei eben alles keine Wissenschaft, das sich nicht grundsätzlich an der Frage nach "wahr" oder "falsch" orientiere.

Berufsethos und Pragmatik

Demgegenüber ließ der Politikwissenschaftler Tim Engartner sein Publikum weit weniger bequem aus der Verantwortung. Ideologische Scheuklappen sollten abgelegt und quer zu methodischen Strömungen der jeweilige Gegenstand erforscht werden, so sein Credo. Noch pragmatischer wurden die Vorschläge für Entscheider einerseits sowie Wissenschaftler andererseits in den Statements der Soziologin Ursula Mühle und ihrer Ko-Referentinnen Christiane Mück und Ariane Neumann. Mück und Neumann zeigten am Beispiel der Islamwissenschaften, dass die gesellschaftliche Relevanz einer Disziplin wesentlich von ihrer praktischen Vermittelbarkeit und potenziellen ökonomischen Bedeutung abhängt. Folglich bliebe der wissenschaftliche Wert eines Faches davon unberührt – gerade Nachwuchswissenschaftler täten jedoch gut daran, sich in die Vermittlung ihres Fachwissens an eine nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit einzuüben.
Mühle referierte die fortwährende Polemik über eine vorgeblich "gesellschaftliche" Relevanz, die sich bei genauerem Hinsehen jedoch zwangsläufig als von den Eigeninteressen der dahinter stehenden Gruppierung – beispielsweise Wissenschaftler oder Stiftungen – geprägt herausstellte. Als Lösung präsentierte sie ganz mit dem Blick auf die Praxis einen Kriterienkatalog. So solle man Relevanz an der Bedeutung für mehr als eine Fachdisziplin festmachen und Gutachtergremien teilweise mit Fachfremden besetzen. Stiftungen sollten bei der Förderung zusammenarbeiten und nicht bloß ihre eigenen Schwerpunkte als relevant herausstreichen.

Relevanz als Aushandlungsprozess

Podiumsdiskussion
Nico Stehr, Jürgen Kaube (FAZ) und Wilhelm Krull

Die Rolle von Stiftungen spielte auch auf der öffentlichen Podiumsdiskussion eine Rolle. Die von Jürgen Kaube (FAZ) moderierte Debatte vereinte Wilhelm Krull, Generalsekretär der Volkswagenstiftung, und Nico Stehr. Auf die provokante Frage nach einer etablierten "Verwendungsrhetorik" machten die Anwesenden deutlich, dass wissenschaftliche Ergebnisse ja tatsächlich angewendet würden und auf vielen Gebieten ein enormer Fortschritt erzielt worden sei. Thematisiert wurde auch eine Veränderung der Relevanzdebatte durch die Gleichzeitigkeit von Grundlagenforschung und Anwendung. Laut Krull habe die Wissenschaft unter diesen Bedingungen selbst ein Interesse an einer frühzeitigen Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Gleichzeitig warnte er auch im Hinblick auf die vermeintliche Dichotomie von Geistes- und Naturwissenschaften vor einer "unhinterfragten Relevanzzuschreibung unter ökonomischen Gesichtspunkten". Stehr unterstrich die tatsächlich große Bedeutung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse am Beispiel der volkswirtschaftlichen Theorie von J.M. Keynes. Da es auf solche Theorien allerdings keine Patente gäbe, bliebe die Zuschreibung von Fortschritt an diese Disziplinen in der Regel aus.
Kurz gestreift wurde der bedeutende Beitrag der Studierendenausbildung zum gesellschaftlichen Nutzen eines Faches, wobei die schlechten Betreuungsrelationen an deutschen Hochschulen von beiden Diskutanden scharf kritisiert wurden. Es blieb die Frage, wie eine erkannte und großzügig definierte Relevanz sich in konkrete Maßnahmen und bares Geld für ein bestimmtes Fach ummünzen ließe. Krull präzisierte, dass es sich hierbei um einen Aushandlungsprozess handle, der sich zunehmend in den politischen Raum verlagert habe. Den Stiftungen komme durch bestimmte Förderformen eine Mittlerfunktion für den Diskurs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu. Ein Beispiel sei die mögliche Wegrationalisierung der "kleinen Fächer" in einem dezentral organisierten Hochschulwesen. Die Hochschulrektorenkonferenz, aber auch seine Stiftung setzten hier Gegenimpulse. Eine ähnlich positive Tendenz sähe er auch bei den steigenden Spendensummen an private Universitäten, die das Interesse reicher Bürger an der Wissenschaft unterstrichen.

Ist Kommunikation alles?

Eine weitere Klärung über Art und Wesen des Transfers potenziell relevanter Forschungsergebnisse in "die Gesellschaft" brachte am folgenden Tag die Keynote von Jürgen Kaube. Der Journalist, der im FAZ-Wissenschaftsressort für sozial- und geisteswissenschaftliche sowie bildungspolitische Themen verantwortlich zeichnet, stellte sich selbst ebenfalls als Soziologe vor. Er demonstrierte, dass anstelle "der Gesellschaft" die Wissenschaft zwei konkrete Adressaten(-grupen) habe: Organisationen und Öffentlichkeit. Da Organisationen sich als Entscheidungszusammenhänge definieren ließen, müsse eine nach Relevanz strebende Wissenschaft folglich entscheidungsrelevantes Wissen anbieten. Gegenüber der Öffentlichkeit ginge es demgegenüber um reine Meinungsbildung. Dabei hob er heraus, dass diese mitnichten ein demokratischer Prozess sei – schließlich habe eine große Anzahl von Leuten zu vielen Themen gar keine Meinung. Um überhaupt die Chance einer Wirkung zu haben, müsse die mediale Wissensvermittlung aber in jedem Fall auf das jeweilige Publikum zugeschnitten sein und den üblichen Selektionskriterien "Neuheit", "Skandalisierbarkeit" und "Erzähl- bzw. Filmbarkeit" genügen. In der fehlenden Fernsehtauglichkeit sah Kaube denn auch das Hauptproblem der Geisteswissenschaftler: das Lesen von Büchern ist eben schwer zu inszenieren. Welch ein Trost, dass auch Kaube allen Wissenschaften zumindest zusprach, innerhalb der "Organisation Wissenschaft" Relevantes zu produzieren.

Wider den Schein der Irrelevanz

Plädoyers für eine nur scheinbar irrelevante Forschung folgten dann auch am zweiten Tag von zwei jungen Geisteswissenschaftlern. Matthias Zach, Doktorand der Komparatistik präsentierte Wissenschaft als "kritischen Spiegel der Gesellschaft", die gerade durch ständiges Hinterfragen ihrer eigenen Annahmen sich selbst und die Gesellschaft voranbringe. Der grundlegende Charakter dieses Hinterfragens sei der spezifische Nutzen, der jede Wissenschaftsdisziplin gesellschaftlich relevant mache. Für die Sprachwissenschaft als potente Hilfe zum Weltverstehen machte sich die Slawistin Sandra Birzer stark. Am Beispiel ihrer eigenen Dissertation über eine bestimmte Wortart im Russischen legte sie plausibel dar, wie Wissenschaft einen Beitrag leisten kann zum Verständnis der Auswirkungen einer Diktatur auf ein Land.

Künstlerisch gebrochen wurde das Kaleidoskop von Bruchstücken der Relevanz schließlich von Nicolas Kerksieck. Als freier Künstler hat er in Australien gemeinsam mit seiner Freundin Müll vergraben und brachte dem erstaunten Publikum zur besseren Anschauung gleich noch die Hinterlassenschaften des Buffets vom Vorabend mit. Relevant oder nicht? Diese Frage konnte weder der Künstler noch das Publikum abschließend beantworten. Als Resümee lässt sich dies auch für die gesamte Tagung festhalten. Dennoch gingen die Tagungsteilnehmer – vor allem die Nicht-Soziologen – mit einer Reihe brauchbarer Hinweise und interessanter Denkansätze nach Hause: Relevanz braucht Kommunikation, Wissenschaft besitzt eine Relevanz jenseits kurzfristiger Nutzenversprechungen, und Stiftungen sollten im besten Fall als Vermittler und Impulsgeber fungieren. Damit liegt der Ball nun wieder bei der Körber-Stiftung…

Beitrag von Christiane Zehrer
Bildquellen: Jann Wilken

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