Wer sich's leisten kann
Wen das Gerede von der "Neuen Bürgerlichkeit" ebenso befremdet wie den Berliner Soziologen Hans-Peter Müller, wird sich über dessen Ausführungen in der Januar-Ausgabe des Merkur freuen. Dort fragt Müller, warum die Rede von einer (neuen) Bürgerlichkeit grassiert, wo doch "die gegenwärtige gesellschaftliche Verfassung weit entfernt von einer bürgerlichen Gesellschaft klassischen Zuschnitts ist und Vorstellungen vom Bürgertum eine Sozialformation umreißen, die lange schon der Vergangenheit angehört." Dass Anspruch und Wirklichkeit meilenweit auseinanderklaffen, legt der Soziologe in seinem Essay ebenso dar, wie er den Nieder- und Untergang des Bürgertums historisch umreißt. Müller stellt fest, dass "vor dem Hintergrund der Gesundung von Unternehmen und Staat auf dem Rücken der Bürger [...] den Betroffenen die Rede von »neuer Bürgerlichkeit« als angesonnenes Wert-, Stil- und Habitussyndrom wie purer Zynismus vorkommen" muss. Und weiter: "Sie ist ein Synonym für zu geringe Löhne und Einkommen, zu geringe private Kaufkraft und nur schwache private Vorsorgefähigkeit, höhere Kosten für Lebenshaltung, höhere Abgaben und Steuern und trotz veritabler Wirtschaftskonjunktur und einem Rekordsteueraufkommen für den Staat kein Hoffnungsschimmer am Horizont. Das Resultat ist Verunsicherung, massive Statusangst bis weit in die Mittelschicht und geringe Zuversicht."
Müllers Wort tun gut in Zeiten, in denen diese Mittelschicht auch in Europa ökonomisch und sozial zerstört wird. Seinem Fazit schließt man sich gerne an: Viele Bürger würden gern dem neuen Narrativ der Bürgerlichkeit folgen, allein es fehlen ihnen die Mittel dazu."