sciencegarden Blog

So soll es sein!

Konzentriertes Arbeiten in einem Seminar (Japan)
Seit einer guten Woche bin ich jetzt in Japan. Und es ist keine dieser Reisen, deren Ende ich herbeisehne und während derer ich mich dauernd des politisch inkorrekten Gedankens erwehren muss: "Die sollten das besser so machen wie bei uns." Im Gegenteil denke ich häufig: "Warum können wir es nicht so machen wie die Japaner?"

Zum Beispiel Reisen: Trotz Dutzender Gäste ist das Riesenhotel, in dem ich meine Nacht auf japanischem Boden verbringe, nicht laut. (Und es ist keinbesonders teures.) Vor dem Einsteigen in den Zug herrscht kein Gedränge, sondern man steht ruhig und gesittet an - getrennt in 2 Reihen für die Raucher- und Nichtraucherwagen. Im Zug dann: Stille. Die Handys sollen auf "lautlos" gestellt werden und man folgt diesem Hinweis offenbar. Gespräche finden statt, aber leise und kurz.

Die Klingel meines Fahrrads habe ich trotz enger Radwege noch kein einziges Mal benutzt. Und auch in Geschäften - wo es häufig so voll ist wie bei uns nur an den Samstagen vor Weihnachten, gibt es keine Rempler, kein Kindergeschrei (aber Kinder!) und schon gar kein Vordrängeln an der Kasse. Selbst Fehleingaben in die Kasse zu meinen Ungunsten werden aus freien Stücken korrigiert!

Auf den Unialltag übertragen bedeutet dies, dass ich mir mit 3 anderen Doktoranden das Büro teilen kann, ohne je aus der Konzentration gerissen zu werden. Auf unserem Gang arbeiten rund 25 Personen - gern auch spätabends und am Wochenende. Das gilt nicht nur für Professoren und Doktoranden, sondern auch für die Studierenden.

Bachelor und Master verfügen je über einen Arbeitsraum am Lehrstuhl "ihres" Profs - und machen davon offenbar regen Gebrauch. Wie eifrig die tatsächliche Zusammenarbeit ist, kann ich nicht beurteilen. Aber man stört sich zumindest nicht und schafft füreinander eine motivierende Atmosphäre. Wenn wir das doch auch so machen würden!

Personenkult

"Aus der Soziologie kennt man das Phänomen der Personalisierung: die unter den Bevölkerungen verbreitete Tendenz, entfremdete und verhärtete Verhältnisse, undurchsichtige politische Vorgänge dem Bedürfnis nach lebendiger Erfahrung dadurch, scheinbar, zurückzugewinnen, daß man sie durchs Verhalten einzelner Menschen erklärt und an diese sich hält. Die bei amerikanischen Wahlen gängige Suggestion, es gelte, den besten Mann zum Präsidenten zu wählen, ist der Prototyp jener Tendenz; ihr folgt auch die Illustriertensitte, irgendwelchen Prominenten, die für das reale Schicksal der Menschen nichts bedeuten, eine Publizität zu verschaffen, die vortäuscht, es hinge von den Hochgespielten und ihren privaten Affären wunders was ab, ohne daß das übrigens von den Konsumenten ganz geglaubt würde."

Theodor W. Adorno: Wien in dieser Jahreszeit. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 138, 10./11. Juni 1967. 

Publish or perish?

Seit Jahren wird in Deutschland an den Universitäten herumgedoktert. Zwischenstand: 2 Exzellenzinitiativen, 9 Elite-Unis, dutzende Promotionsschulen, mehr Internationalisierung - und Geldmangel, Überstunden, Karriererisiken wie eh und je. Schlecht geht es hierzulande vor allem dem Rückgrat des akademischen Betriebs: dem Mittelbau. Lehrverpflichtung, Lehrstuhlarbeit, heimlicher Zwang zur Habilitation, zu wenige Juniorprofessuren und der alternativlose Karriere-K.o mit Anfang 40 machen die Universitätslaufbahn zum Lebensrisiko.

All das ist hinlänglich bekannt. Eher halboffiziell, aber nicht weniger dringend reformbedürftig ist hingegen jenes Mittelbau-Problem, das gerne auf den griffigen Slogan “publish or perish!” – zu Deutsch: publiziere oder stirb – gebracht wird. Dahinter verbirgt sich der betrübliche Umstand, dass nur, wer möglichst eifrig viel bedrucktes Papier ausgestoßen (und dabei im Zweifelsfall eher Masse statt Klasse produziert) hat, sich auch an den Fleischtöpfen der Wissenschaft laben darf. Ohne eine ansehnlich lange Publikationsliste, gespickt mit reichlich Impact-Faktoren, keine Berufung zu höheren Weihen!

Die inzwischen gängige Praxis – das Schielen nach Output und Impact, Masse statt Klasse – stellt das wissenschaftliche Selbstverständnis auf den Kopf: Während man einst einen Artikel schrieb, um einen wichtigen Befund mitzuteilen, ist heute das Schreiben und Veröffentlichen in Zeitschriften häufig nur noch Selbstzweck bzw. Mittel der Karriereplanung.

Wie wirkt sich diese Entwicklung auf die Arbeitsweise von Forscherinnen und Forschern aus? Bleiben wissenschaftliche Neugier und ergebnisoffenes Arbeiten möglicherweise auf der Strecke, wenn Forschungsthema und -design immer schon mit Blick auf die Publizierbarkeit der Ergebnisse konzipiert werden? Und welche Rückwirkungen hätte dies auf das “Unternehmen Wissenschaft”?
Ein mehrstündiger Workshop mit anschließender Podiumsdiskussion geht diesen Fragen – und möglichen Antworten bzw. Lösungen – am 26. Oktober im KörberForum Hamburg nach. Ein ausführliches (vorläufiges) Programm findet sich hier. Anmeldungen werden von der Körber-Stiftung entgegengenommen.

Studentin auf Probe

Eine Woche lang (vom 18.10.10 bis zum 22.10.10.) dürfen Mädchen ab der 10. Klassenstufe Studentinnen auf Probe an den beteiligten Hochschulen, der Technischen Fachhochschule Wildau, der Fachhochschule Brandenburg, der Fachhochschule Potsdam, der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung sowie der Universität Potsdam sein. Unter anderem können sie den Arbeitsalltag an einem Forschungsinstitut, Übungen und Experimente im Labor machen und mehr über den Studienalltag, Arbeitsmarktperspektiven und Studienmöglichkeiten erfahren. Studierende der kooperierenden Hochschulen laden zu praxisorientierten Workshops ein.

Weitere Informationen gibt es hier: www.brisant.uni-potsdam.de.

Bad News

Der 6. August ist weltgeschichtlich betrachtet kein unschuldiges Datum. Vor 65 Jahren explodierte an eben diesem Tag die Atombombe über Hiroshima. Vor drei Tagen starb in New York der berühmte Historiker Tony Judt an den Folgen einer 2008 diagnostizierten Amyotrophen Lateralsklerose (an der auch sein Landsmann, der ebenfalls weltbekannte Physiker Stephen Hawking leidet).

Judt engagierte sich in jungen Jahren in der zionistischen Bewegung für den damals ebenso jungen Staat Israel, wurde später einer der schärfsten (und scharf attackierten) Kritiker der israelischen Palästinenserpolitik und setzte mit seinem opus magnum "Postwar", zu Deutsch: "Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart", bleibende Maßstäbe. Niemand vor ihm hat die lange Epoche des Kalten Krieges, die mit dem Abwurf der Atombombe beginnt und - laut Judt - 1989 endet, so klug und kenntnisreich, so souverän und inspirierend erzählt, wie der Gründer und Leiter des renommierten Remarque Institute zum Studium der amerikanisch-europäischen Beziehungen.

Tony Judt verkörperte - profiliert und streitlustig - den typisch "alteuropäischen" Intellektuellen, gepaart mit angloamerikanischer Klarheit. Er schätzte Europa wegen seiner sozialpolitischen Errungenschaften und er liebte seine zweite Heimat Frankreich, über dessen Geistesgrößen er geschliffene Essays verfasste (z.T. erschienen in: "Reappraisals. Reflections on the Forgotten Twentieth Century").

Tony Judt, dessen intellektuelles Leben mit der Liebe zu den Wörtern am elterlichen Familientisch begann, hat sich bis zuletztschreibend und dozierend gegen seine Krankheit gestemmt - wie Sisyphos, von dem Judts großes Vorbild Albert Camus einst schrieb, man müsse ihn sich als einen glücklichen Menschen vorstellen. Eine berührende Vorstellung vom Denker - und vom Menschen - Tony Judt bewahrt dieser sehenswerte Kurzfilm.

Der 6. August war wieder kein besonders guter Tag.

Thomas Manns Tagebuch lesen (Nr. 7)

Donnerstag den 12.VII.34
 
"Auch die Verhunzung der 'Anständigkeit'. (...) Goebbels, der erklärt, die Regierung habe das Volk über die Ereignisse des 30. Juni mit beispielloser Offenheit und Redlichkeit aufgeklärt. Die Anständigkeits-, Schlichtheits-, Tugend-Propaganda für die kleinen Leute. Man wirft ihnen die Homosexualität als moralischen Köder hin -- als ob sie nicht wesentlich zur Bewegung, zum Kriegertum, ja zum Deutschtum gehörte. Eine besondere Niedrigkeit."
 
Thomas Mann: Tagebuch 1934. S.Fischer, Frankfurt/Main: 1978
 
Ende der 1970er Jahre wird Klaus Theweleit mit seiner Untersuchung zu den "Männerphantasien" berühmt. Die mag umstritten sein und heute zeigt die Täterforschung sicher ein differenzierteres und empirisch belastareres Bild. Aber wie immer bei der Psychoanalyse: sie entwickelt eine Deutungskraft, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Vielleicht sollte man daher allein aus intuitiven Gründen Freud nie ganz ad acta legen. Theweleit zeigt an den Schriften der Krieger, Soldaten und Generäle unter anderem, wie erotisch Männer-, Schäferhund- und Pferdekörper geschildert werden. Ende der 1970er Jahre erscheint auch Thomas Manns Tagebuch und lässt wenig Zweifel daran, dass der Autor schwul war. Aber was geht aus einer unterdrückten sexuellen Orientierung hervor? Thomas Mann sieht früh und klar die verkappte Homosexualität faschistischer Männerbünde. Aber was ist mit ihm selbst? Mit seinem ungelebten Leben? Freud beschrieb zwei Triebe und die Wege der Sublimierug: Mann verwandelt sein ungelebtes Leben in hochkulturelle Textbeiträge, die mit Unglück erkauft sind. Sonst bleibt nur der fatale Mechanismus der Projektion. Der soldatische Körper verzichtet ebenfalls auf das Ausleben männlicher Erotik, und sublimiert dies mit einem Körperpanzer, mit Hass und Gewalt gegen Frauen. Die Unterdrückung wird bedroht, wenn die schönen Frauen (oder die Knaben) ins Bild laufen. Clawdia Chauchat vom Russentisch, die die Tür so laut schlägt, verfolgt den Helden des Zauberbergs. Währen die Krieger mit ihren Untaten doch fähig gewesen, zu schreiben, wahrhaft zu lesen oder zu malen! Wieviel Leid wäre erspart geblieben. Die schreibenden "Wolllüstlinge des Krieges", so Mann über Ernst Jünger, mussten selten Hand an legen, um ihr Glück zu finden. Lieber Tagebuch oder Romane schreiben. Das ist nicht viel, aber schon ein Kulturbeitrag. Ist der Weg versperrt, so bleibt die männliche Barbarei. Kultur hingegen ist gedacht als Barbareiverhinderungssystem. 

Thomas Manns Tagebücher lesen (Nr. 6)

Basel, Donnerstag den 4.V. (1933)
 
"Die Hauptsache ist, dass ich irgendwo zur Ruhe komme, auspacke, mich installiere und gleichmäßige Arbeitstage habe, eine förderliche Lebensordnung."
 
Thomas Mann: Tagebuch 1933-1934. S.Fischer, Frankfurt/Main 1977
 
Wie kommt es eigentlich, dass in nur 80 Jahren genau das Gegenteil vielen als "förderliche Lebensordnung" erscheint? Lieber einpacken und aufbrechen; keinen Ballast ansammeln und bloß keinen langweilenden Rhythmus der Arbeitstage haben -- so das Mantra globalisierter Arbeit. Die neuen Medien, vom TV bis zum iPad sind erfunden, damit dem Mensch nicht in der Risikozone seelischer Ruhe landet, die untragbare Bedrohungen postmoderner Identität bereit halten: Stille, Alleinsein, Konzentration, Präsens und Achtsamkeit, sich spüren und einen Gedanken zu Ende denken. 
 
Zur Ruhe kommen, das bezieht sich bei Thomas Mann auch auf einen Alltag, der ihn befreit von allerlei Sklavenarbeit. Sein Werk entsteht, weil er nicht die Betten machen, Getränkekästen schleppen, seine Kinder hüten und die Küche putzen muss. In der emanzipierten Welt ohne Hausangestellte ist das allerdings unmöglich. Wir hätten sogar Skrupel; uns bedienen lassen erscheint als moralisches Vergehen. 
Welcher Schriftsteller heute könnte sich im eigenen Haus wohl fühlen, wenn Vollpension herrschte? (Martin Mosebach natürlich ausgenommen.) Es ist ein Fortschritt, dass die gesellschaftliche Gleichheit zugenommen hat (auch wenn sie rapide wieder abnimmt). Aber aus der egoistischen Perspektive der Geistesarbeit & der Kunst, sogar die Moral außer acht gelassen: Welchen Vorteil hat es für ein Lebenswerk, wenn wir unsere eigenen Zimmermädchen und Küchenjungen sind, wenn Männer und Frauen Kinder vollzeitlich selbst umsorgen und bespielen, wenn in einer nicht-bürgerlichen Gegenwart die (klein)bürgerlichen Ordnungsvorstellungen weiter gelten? Wir sind ordentlich und reinlich bis zur Neurose, alle Zumutungen männlicher und weiblicher Drehbücher gelten für beide Geschlechter; wir lieben den Altbau, müssen aber viele viele Stunden in die Hausarbeit investieren, damit das Heim aussieht wie in "Schöner Wohnen". 
 
Die Literaturproduktion bleibt also eine unbürgerliche Veranstaltung. Eine ihr förderliche Lebensordnung wird durch Gesetze der Erwerbsarbeit gestört. Und heute zudem noch von Hausarbeit und do-it-yourself-Ideologie. Thomas Mann hatte das seltene Glück, sogar im Exil die produktiven Arbeitsbedingungen wieder zu gewinnen. Wir müssen heute nicht ins Exil, die "förderliche Lebensordnung" ist, finanziell wie ideologisch, generell zerstört. 

Thomas Manns Tagebuch lesen (Nr. 5)

Dienstag den 4.IV.33.

"Nach dem Frühstück Gespräch mit K. über die Zukunft der Kinder, namentlich die von Klaus, auch über unsere unsicheren Aussichten, und dass eigentlich unter den Freunden in der Welt sich hilfreiche, ein Heim bereitstellende Gönner finden müssten. Die wirtschaftlichen Verhältnisse wiesen nach Südfrankreich, Italien. Aber mein Wunsch, nicht von gewohnten Kulturbedingungen abgeschnitten zu sein, nach Zürich oder Winterthur."

Thomas Mann: Tagebuch 1933-1934. S.Fischer, Frankfurt/Main 1977. 


Frühstück bei den Manns, bildungsbürgerliche Morgenlage: Zukunftsfragen, Sorgenkinder, Künstlermalaise. À première vue wird hier zu feinem „Thee" und importierter Orangenmarmelade auf hohem Niveau gejammert. Der Dichter präsentiert sich in seinen Aufzeichnungen als larmoyanter Familienkantor. Tief bürgerlich und doch längst vom Durchschnittsleben ausgemustert, erklingt - gewiss auch unter dem Eindruck derneuen Machtverhältnisse - sein Klagelied: Mögen uns die Gönner beistehen!

Wie Recht er damit hatte, und noch heute hat. Denn wofindet sie statt, die „Revolution der gebenden Hand", von denen der (längst auch finanziell) etablierte Schriftsteller Peter Sloterdijk unlängst fabulierte? Wo sind sie, die Mäzene, die bunte Plakate in Cafés und Universitäten aufhängen: „Biete wahlweise Stipendium/Haus am See/Ferienwohnungim Tessin für mittellose Poeten und Denker. Voraussetzungen: keine!"; wo die Vorstandsvorsitzenden und Finanzjongleure, die aus Unmut über zu viel spätrömische Dekadenz im Investmentbanking irrlichternde Renditen in Optionenauf freie Denk- und Arbeitsräume umwandeln? - für Menschen, die kaum mehr benötigen als einen bescheidenen Unterhalt plus Büchergeld und Laptop, um krisenresistentes (Welt-) Kulturerbe zu akkumulieren.

Frühstück 2010: Immer noch Zukunftssorgen. Was soll nur aus den Kindern werden? Statt Südfrankreich Drittmittelakquise mit Teebeutel. Mäzene, bitte melden! 

Christian Dries (Philosoph)

Pilgerorte der Wissensgesellschaft

Gibt es eigentlich Pilgerorte der Moderne? Diese Frage stellten sich bekannte Schriftsteller, Forscher und Journalisten. Auf der Suche nach einer Antwort führen sie in dem Buch "Mekkas der Moderne" quer durch den Kosmos der globalisierten Wissensgesellschaft. sciencegarden lädt Sie mit der Veröffentlichung einiger ausgewählter Kapitel auf die Reise ein - und zur Reflexion, was eigentlich Ihr ganz persönliches Pilgerziel wäre. Etwa das Aspen Center for Physics in Colorado oder die United Nations University in Tokio?

Thomas Manns Tagebuch lesen (Nr. 4)

Sonntag den 17.XII.33

 "Nach dem Thee korrespondiert."

Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. S. Fischer, Frankfurt/Main 1977, S. 270

Nur vier Wörter bringen eine doppelte historische Distanz zu Bewusstsein. Die erste erzählt von einer vergangenen Tischkultur, die zweite gibt Einblick in die Mediengeschichte. Tee oder Kaffee, das hieß im bürgerlichen Zusammenhang nicht nebenbei ein Heißgetränk zu schlürfen oder gar mit einem Pappbecher "to go" über den Bahnsteig zu eilen. Tee ist im Westen einerseits ein Getränk, andererseits ein kulturhistorisch bedeutender gesellschaftlicher Anlass. Für ihn wurde der Tisch gedeckt, es kamen vielleicht Gäste und die Uhrzeit stand fest. Eine Stunde wurde auf Medien verzichtet, kein Telefon störte, kein Radio dudelte nebenher. Die älteren Kinder und die Gattin, vielleicht die (Schwieger)Eltern oder geladene Gäste am Nachmittag -- eine Stunde Gespräche und passendes Gebäck. Erst der Tee, dann etwas anderes; eine Zeit vor der Erfindung des Multitasking. Erst nachdem vom Tisch aufgestanden wurde, widmete man sich etwas anderem –– der Korrespondenz. Auch die ist heute digitalisiert und somit unschädlich gemacht: Früher kamen mit der Schneckenpost wichtige Briefe, sie landeten in einer schönen, ledernen Mappe. Sie wurden archiviert. Gestärkt vom Tee am Schreibtisch sitzen, Briefe (wieder) lesen, die Antworten entwerfen und ungestört verfassen. Während man schrieb, trafen nicht neue E-Mails ein, die die eben verfasste Antwort überflüssig machen. Weder Spam noch Rundmails belästigten die Leser. So entstanden bedeutende Werke neben den Romanen. Fontane, Kafka, Rilke; Heinrich, Thomas und Klaus Mann: sie wären auch dann bedeutend, wenn nur ihre Briefe gerettet worden wären. 

Kein Hitzefrei für die Soziologie

Die Gesellschaftstheorie beschäftigt sich mit nahezu allen Aspekten, die ihr relevant erscheinen. Der Einfluss der Religion sei unterschätzt, konnte man neulich lesen. Aber eins erscheint gar nicht: DIE HITZE! Die ist keine psychologische Eigenschaft, sondern hat strukturelle Wirkung. Sie verändert, was Menschen tun und lassen können. Es gibt gegen sie kaum Schutz. Während Bewegung gegen Kälte hilft, sind wir hohen Temperaturen einfach ausgeliefert. Dass es kein schlechtes Wetter gäbe, sondern nur die falsche Kleidung -- dieses Sprichwort definiert ungute Wetterlagen nur im Hinblick auf Kälte und Regen; dabei sind die kaum ein Problem mehr, seit der Mensch Wolle verarbeiten kann und Regenschirme benutzt. Und richtige Kleidung hilft eben nicht gegen Hitze; die Nackheit hat gleich mehrere Limitationen, selbst in der pornographisierten Gesellschaft: wir können weder nackt zur Arbeit gehen, noch mehr als alles ausziehen. (Fragen Sie einmal einen Lehrer.)

Dass die Hitze auf die Kultur einwirkt, sehen wir in den Ländern, in denen man zu Leben versteht: Italien, Spanien, Portugal, Südfrankreich, Griechenland. Siesta ist dort kein moralisches Vergehen, sondern lebensbejahende Anpassung. Sie erhöht die Geburtenrate, lässt die Menschen in Ruhe essen und Lethargie als Kulturgut erscheinen. Mann rührt langsam den nächsten Espresso um. Das Wetter könnte sich also als Gegenmacht zu Beschleunigung und zum flexiblen Kapitalismus erweisen. Wenn in Spanien die Wirtschaftspolitiker schimpfen, die Siesta sei ein wirtschaftlicher Nachteil, dann wünscht man sich die sofortige Entfernung der vollklimatisierten Herren aus ihren Ämtern. Der Kulturbeitrag der Siesta ist ebenso wichtig wie die Gemälde im Prado. Es gibt Volkswirte, die denken -- noch Max Weber und nicht nur Mathematik wahrnehmend -- über den Zusammenhang von Konfession und Arbeitsmoral nach. In protestantischen Ländern wird länger gearbeitet und weniger Urlaub gemacht; die Menschen sind unzufriedener. (Zudem dürfen sie nicht sündigen, weil sie nicht beichten können.) Aber was ist mit dem Wetter? Mit der Hitze? Ist Südeuropa deshalb katholisch? Und ist das in der postsäkularen Gesellschaft überhaupt die zeitgemäße Lösung?

Also ein weiterer Vorschlag für ein Graduiertenkolleg: "Wetter, Kultur und Gesellschaft"! Die Gruppe sollte unbedingt im Süden ansässig sein und sich erst ab 30°C treffen. 

 

 

Thomas Manns Tagebuch lesen (Nr. 3)

Basel, Dienstag den 2.V.33. 

"Gestern Diner im Hotel, mit Bermanns und Annette, die mein sehr angegriffenes Aussehen feststellte. Man hielt sich nachher in einem großen, zurückgelegenen Salon auf, Annette spielte auf dem schlechten Piano eine schöne, vertraute Melodie von Chopin, und wir tranken Lindenblütenthee mit einer Citronenscheibe. Während des Essens war ich sehr erschöpft gewesen, wurde aber nachher stärker ..."


Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. S. Fischer, Frankfurt/Main 1977, S. 68

Mann trinkt nur Tee, nie Kaffee. Das lässt der Magen nicht zu, aber Tee passt auch besser -- die durchgängige altmodische Schreibweise mit "h" steigert noch diese Kultiviertheit. In den russischen Romanen, die er so liebt, wird ständig Tee gereicht; selbst noch in den schäbigen Hinterzimmern in Dostojewskys Romanen. Aber das Anette Kolb, die Halbfranzösin, gerade Lindenblütentee reicht, das kann doch kein Zufall sein. Findet sich da ein Proust-Fanclub zusammen?: "Und dann war mit einem Male die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntag morgen in Combray (weil ich in diesem Tage nach dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte." Auch die Erinnerung des Grüppchens in Basel findet zurück in eine untergegangene Vergangenheit. Bei Proust wird sie erinnert, in Deutschland ungute Wiederkehr. Das deutsche Exilgrüppchen ist gezwungen "von deutschen Dingen" zu sprechen. Mann, der noch den ersten Weltkrieg befeuert hatte, findet das Gegenwärtige "eine neue Form der alten deutschen Kultur-Quatscherei"; einmal mehr zeigt sich der Wandel seiner (politischen) Einstellung. Gewünscht hätte man ihnen eine Beschwörung vergangenen Salon-Lebens in Manns Münchener Villa, die sicher proustsche Züge annehmen könnte. 

 

Thomas Manns Tagebuch lesen (Nr. 2)

Dienstag den 4. IV. 33 

"Der Schlaf hat ohne Nachhilfe keine rechte Ausdauer, ich erwache früh bei großer Müdigkeit am Abend."

Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. S. Fischer, Frankfurt/Main 1977, S. 36

Warum können die Dichter nicht schlafen? In Vladimir Nabokovs Autobiographie finden wir den legendären Satz "Im Einschlafen bin ich mein ganzes Leben lang schlecht gewesen." In Franz Kafkas Tagebuch den Eintrag: "Schlaflose Nacht. Schon die dritte in einer Reihe. Ich schlafe gut ein, nach einer Stunde aber wache ich auf, als hätte ich den Kopf in ein falsches Loch gelegt." (2.10.1911). Thomas Mann liefert in seinen Tagebüchern freudig Auskunft über alle gängigen Schlafmittel, die er nutzt wie Lutschbonbons. "Brom. Müde, niedergeschlagen." (9.3.1933), allerlei Namen pharmazeutischer Präparate tauchen immer wieder auf. Die Nacht ist keine Erholung, sie ist ein Gegner, sie wird zum Kampf. Aber womit? Herta Müller dachte als Kind, die Nacht sei aus Tinte gemacht -- eine Fantasie, die doch einem Dichter, zumindest zu Manns Zeiten, keine Alpträume bereiten sollte. Wenn sie aber alle nicht schlafen konnten, was taten sie? Thomas und Katia Mann hatten getrennte Schlafzimmer, wie auch Friedrich Schiller (das wäre Manns Vorbild Goethe nicht passiert!). Sex kam also nicht in Frage, der gefährdet wohl auch die Sublimierung. Einen Dichter, zumindest einen klassischen, können wir (Deutschen) uns nicht zugleich als sexuellen Helden vorstellen. Daran ändert auch Schnitzler nichts! Dichter haben in der romantischen Fantasie weder Familie noch erfülltes Sexualleben oder nur ein durch Syphilis gefährdetes Sexualleben (man denke an Franz Schubert). Sie schlafen nicht und sie haben keinen Sex und gelesen haben sie schon tagsüber. Es fehlt also eine Literaturgeschichte der Schlaflosigkeit -- ob die eines Tages ein Graduiertenkolleg liefern wird?   

 

 

Thomas Manns Tagebuch lesen (Nr. 1)

Donnerstag, den 16.III.1933 

"Obgleich ich leidlich geschlafen, waren heute vom Erwachen an meine Nerven in schlechtem, beängstigenden Zustande. Die Trennung von den Meinen flößt mir Furcht ein, obgleich ich mich dessen schäme. Verzweiflung an meiner Lebensfähigkeit nach der Zerstörung der ohnedies knappen Angepaßtheitssituation."

Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. S.Fischer, Frankfurt/Main 1977, S. 6

Der Dichter vermisst seine Villa in München, seinen streng geregelten Arbeitsalltag: Morgens am Roman schreiben, nachmittags Briefe und "profunde" Lektüre, abends Musik hören und leichtere Lektüre. Freunde und die Kinder raten dringend ab, nach Deutschland einzureisen. Keiner weiß, wie unberechenbar die neue politische Polizei ist und ob nicht schon der "Schutzhaftbefehl" ausgestellt ist, auf dessen Grundlage man den Nobelpreisträger nach Dachau gebracht hätte. Auf der Vortragsreise wird er von der Machtergreifung überrascht und er ahnt noch nicht, dass er vor 1945 gar nicht mehr zurückkehren wird können. Die innere Unabhängigkeit, auch von der Familie, gerät in dieser existenziellen Situation in Gefahr. Obwohl Dichter die Freiheit brauchen, ist sie doch wohl mehr eine gepflegte Illusion. Das erkennt Thomas Mann, für den Geistesmenschen Grund genug, sich zu schämen. Selbst in der heimischen Villa, in der Mann ein großbildungsbürgerliches Leben lebt, fühlt er sich nicht aufgehoben. Intellektuelle sind, ganz gleich wie groß die Anerkennung ist, die sie bekommen, einsam. Auch unter Menschen fühlen sie sich meist allein. Sie sind unglücklich, sie widmen ihr Leben der Lektüre und dem Schreiben, beides Tätigkeiten mit dissozialen Zügen. Das Gefühl, entführt worden zu sein, bestimmt Mann auch vor 1933; aber es steigert sich zu Angst und Nervosität, wenn zum existenziellen Gefühl des Entführtseins noch die reelle Vertreibung tritt. 

((Mit diesem Beitrag beginnt eine Reihe im sg-Blog, in der Fundstücke aus Manns Tagebüchern freigeistig und gelegenheitsphilosophisch interpretiert und kommentiert werden. Es sind nur 5000 Seiten; ich werde Gastautoren hinzuziehen. Das Projekt könnte eine längere Laufzeit haben, vielleicht sieben Tage, oder, wer weiß, vielleicht werden es sieben Jahre werden?))

Volksherrschaft und Liberalität

Heute wird der Bundespräsident gewählt. Der Tag wird in deutlichem Licht zeigen, welches Verständnis die Berufspolitiker von ihrem Amt haben. Vor allem zwei, mehr oder minder radikale politische Kräfte, zeigen heute ihr wahres Gesicht: Die LINKE möchte sich lieber doch nicht von der DDR distanzieren, ein Bürgerrechtler ist ihnen zu bürgerlich. Freiheit und Sozialismus sind für die Sozialisten keine gute Kombination. Die FDP, sonst mit großer Neigung zu "Anti-Kommunisten" (wie es früher hieß), wird zeigen, ob sie einen Kämpfer für die Freiheit wählen will. Joachim Gauck ist vor allem ein liberaler Mensch, der für den Rechtsstaat eintritt, für Selbstverantwortung und Mut. Nach eigener Aussage ist der FDP aber ein konservativer Katholik lieber -- soviel zur Liberalität dieser Partei. Sie ordnet sich, wie zu Zeiten Helmut Kohls, auf Zuruf einfach unter. Und die "bürgerliche" CDU/CSU? Auch die wird sich zu einem BÜRGERrechtler nicht bekennen, das geht wohl zu weit, auch weil Gauck mit christlichen Werten Ernst macht. Die Parteien mit dem "C" in Namen wollen keinen Theologen. Aber warum eigentlich nicht? Hatte nicht die CSU selbst Gauck schon einmal vorgeschlagen? 

Vielleicht ist das der Nachteil der reinen Berufspolitiker, sie vergessen über ihren parteipolitischen Reinheitsgeboten die politischen Kernwerte ihrer Einstellung: Was es heißt, liberal zu sein, das müsste die Friedrich-Naumann-Stiftung den Parteimitgliedern erst noch beibringen. Welche Werte mit der Bürgerlichkeit verbunden sind, könnte die Adenauer-Stiftung in die CDU kommunizieren. Und vor allem: das der Bundespräsident keine bloße Schachfigur im Parteienspiel sein darf. Ähnlich den Verfassungsrichtern agiert er nicht für eine Partei, sondern im übergeordneten demokratischen Sinne. In diesem Sinne agieren heute in der Bundesversammlung die Wahlmänner wahrscheinlich nicht; wenn doch, wäre das eine sehr gute Nachricht für die deutsche "geglückte Demokratie".

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