Thomas Manns Tagebuch lesen (Nr. 2)

Dienstag den 4. IV. 33 

"Der Schlaf hat ohne Nachhilfe keine rechte Ausdauer, ich erwache früh bei großer Müdigkeit am Abend."

Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. S. Fischer, Frankfurt/Main 1977, S. 36

Warum können die Dichter nicht schlafen? In Vladimir Nabokovs Autobiographie finden wir den legendären Satz "Im Einschlafen bin ich mein ganzes Leben lang schlecht gewesen." In Franz Kafkas Tagebuch den Eintrag: "Schlaflose Nacht. Schon die dritte in einer Reihe. Ich schlafe gut ein, nach einer Stunde aber wache ich auf, als hätte ich den Kopf in ein falsches Loch gelegt." (2.10.1911). Thomas Mann liefert in seinen Tagebüchern freudig Auskunft über alle gängigen Schlafmittel, die er nutzt wie Lutschbonbons. "Brom. Müde, niedergeschlagen." (9.3.1933), allerlei Namen pharmazeutischer Präparate tauchen immer wieder auf. Die Nacht ist keine Erholung, sie ist ein Gegner, sie wird zum Kampf. Aber womit? Herta Müller dachte als Kind, die Nacht sei aus Tinte gemacht -- eine Fantasie, die doch einem Dichter, zumindest zu Manns Zeiten, keine Alpträume bereiten sollte. Wenn sie aber alle nicht schlafen konnten, was taten sie? Thomas und Katia Mann hatten getrennte Schlafzimmer, wie auch Friedrich Schiller (das wäre Manns Vorbild Goethe nicht passiert!). Sex kam also nicht in Frage, der gefährdet wohl auch die Sublimierung. Einen Dichter, zumindest einen klassischen, können wir (Deutschen) uns nicht zugleich als sexuellen Helden vorstellen. Daran ändert auch Schnitzler nichts! Dichter haben in der romantischen Fantasie weder Familie noch erfülltes Sexualleben oder nur ein durch Syphilis gefährdetes Sexualleben (man denke an Franz Schubert). Sie schlafen nicht und sie haben keinen Sex und gelesen haben sie schon tagsüber. Es fehlt also eine Literaturgeschichte der Schlaflosigkeit -- ob die eines Tages ein Graduiertenkolleg liefern wird?   

 

 

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