«Die Mauer». Von allen Seiten

Buchcover Die Mauer

Müsste man einem entsprechenden Werk weniger als „großen Facettenreichtum“ bescheinigen, Verlag und Herausgeber hätten grundlegend etwas falsch gemacht. Tatsächlich schafft es Herausgeber Klaus-Dietmar Henke mit „Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung“, das geschichtsträchtige Bauwerk von allen Seiten zu beleuchten. Der bei dtv-Premium erschienene Band umfasst auf 468 Textseiten 29 Aufsätze, deren Spannweite von der weltpolitischen Einordnung über die Deutschlandpolitik in West und vor allem auch in Ost und die Kunst bis hin zur Erinnerungskultur reicht.

Dass „die Mauer“ eigentlich gar keine Mauer war, erfährt der Leser gleich im einführenden Aufsatz des Herausgebers. Mit der bedeutenden Rolle des „Mauer“-Topos, um den es eigentlich geht, setzt sich Leo Schmidt auseinander. So waren es nicht zuletzt Überlegungen zur Außenwirkung, die die DDR-Spitze dazu brachten, statt der praktischeren Drahtsperren eine Mauer zu errichten – als „Symbol für Entschlossenheit – und auch für eine Dauerhaftigkeit, die zu diesem Zeitpunkt aber noch keineswegs beschlossene Sache war“, wie er darlegt. In der westlichen Welt hingegen sei die Mauer-Ikonographie mehr von dem Gedanken an ein Instrument zur Freiheitsunterdrückung verknüpft gewesen. Das von Schmidt erwähnte Foto des Unteroffiziers Conrad Schumann, der mit einem kräftigen Sprung den Stacheldraht überwindet, ist mir aus meinem eigenen, westdeutschen Geschichtsbuch geläufig.

Mehr als nur eine Ergänzung zu Schmidts Auseinandersetzung mit der bildlichen Sphäre ist die Gegenüberstellung der sprachlichen und medialen Stilisierungen der „Mauer“ in West und Ost durch Elena Demke. So lernt man als Nachgeborene, dass parallel zur leicht durchschaubaren Rede vom „antifaschistischen Schutzwall“ in der DDR in Westdeutschland mit ähnlicher Vehemenz die Figur des „Ulbricht-KZs“ bemüht wurde – und dies durchaus im Bewusstsein des vollen Bedeutungsumfangs. Demke erörtert aber auch, inwiefern der „antifaschistische Schutzwall“ die Fortführung der kommunistischen Ideologie und somit mehr als eine Augenblicksbildung war. Schließlich galt die Abschottung nach außen seit der Abkehr Lenins vom weltweiten Kommunismus-Export als probates Mittel beim „Aufbau des Kommunismus in einem Land“ – und alle Gegner dieses Vorhabens als „Faschisten“.

Damit ist Demkes Beitrag anschlussfähig an andere in dem Sammelband, die sich anstelle der Symbolik unmittelbar mit den ideologischen, vor allem aber den realen Hintergründen des Mauerbaus und der deutschen Teilung in der DDR auseinandersetzen. So macht Michael Kubina in seinem Beitrag „Die SED und ihre Mauer“ den ideologischen Hintergrund des Mauerbaus explizit, wenn er die Mauer als „Gefängnismauer zur Rettung des sozialistischen Experiments“ bezeichnet. Mit einer ausführlichen Erörterung verbindet er Ulbrichts Rechtfertigung für den „antifaschistischen Schutzwall“ mit Rosa Luxemburgs Menetekel von „Sozialismus oder Barbarei“. Beide seien von der Überzeugung gestützt, dass „Marxisten-Leninisten über die einzig ‚wissenschaftliche Weltanschauung‘ verfügen“. Die Umdeutung aller Vorteile des Westens in Chimären und Lockmittel verwundert vor diesem Hintergrund nicht.

Noch tiefer ins Innerste der DDR-Ideologie und vor allem der aus ihr resultierenden Politik dringen Thomas Lindenberger und Gerhard Sälter vor. Während Lindenbergers Aufsatz argumentativ brillant und in den Fakten detailreich nachzeichnet, welche alltäglichen Begrenzungen die mauergesicherte sozialistische Gesellschaft mit sich brachte, erörtert Sälter mit der gebotenen Nüchternheit, wie die SED Zivilisten – Verwaltungsmitarbeiter, Vorgesetzte und weitere – „gegen den inneren Feind mobilisiert[e]“. Das Ergebnis war, wenn auch von vielen DDR-Bürgern durchschaut und von nicht wenigen boykottiert, in Sälters Worten ein „ubiquitäres Grenzregime“. Gemeint ist damit nichts anderes als der berüchtigte Überwachungsstaat, den der Autor hier in den Kontext einer vom Regime gewollten Erziehung der Bürger zum Sozialismus im „geschützten Raum“ stellt.

Wenn auch niemals entschuldigend, so wecken viele Beiträge in „Die Mauer“ doch Verständnis – immer im Sinne intellektueller Nachvollziehbarkeit – für die Handlungen der DDR-Führung. Vertreten sind in dem Band außerdem zeitgeschichtliche Beiträge klassischen Inhalts, namentlich die Einordnung in das weltpolitische Geschehen durch Michael Lemke und die Erörterung der Rolle der DDR und Ulbrichts – ihrer Absichten und Handlungsspielräume – durch Manfred Wilke. Diese Aufsätze sind aber, wohl wegen ihrer Informationsdichte und impliziten Verknüpfung mit einem weiteren historischen Horizont, die am schwersten lesbaren des gesamten Bandes. Äußerst empfehlenswert, da ebenso komplex, aber mit einem Schuss Agenten-Thrill ausgestattet, ist dagegen Daniala Münkels Aufsatz „CIA, BND, MfS und der Mauerbau“. Wie es der Titel verspricht, geht es hier um die Einschätzungen der jeweils anderen Seite durch die Geheimdienste – und das gegenseitige Wissen um diese Einschätzungen. Dabei sticht auch anhand der quellengesicherten Fakten die gute Vernetzung und der leichtfüßige Zugang der Staatssicherheit zum Westen heraus, neben den Agenten, die für beide Seiten unvermeidlich die Bühne betreten. Aufschlussreich auch, dass die Regierungen selten auf ihre Spionagetruppen hörten – und sich nach außen unwissender gaben, als sie tatsächlich waren.

Die »Mauerkunst« eingerechnet, behandeln gleich sieben Beiträge den Umgang mit Mauerrelikten von der Wendezeit bis heute. Dass dieses Thema bis heute ideologische Kontroversen und schwer zu überbrückende Interessenkonflikten hervorruft, stellt Konrad H. Jarausch im Hinblick auf den ehemaligen Alliierten-Übergang „Checkpoint Charly“ in der Berliner Friedrichstraße kurz und bündig dar. Die volle Wucht der Auseinandersetzung um das richtige Gedenken, aber vielmehr noch um dessen Stellenwert gegenüber den praktischen Bedürfnissen von Anliegern, schildern Gabriele Camphausen und Manfred Fischer in „Die bürgerschaftliche Durchsetzung der Gedenkstätte an der Bernauer Straße“. Der im Stil eines Berichts verfasste Beitrag lässt die Turbulenzen geradezu spüren, die jeder Vorstoß der Bürgerinitiative, jeder offenen Brief eines Bundespolitikers und letztlich auch die Freigabe der benötigten Gelder durch die Politik verursachte. Die Erinnerungskultur scheint damit zurecht ein besonderes Anliegen des Herausgebers von „Die Mauer“ zu sein.

Alles in allem ist dem dtv mit „Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung“ ein vielfältiges, in seinen Einzelbeiträgen fundiertes Sammelwerk gelungen. Die Beiträge sind nicht strikt nach inhaltlichen Gesichtspunkten angeordnet, und aufgrund der hohen Informationsdichte und der Bandbreite des Gesamtwerkes empfiehlt es sich, seinen Inhalt in maßvollen Portionen zu genießen. Beiträge wie » Mauerkunst « und „Mauerrelikte“ bieten unter anderem Anhaltspunkte, sich vor Ort vertieft mit der Mauer und den mit ihr assoziierten Themen auseinanderzusetzen. Ansonsten eignet sich der Sammelband als Geschichtslektüre, die weit über das gewohnte Themenspektrum von Berlinblockade und Blöcke-Konfrontation hinausgeht, und in dieser schillernden Pose zu überzeugen weiß. Die Mauer. Von allen Seiten.

back print top