Kein Hitzefrei für die Soziologie
Die Gesellschaftstheorie beschäftigt sich mit nahezu allen Aspekten, die ihr relevant erscheinen. Der Einfluss der Religion sei unterschätzt, konnte man neulich lesen. Aber eins erscheint gar nicht: DIE HITZE! Die ist keine psychologische Eigenschaft, sondern hat strukturelle Wirkung. Sie verändert, was Menschen tun und lassen können. Es gibt gegen sie kaum Schutz. Während Bewegung gegen Kälte hilft, sind wir hohen Temperaturen einfach ausgeliefert. Dass es kein schlechtes Wetter gäbe, sondern nur die falsche Kleidung -- dieses Sprichwort definiert ungute Wetterlagen nur im Hinblick auf Kälte und Regen; dabei sind die kaum ein Problem mehr, seit der Mensch Wolle verarbeiten kann und Regenschirme benutzt. Und richtige Kleidung hilft eben nicht gegen Hitze; die Nackheit hat gleich mehrere Limitationen, selbst in der pornographisierten Gesellschaft: wir können weder nackt zur Arbeit gehen, noch mehr als alles ausziehen. (Fragen Sie einmal einen Lehrer.)
Dass die Hitze auf die Kultur einwirkt, sehen wir in den Ländern, in denen man zu Leben versteht: Italien, Spanien, Portugal, Südfrankreich, Griechenland. Siesta ist dort kein moralisches Vergehen, sondern lebensbejahende Anpassung. Sie erhöht die Geburtenrate, lässt die Menschen in Ruhe essen und Lethargie als Kulturgut erscheinen. Mann rührt langsam den nächsten Espresso um. Das Wetter könnte sich also als Gegenmacht zu Beschleunigung und zum flexiblen Kapitalismus erweisen. Wenn in Spanien die Wirtschaftspolitiker schimpfen, die Siesta sei ein wirtschaftlicher Nachteil, dann wünscht man sich die sofortige Entfernung der vollklimatisierten Herren aus ihren Ämtern. Der Kulturbeitrag der Siesta ist ebenso wichtig wie die Gemälde im Prado. Es gibt Volkswirte, die denken -- noch Max Weber und nicht nur Mathematik wahrnehmend -- über den Zusammenhang von Konfession und Arbeitsmoral nach. In protestantischen Ländern wird länger gearbeitet und weniger Urlaub gemacht; die Menschen sind unzufriedener. (Zudem dürfen sie nicht sündigen, weil sie nicht beichten können.) Aber was ist mit dem Wetter? Mit der Hitze? Ist Südeuropa deshalb katholisch? Und ist das in der postsäkularen Gesellschaft überhaupt die zeitgemäße Lösung?
Also ein weiterer Vorschlag für ein Graduiertenkolleg: "Wetter, Kultur und Gesellschaft"! Die Gruppe sollte unbedingt im Süden ansässig sein und sich erst ab 30°C treffen.

Kommentare
Soziologie des Wetterschutzes
Die These, dass die Soziologie eine Auseinandersetzung mit der „Hitze“verpasst habe, möchte ich so nicht stehen lassen, denn implizit wurde siesehr wohl thematisiert. Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias hatbeispielsweise die zunehmend höhere Kontrolle über Naturereignisse alsGrundlage der abendländischen Zivilisation herausgearbeitet. Dabei wurdendie Menschen sukzessiv immer weniger abhängig von den Unberechenbarkeitender Natur (wie Hitze, Kälte, Sturm, Regen, Überschwemmungen usf.), aberabhängiger voneinander. Dieser Verschiebung der Abhängigkeitsbalance vonnatürlichen zu sozialen Einflussfaktoren verdanken wir den Prozess des„langfristigen Verhäuslichens der menschlichen Vitalfunktionen“ (Gleichmann)– sprich: der Architektur unserer Häuser, in deren abgedunkelten Ecken wiruns bei großer Hitze verkriechen und deren Öffnungen wir geschickt zumDurchzug nutzen können.Ich möchte daher als alternativen Vorschlag eine mehrwöchige Exkursion (alsForschungsmodul) ins Gespräch bringen: "Wetterschutz als kulturelleLeistung“. Die Studiengruppe testet im Sommersemester bei Temperaturen ab30°C ausgewählte Architekturbeispiele (Wohnhäuser und Hochschulgebäude) anden Untersuchungsorten Istanbul, Lissabon, Köln, Amsterdam, Stockholm undRiga auf ihre hitzeschützende Wirkung. Im Wintersemester kann in gleicherWeise bei Temperaturen ab -10°C der Kälteschutz untersucht werden, umabschließend das in den verschiedenen europäischen Regionen verbreiteteimplizite zivilisatorische Wissen über den Hitze- und Wetterschutz zu bewerten. H.S.
Hitze kann töten
Sorry, aber daß es gegen Hitze "kaum Schutz" gäbe oder daß wir ihr "einfach ausgeliefert" wären, ist völliger Unsinn, denn natürlich gibt es moderne Klimaanlagen, und nicht nur für die Elite der Wirtschaftspolitiker. Im Kleinformat sind mobile Anlagen heute schon für wenige hundert Euro in jedem Baumarkt zu haben und damit für die Mehrheit der Bevölkerung erschwinglich. Der Rundumdauerbetrieb schon weniger, allerdings geht es im Grunde dabei und im Unterschied zur Heizperiode nur um wenige Wochen im Jahr. Die soziologischen Fragen, die sich daraus ableiten, sind damit die gleichen wie bei tausend anderen Themen auch: materielle Privilegien, soziale Ungleicheit, Verteilungsgerechtigkeit usw. (z.B. einfach mal auf den Unterschied der Arbeitsbedingungen zwischen manchen Billig-Discountern oder Drogeriemärkten und klimatisierten Supermärkten für hochpreisige Produkte achten!)
PS: Richtige Kleidung hilft zwar tatsächlich nicht gegen Hitze aber falsche Kleidung kann sie zusätzlich verschlimmern. Ernährung wäre ein weiteres umfangreiches Thema, Architektur auch.
PS 2: Das wirkliche "soziologische" Problem einer Hitzewelle, das seit Jahren völlig bagatellisiert wird, ist vor allem ihre Auswirkung auf alte und kranke Menschen. Ich habe gerade die genauen Statistiken nicht zur Hand, aber vor wenigen Jahren sprach man von zehntausenden von zusätzlichen Toten in Deutschland und Frankreich, als die Temperaturen ähnliche Rekordwerte erreichten. "Der Prozeß der Zivilisation" ist eben noch nicht soweit, als daß man die technisch längst erreichten Möglichkeiten auch praktisch flächendeckend umsetzte...
Guter Hinweis
Der Mensch hat biologisch-medizinisch der Hitze wenig entgegen zusetzten; Klimaanlagen sind natürlich möglich, für die Schönen und Reichen. Die Rede vom "Jahrhundertsommer" 2003 aber überdeckt tatsächlich eine Hitzekatastrophe mit zehntausenden Opfern in Europa. Aber wie entsteht die Wahrnehmungsverzerrung? Wer hat einen Vorteil, "Wüstenbildung" in Zentraleuropa als "schönes Wetter" zu begreifen? Es kratzt zu sehr an den psychologischen Funktionen der (kranken) Leistungsmoral, es stößt uns zu sehr auf Erderwärmung und Umweltverschmutzung ... lieber also blind werden für die extremen Temperaturen.