Thomas Manns Tagebuch lesen (Nr. 3)
Basel, Dienstag den 2.V.33.
"Gestern Diner im Hotel, mit Bermanns und Annette, die mein sehr angegriffenes Aussehen feststellte. Man hielt sich nachher in einem großen, zurückgelegenen Salon auf, Annette spielte auf dem schlechten Piano eine schöne, vertraute Melodie von Chopin, und wir tranken Lindenblütenthee mit einer Citronenscheibe. Während des Essens war ich sehr erschöpft gewesen, wurde aber nachher stärker ..."
Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. S. Fischer, Frankfurt/Main 1977, S. 68
Mann trinkt nur Tee, nie Kaffee. Das lässt der Magen nicht zu, aber Tee passt auch besser -- die durchgängige altmodische Schreibweise mit "h" steigert noch diese Kultiviertheit. In den russischen Romanen, die er so liebt, wird ständig Tee gereicht; selbst in den schäbigen Hinterzimmern der Dostojewsky Romane. Aber das Anette Kolb, die Halbfranzösin, gerade Lindenblütentee reicht, das kann doch kein Zufall sein. Findet sich da ein früher Marcel Proust Fanclub zusammen?: "Und dann war mit einem Male die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntag morgen in Combray (weil ich in diesem Tage nach dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte." Auch die Erinnerung des Grüppchens in Basel findet zurück in eine untergegangene Vergangenheit. Bei Proust wird sie erinnert, in Deutschland ungute Wiederkehr. Das deutsche Exilgrüppchen ist gezwungen "von deutschen Dingen" zu sprechen. Mann, der noch den ersten Weltkrieg befeuert hatte, findet das Gegenwärtige "eine neue Form der alten deutschen Kultur-Quatscherei"; einmal mehr zeigt sich der Wandel seiner (politischen) Einstellung. Gewünscht hätte man ihnen eine Beschwörung vergangenen Salon-Lebens in Manns Münchener Villa, die sicher proustsche Züge annehmen könnte.