Thomas Manns Tagebuch lesen (Nr. 4)

Sonntag den 17.XII.33

 "Nach dem Thee korrespondiert."

Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. S. Fischer, Frankfurt/Main 1977, S. 270

Nur vier Wörter bringen eine doppelte historische Distanz zu Bewusstsein. Die erste erzählt von einer vergangenen Tischkultur, die zweite gibt Einblick in die Mediengeschichte. Tee oder Kaffee, das hieß im bürgerlichen Zusammenhang nicht nebenbei ein Heißgetränk zu schlürfen oder gar mit einem Pappbecher "to go" über den Bahnsteig zu eilen. Tee ist im Westen einerseits ein Getränk, andererseits ein kulturhistorisch bedeutender gesellschaftlicher Anlass. Für ihn wurde der Tisch gedeckt, es kamen vielleicht Gäste und die Uhrzeit stand fest. Eine Stunde wurde auf Medien verzichtet, kein Telefon störte, kein Radio dudelte nebenher. Die älteren Kinder und die Gattin, vielleicht die (Schwieger)Eltern oder geladene Gäste am Nachmittag -- eine Stunde Gespräche und passendes Gebäck. Erst der Tee, dann etwas anderes; eine Zeit vor der Erfindung des Multitasking. Erst nachdem vom Tisch aufgestanden wurde, widmete man sich etwas anderem –– der Korrespondenz. Auch die ist heute digitalisiert und somit unschädlich gemacht: Früher kamen mit der Schneckenpost wichtige Briefe, sie landeten in einer schönen, ledernen Mappe. Sie wurden archiviert. Gestärkt vom Tee am Schreibtisch sitzen, Briefe (wieder) lesen, die Antworten entwerfen und ungestört verfassen. Während man schrieb, trafen nicht neue E-Mails ein, die die eben verfasste Antwort überflüssig machen. Weder Spam noch Rundmails belästigten die Leser. So entstanden bedeutende Werke neben den Romanen. Fontane, Kafka, Rilke; Heinrich, Thomas und Klaus Mann: sie wären auch dann bedeutend, wenn nur ihre Briefe gerettet worden wären. 

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