Thomas Manns Tagebuch lesen (Nr. 1)
Donnerstag, den 16.III.1933
"Obgleich ich leidlich geschlafen, waren heute vom Erwachen an meine Nerven in schlechtem, beängstigenden Zustande. Die Trennung von den Meinen flößt mir Furcht ein, obgleich ich mich dessen schäme. Verzweiflung an meiner Lebensfähigkeit nach der Zerstörung der ohnedies knappen Angepaßtheitssituation."
Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. S.Fischer, Frankfurt/Main 1977, S. 6
Der Dichter vermisst seine Villa in München, seinen streng geregelten Arbeitsalltag: Morgens am Roman schreiben, nachmittags Briefe und "profunde" Lektüre, abends Musik hören und leichtere Lektüre. Freunde und die Kinder raten dringend ab, nach Deutschland einzureisen. Keiner weiß, wie unberechenbar die neue politische Polizei ist und ob nicht schon der "Schutzhaftbefehl" ausgestellt ist, auf dessen Grundlage man den Nobelpreisträger nach Dachau gebracht hätte. Auf der Vortragsreise wird er von der Machtergreifung überrascht und er ahnt noch nicht, dass er vor 1945 gar nicht mehr zurückkehren wird können. Die innere Unabhängigkeit, auch von der Familie, gerät in dieser existenziellen Situation in Gefahr. Obwohl Dichter die Freiheit brauchen, ist sie doch wohl mehr eine gepflegte Illusion. Das erkennt Thomas Mann, für den Geistesmenschen Grund genug, sich zu schämen. Selbst in der heimischen Villa, in der Mann ein großbildungsbürgerliches Leben lebt, fühlt er sich nicht aufgehoben. Intellektuelle sind, ganz gleich wie groß die Anerkennung ist, die sie bekommen, einsam. Auch unter Menschen fühlen sie sich meist allein. Sie sind unglücklich, sie widmen ihr Leben der Lektüre und dem Schreiben, beides Tätigkeiten mit dissozialen Zügen. Das Gefühl, entführt worden zu sein, bestimmt Mann auch vor 1933; aber es steigert sich zu Angst und Nervosität, wenn zum existenziellen Gefühl des Entführtseins noch die reelle Vertreibung tritt.
((Mit diesem Beitrag beginnt eine Reihe im sg-Blog, in der Fundstücke aus Manns Tagebüchern freigeistig und gelegenheitsphilosophisch interpretiert und kommentiert werden. Es sind nur 5000 Seiten; ich werde Gastautoren hinzuziehen. Das Projekt könnte eine längere Laufzeit haben, vielleicht sieben Tage, oder, wer weiß, vielleicht werden es sieben Jahre werden?))
Kommentare
Thomas Mann
Über Thomas Mann nachzudenken, fordert dazu auf, immer mindestens zwei Seiten der Person wahrzunehmen: Zum einen den skrupulösen Selbstbeobachter und zum anderen den immer irritierbaren Künstler. Jede Veränderung seiner Umgebung, seien es die Personen, sei es die Örtlichkeit, seien es die politischen Gegebenheiten, provozierten Unsicherheit. Der Verlust der Heimat machte ihn zutiefst ratlos und seine Tochter Erika konnte ihn nur schwer überzeugen, nicht nach München zurückzukehren. Sie mußte ihn zwigen, weil er eigentlich anders wollte, "draußen" zu bleiben. War ihm schon immer die die deutsche Sprache Heimat gewesen, die er mitgestaltete, so wurde sie es durch Exil und Emigration um so mehr. Die Existenz in der deutschen Sprache, in Kunst, Literatur und Philosophie war seine resistance!
W.K.