Ein neues Deutschland?
Zu Beginn dieses Jahres bat das Feuilleton der FAZ den Schriftsteller Jörg Albrecht, in Anklang an Stefan Zweigs Umbruchserfahrungen ("Die Welt von gestern") die Brüche in seiner eigenen Lebenswelt zu schildern. Leider ist nicht nur die Vermessenheit, den Erinnerungen eines schicksals- und leidgeprüften Exilanten des Zweiten Weltkrieges diejenigen eines in den BRD-Wohlstandsspeck der achtziger Jahre geborenen Jungautors gegenüberzustellen, der Redaktion anzulasten.
In seinem verhedderten Patchwork-Text "The world of morgen" beweist Albrecht vor allem, dass man im Jahr 2009, anders als in seinem Geburtsjahr 1981, weder Deutsch noch Englisch schreiben muss, um von der FAZ gedruckt zu werden. Ansonsten beschränken sich die Umbruchserfahrungen Albechts in erster Linie auf banale Beschleunigungserlebnisse vor der Videospielkonsole. Ob sich diese stark eingeschränkte Wahrnehmung daraus erklärt, dass Albrecht die meiste Zeit seines Lebens im Internet, vor dem Fernseher oder im "Strukturwandel" steckengebliebenem Ruhrgebiet verbracht hat, wissen wir nicht. Dass der Buchautor die dramatischen Zeitenwandel, die sich während seiner Lebensspanne inmitten Europas ereigneten, auf das Web 2.0 und die Erfindung der Digitalkamera reduziert, ist zweifelsohne mehr als ärgerlich. Als Altersgenosse schämt man sich ein wenig für derlei Nabelschau. Wäre doch so viel darüber zu sagen gewesen, wie sich das Deutschland, in das wir geboren wurden, in unseren Jugend- und Studienjahren einschneidend und atemberaubend rasch veränderte. (Auch für West-Deutsche.)
So bleibt es einem alten Hasen überlassen, von außen einen Blick auf "New Germany" zu werfen. Der Historiker Perry Anderson ergreift in der aktuellen Ausgabe der "New Left Review" die Gelegenheit für eine Bestandsaufnahme der tiefgehenden Veränderungen von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur in Deutschland. In einem umfassenden Essay, dessen Ausführungen vom neoliberalen Schockprogramm der Schröderjahre, über den Bevölkerungsexodus in Ostdeutschland und die neuen Kriege bis hin zu gegenwärtigen Tendenzen im politischen Denken reichen, zeichnet Anderson ein Portrait der deutschen Gesellschaft, das befreit vom alltäglichen Nachrichten-Klein-Klein die gewaltigen Veränderungen aufzeigt, die uns aus der Nahperspektive so leicht zu entgehen drohen.