Hörsaalmüdigkeit

„War es denn ähnlich mit den Müdigkeiten der Studienzeit? Nein. Kein Schuldgefühl mehr. Die Müdigkeit in den Hörsälen ließ mich mit den Stunden im Gegenteil sogar aufsässig oder aufbegehrend werden. Es war in der Regel weniger die schlechte Luft und das Zusammengezwängtsein der Studentenhunderte als die Nichtteilnahme der Vortragenden an dem Stoff, der doch der ihre sein sollte. Nie wieder habe ich von ihrer Sache so unbeseelte Menschen erlebt wie jene Professoren und Dozenten der Universität; jeder, ja, jeder Bankangestellte, beim Hinblättern der, gar nicht seiner, Scheine, alle Straßenteerer in den Hitzeräumen zwischen Sonne oben und Teerkoch unten wirkten beseelter. Wie mit Sägemehl ausgestopfte Würdenträger, deren Stimmen keinmal von dem, was sie besprachen, in ein Schwingen des Staunens (des guten Lehrers selber über seinen Gegenstand), der Begeisterung, der Zuneigung, des Sich-Fragens, der Verehrung, des Zorns, der Empörung, des Selber-nicht-Wissens gebracht wurden, vielmehr unablässig nur leierten, abhakten, skandierten – freilich nicht im Brustton eines Homer, sondern dem der vorweggenommenen Prüfung –, höchstens zwischendurch mit dem Unterton eines Witzelns oder einer hämischen Anspielung für Eingeweihte,
während es draußen vor den Fenstern grünte und blaute und dann schon dunkel wurde: bis die Müdigkeit des Hörers in Unwillen, der Unwille in Übelwollen umschlug.“

Peter Handke (1989): Versuch über die Müdigkeit, S. 9f.

Anzeigen
Anzeige
backprinttop