Gesundheit
In "Corpus Delicti", dem neuen Roman von Juli Zeh, dürfen wir einem eigenartigen Strafprozess folgen: die Protagonistin muss sich nämlich verantworten für die vorsätzliche "Verweigerung obligatorischer Untersuchungen zu Lasten des allgemeinen Wohls". Der Schauprozess findet in einer Diktatur statt, die Gesundheit zur ersten Bürgerpflicht erklärt. Sie ist nicht Privatsache, sondern juristisch und ideologisch verankert. Nicht zu den Pflichtuntersuchungen zu gehen, Giftstoffe im Urin zu haben (die Abwässer werden gescannt) oder einen Rückstand auf dem Heimtrainer rufen die Ordnungshüter auf den Plan. Die Freiheit von Körper und Seele, Krank zu werden, löscht dieser Staat aus. Die Folgen sind für die Unangepassten, nun ja, eher gesundheitsschädlich. Der wohl jedem Leser bekannte internalisierte Zwang zur Fitness mag für das Gewissen quälend sein, aber die Folgen sind eben doch drastischer, wenn das Über-Ich juristische Gesetzeskraft erlangt und sich als Vernunft ausgibt. Das man ahnt, wie die Sache ausgeht, ist der Lesefreude nicht abträglich. Der Plot trägt eher die Ereignisse, über die man erst nachzudenken beginnt und vor denen man am Ende zittert. Wie in bisher allen Romanen grenzt Juli Zeh sich mit dieser Dystopie deutlich ab von der belanglosen Popliteratur. Unbelesenen Käufern müssen ihre Romane seltsam erscheinen. So auch dieser, in dem wir sowohl einen "bad journalist" wie bei Heinrich Böll finden und in dem die Figuren mehr von der Autorin verschoben werden, ein Zugriff von außen, den man von Günter Grass kennt. Wer hier überhaupt erzählt, das erfahren wir nicht, aber die Sprache ist -- passend zur Diktatur -- geradezu desinfiziert. Der "Roman" lässt sich kaum festlegen: ist es eine Hexenjagd oder ein Polit-Thriller, eine Horrorstory oder eine Geschwisterromanze, bei der man an Antigone oder an Nabokovs "Ada" denkt? Egal, wie man sich entscheidet, der Verlauf der Handlung ist unerbittlich. Man ahnt, es geht schlecht aus und lernt: es geht noch schlimmer! Aber am Ende kommt man in die Verlegenheit sich darüber zu freuen, dass man sich noch einen Schnupfen einfangen darf ohne von den Nachbarn denunziert zu werden. Und ungefährliche Krankheiten schenken einem Lesezeit ...
