Oktober/November 2007

"Folge dem gelben Pfeil!"

Jakobsweg in SpanienWer den Jakobsweg geht, sucht Gott, sich selbst oder einfach den etwas anderen Urlaub. sg-Redakteurin Christiane Zehrer war im August 2007 zwischen Burgos und Santiago de Compostela unterwegs. Impressionen von einem Selbstversuch.

Weniger als 8,5 Kilogramm habe ich leider nicht hinbekommen. Während ich seufzend auf meinen Trekkingrucksack blicke, beschleicht mich ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, allein mit dem auskommen zu müssen, was ich aus eigener Kraft tragen kann. Zur Beruhigung sage ich einen Satz aus meinem Reiseführer immer wieder wie ein Mantra vor mich hin: "Spanien ist ein modernes Land, man kann dort alles kaufen." Dann entlässt mich der Nachtzug in die unbehagliche Kälte von Burgos, und in der grell erleuchteten Bahnhofshalle hält mich ein groß gewachsener junger Mann mit der Aufschrift "Seguridad" ("Sicherheit") auf der Neonweste immer wieder davon ab, es mir liegend auf einer Bank bequem zu machen. Da ist sie zurück, die Frage aller Fragen: "Was mache ich hier eigentlich?"

Experiment 1: Maße, Gewichte und innerer Kompass

Wegmarkierung
"Folge dem gelben Pfeil!"

Morgennebel und Morgenkühle haben sich mehr als verzogen, als ich nach einer ausführlichen Besichtigung von Stadt und weltberühmter Kathedrale den "Weg zum Weg" suche: Bald habe ich den vom derzeitigen Bauboom in Spanien verunstalteten Stadtrand von Burgos hinter mir gelassen und befinde mich auf einem endlosen, staubigen Weg Aug in Aug mit der Sonne, die hier unerbittlich über Gut und Böse brennt. Die Frage, wie lang eigentlich 25 Kilometer sind, bekommt in dieser Umgebung eine ganz andere Bedeutung. Man kann immer so weit gehen, wie die Wasservorräte reichen, und zur Orientierung genügt es, sich an ein einfaches Prinzip zu halten: "Folge dem gelben Pfeil!" Von so viel Freiheit ist auch mein innerer Kompass angenehm irritiert, und so wandere ich allein durch einen ockerfarbenen Glutofen, in dem mich meine Gedanken wie die schillernde Luft umschwirren, ohne mir je zu nahe zu kommen.

Experiment 2: Die Rucksack-Trockenskala

Angekommen in der Herberge, tickt meine innere Uhr in deutlich schnellerem Takt. Alles, was vor der nächsten Etappe erledigt sein will, muss ich in den wenigen wachen Momenten zwischen der Ankunft am späten Nachmittag und dem Aufbruch im Morgengrauen schaffen. Allein die (nicht selten kalte) Dusche in den oft schmuddeligen Sanitäranlagen der Herbergen gleicht einem Kunststück, das einem Verrenkungsartisten mit logistischer Zusatzausbildung alle Ehre machen würde: nur nicht aus der Balance geraten, während man versucht, sich den einen Fuß abzutrocknen und sich mit dem anderen verzweifelt am Badelatschen festklammert, dessen Sohle in der glitschigen Dusche bei dem Versuch, das Handtuch an einem nicht nassen Platz abzulegen, sekündlich an Halt verliert. Und wo ist überhaupt das frisch rausgekramte T-Shirt? Dann beeile ich mich, noch schnell die Wäsche zu waschen, damit sie rechtzeitig zum Abmarsch trocken ist. Auf späteren Etappen mit schwülerem Klima wird selbst das nicht mehr helfen, und anhand der nach oben glücklicherweise begrenzten Rucksack-Trockenskala kann dann jede und jeder selbst testen, welche Kleidungsstücke er im hellen Tageslicht außen an demselben zur Schau stellen möchte. Für diejenigen, die rechtzeitig daran gedacht haben, beginnt anschließend der angenehme Teil des Abends bei Nudeln mit Tomatensoße und einem guten Tropfen aus der Gegend. 

Experiment 3: Interkulturelle Kommunikation

Wegmarkierung
Auf dem Jakobsweg: Christiane Zehrer

Es ist leicht, unter Pilgern ins Gespräch zu kommen. Das liegt allein schon daran, dass es zwei Themen gibt, mit denen man beim Small-Talk nie daneben liegt: die nächste Etappe und die tausend Tricks, mit denen die Einzelnen ihre marschgeschundenen Füße darauf vorbereiten. Wie einfach doch das Leben sein kann, wenn sich die Probleme jedes Einzelnen auf den Inhalt eines selbst zu tragenden Rucksacks beschränken müssen und deshalb selten über deren Fußsohlen hinausgehen! Ganz ähnlich funktioniert die Kommunikation mit den Dörflern, deren Heimstätten ich tagtäglich durchquere: Sobald sie mich als Pilgerin identifiziert haben (und wer sonst biegt schon schwer beladen um die Ecke hinter Nachbars Kuhstall?), gibt es mit einem stets herzlich wirkenden Automatismus Wegbeschreibung und Aufmunterung. Dabei sorgen einfache Zeichen (die omnipräsenten Pfeile) und eindeutiger Kontext (wir gehen zu Fuß nach Santiago) dafür, dass die Verständigung über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg zur Zufriedenheit aller Beteiligten klappt.

Experiment 4: Mythos oder Medienhype?

Zunächst war ich fest entschlossen, den Jakobsweg nicht aus religiösen Motiven zu gehen. Außer der meditativen Eintönigkeit der Landschaften gibt es am "camino" (span. Weg) eigentlich nur die teils halb verfallenen und zu 90 Prozent abgeschlossenen Dorfkirchen, die entfernt die Gegenwart einer höheren Macht in die Nähe des Möglichen rücken  – und doch zieht mich das Magische, Religiöse unablässig in seinen Bann. Wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, suchte ich mir nach einigen Tagen am Ende meiner Etappe eine Unterkunft in einem Kloster. Als beim abendlichen Zusammensitzen die Nonne Johannes 14,6 zitiert: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben", kommt es mir plötzlich vor, als sei das Weltgeschehen nie mit treffenderen Worten beschrieben worden. Dann singen wir alle mit Gitarrenbegleitung auf Spanisch, auch die, die eigentlich gar kein Spanisch können, und mir wird klar, dass die Pilgerschaft auch heute noch deutlich mehr ist als die simple Summe von Etappenplanung und Naturerlebnis. Dass ich auf einmal beim Wandern das Vaterunser grummele und zwischen Kirchen- und Wanderliedern Finger und Kopf mit dem Rosenkranz beschäftige, lässt sich natürlich ohne jeden Exkurs ins Mystische erklären: das Wandern im Allgemeinen und der Jakobsweg im Speziellen sind fest verankert in der Kulturgeschichte Europas, und Verlage und Fernsehen tragen ihren Teil dazu bei, dass wir zumindest eine vage Vorstellung von dem behalten, "was man auf Pilgerschaft eben so macht". Aber das kann nicht alles sein, denn, wie ein Mitpilger es auf den Punkt brachte: "Normalerweise würden wir es alle für verrückt halten, anhand gelber Pfeile ein fremdes Land zu durchqueren. Und doch sind wir eine riesige Gemeinschaft, die genau dies tut!"

Experiment 5 : Das Wunder der virtuellen Community

Deutschlands Prophet
Pilgerunterkunft im Kloster, Kein Platz in der Herberge

In der Tat ist der Jakobsweg die wahrscheinlich einzige "Einzelgruppenreise", die dieser paradoxen Bezeichnung gerecht wird: Einerseits gehen alle, die dort unterwegs sind, gemeinsam nach Santiago; andererseits wollen viele sich selbst oder wenigstens einer bisher unbekannten Facette davon begegnen. Zusammengehalten wird unsere Karawane der Individualisten von einem Phänomen, das unter Pilgern liebevoll "Radio Camino" genannt wird, ein Rundfunk aus Mund-zu-Mund-Propaganda, der alle irgendwie über alles auf dem Laufenden hält: jeder hat schon von dem Belgier gehört, der aussieht wie der Comic-Held Tintin und deshalb von allen so genannt wird; jeder kennt den Spanier mit dem langen Bart, der immer zuletzt in der Herberge ankommt, wenn er nicht gleich draußen übernachtet oder die Frau, die statt des üblichen Rucksacks mit einer Strandtasche über der Schulter über die Berge gestakst ist. Ihren wahren Nutzen jedoch offenbart diese "virtuelle Community vor ihrer Zeit" in der Not: Nach meiner Ankunft in Santiago zieht es mich zunächst noch weiter nach Westen, dorthin, wo die Sonne hinter einem schier unendlichen Horizont in die grauen Fluten des Atlantiks sinkt und bereits die Kelten am Ende der ihnen bekannten Welt Rituale zwischen mächtigen Steinen und Himmelskörpern zelebrierten. Als mich schließlich der Bus zurück in die von touristischer Hektik pulsierenden Straßen von Santiago wirft, stoße ich an die Grenzen der offiziellen  Pilger-Logistik: Es gibt keinen Raum in der Herberge, und das örtliche Tourismusbüro gibt mehr hilflos als hilfsbereit Listen mit den Telefonnummern der ebenfalls überfüllten Hotels heraus. Hilfe kommt schließlich wie aus dem Nichts. Zwei Spanier, denen ich auf der Reise immer mal wieder begegnet bin, schicken mich in einen Obstladen nur 10 Meter von dort, wo wir uns über den Weg laufen. Im ersten Moment verdutzt, begebe ich mich in das kleine, überfüllte aber angenehm kühle Geschäft unter den Kolonnaden und werde mit dem Codewort "cama" (Bett) Zeugin eines "Sesam-öffne-dich". Nach wenigen Augenblicken visiere ich mit einer Visitenkarte in der Hand eine weniger rummelige Seitenstraße an, wo – ich staune noch immer ungläubig – binnen kurzer Zeit die angekündigte ältere Dame mit weißen Haaren auftaucht und mich nach einer Odyssee durch die Neubau-Wohnviertel von Santiago endlich in einem einfachen, aber angenehm sauberen Zimmer mit eigenem Bad absetzt.

Experiment 6: Rückkehr ins normale Leben

"Alles wird gut", ist denn auch die Erfahrung, die sich auf dem Weg am tiefsten eingebrannt hat. Es ist die besondere Geborgenheit in einer grundoptimistischen Abenteurer-Gemeinschaft, die für ihr Gemeinschaftsgefühl keiner technischen Krücken bedarf. Dann gilt es Abschied zu nehmen. Und so sehr mich die Massenunterkünfte auch genervt haben, die Schnarcher, durchgelegenen Matratzen und naserümpfend ertragenen hygienischen Bedingungen, so melancholisch blicke ich über die in Reih und Glied stehenden Betten und falle Mitpilgernden um den Hals, die bei diesem Abenteuer nicht mehr, nicht weniger, sondern etwas ganz anderes geworden sind als Freunde. Einen Teil des Weges haben wir gemeinsam verbracht und einen anderen Seite an Seite, wie ein Leben en miniature. "Buen camino en la vida!" rufen wir uns gegenseitig zu, als ich beladen mit Ausrüstung, Souvenirs und Erinnerungen von der Herberge in Richtung Bahnhof aufbreche: "Einen guten Weg durchs Leben!"  Pfade voller Stolpersteine, steile Anstiege und Regen zur Unzeit wird es sicher auch dort immer wieder geben. Ob das auch für die gelben Pfeile gilt, ist fraglich…

Beitrag von Christiane Zehrer
Bildquellen: Christiane Zehrer

Links zum Thema

Literatur

  • Carmen Rohrbach (2002): Muscheln am Weg. München.
    (Ein eindrucksvoller Reisebericht von einer Jakobspilgerschaft im französischen Zentralmassiv.)

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