Biographisches (Lohn)Abstandsniveau

Wer arbeitet soll mehr haben als ein "Transferempfänger", dafür plädiert der Außenminister. Ich plädiere dafür auch! Dass Krankenschwestern und Kellnerinnen, seine liebsten Beispiele, im reichsten Land der Welt schlicht viel zu wenig verdienen, kommt dem Vizekanzler aber leider gar nicht erst in den Sinn. Da Deutschland, anders als andere Länder, sich nicht für einen Mindestlohn entscheiden kann, müssen viele Menschen staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen, obwohl sie die ganze Woche arbeiten. Mit dem Lohnabstandsniveau stimmt also tatsächlich etwas nicht: Es ist zwischen mittlerem Management und denen ganz oben exorbitant und unverhältnismäßig hoch! Es ist unten viel zu gering, weil in den Berufen, die von Frauen (und von Ausländern) ausgeübt werden, ein erniedrigender Lohn gezahlt wird. Von zu hohen Sozialleistungen kann nicht die Rede sein -- wie sonst ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu verstehen? Der Missbrauch staatlicher Leistungen sollte natürlich genauso konsequent verfolgt werden, wie die traditionellen Vergehen der schwarz-gelben Wählerschaft: schwarze Kassen, strategische Parteispenden oder Steueroasen -- alles schadet nämlich denen, die ihre Steuern pflichtbewusst zahlen.

8% der Wählerschaft sehen das zur Zeit ganz anders. Warum? Da hilft vielleicht der exemplarische Blick auf den Außenminister: Abitur, 7 Jahre Jura-Studium, Parteikarriere, noch einmal Uni (Promotion), keine Familie zu versorgen, Beamter & privatversichert (!), nie ein öffentliches Verkehrsmittel gesehen. Wahrscheinlich über die längste biographische Zeit vollfinanziert, beide Elternteile Anwälte. Und das in einer Studienzeit ohne Studiengebühren, ohne rigiden BA-Stundenplan und in einem wohlhabenden, verschlafenen Beamten-Kleinstädtchen. Das ist einerseits eine Glückssituation und dafür muss sich kein Mensch schämen. Andererseits lässt sich aus dieser Erfahrungswelt heraus nicht auf die real existierende Gesellschaft im Jahr 2010 schließen. (Wir haben übrigens auch wieder eine "Familienministerin", die nichts als die Uni kennt.)

Hier fehlt nicht nur die Erfahrung, mit einem Job für ein paar Euro die Stunde ein Leben finanzieren zu müssen oder sogar für eine Familie die Verantwortung zu tragen. Hier spricht ein ganz unreflektiertes, einfach ererbtes kulturelles und ökonomisches Kapital -- und übt sich im Kurzschluss. Nicht nur das Lohnabstandsniveau stimmt nicht; bei einigen Politikern stimmt auch das biographische Abstandsniveau zu denen, die sie vertreten, nicht: es ist zu groß.

Kommentare

Abstandsniveau

Lieber Herr Berzbach:
dem ersten Teil Ihrer Ausführungen zum Abstandsniveau stimme ich ausdrücklich zu!

Allein die Ausführungen, dass politische Meinungen auf biographischen Erfahrungen zu fussen haben, greift zu kurz. Es ist das alte populistische Argument: es kann nur der eine fundierte Meinung zu Thema X haben, der es selbst am eigenen Leib erlebt hat. Alle anderen, wissen nicht wovon sie reden. Konkret: nur wer schon mal arm war, kann etwas zu Armut sagen. Nur wer rauschgiftsüchtig war, etwas über Drogenmissbrauch. Würde dies zur Maxime der Politiker gemacht, wäre diese Republik nicht regierbar, weil sich diese multiplen Erfahrungshintergründe bei niemandem finden. Im Gegenteil: von einer Führungskraft wird nicht Primärwissen erwartet, sondern in erster Linie die Managementkompetenz, sich dass Fachwissen anzueignen und das eigenen Ministerium zu organisieren. Etwas polemischer: es muss nicht jeder jahrelang im Dreck gewühlt haben, um zu wissen, was Dreck ist.

Ja, ja

Es muss nicht gleich ein Drogensüchtiger sein für die Drogenpolitik. Aber einen echten mal gesehen zu haben oder mit denen sprechen, die als Profis mit ihnen arbeiten -- das könnte den Horizont erweitern. Ich unterstelle dem FDP-Milieu da einen geschlossenen Horizont, leider. Anders erklärt sich nicht, dass bestimmte Ideen in der Debatte gar nicht erst auftauchen. Biographie ist nicht alles, aber Erfahrung wichtig.

"Abstandsgebot" ist

"Abstandsgebot" ist irgendwie nicht so der tolle Begriff :-(

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