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Q

Wer glaubt, dass die Erfindungen von Q für 007 völlig aus der Luft gegriffen sind, dem sei der Beitrag Top 10 real-life spy gadgets empfohlen. Auch für alle anderen gilt: Lesen und wundern.

Ein neues Deutschland?

Zu Beginn dieses Jahres bat das Feuilleton der FAZ den Schriftsteller Jörg Albrecht, in Anklang an Stefan Zweigs Umbruchserfahrungen ("Die Welt von gestern") die Brüche in seiner eigenen Lebenswelt zu schildern. Leider ist nicht nur die Vermessenheit, den Erinnerungen eines schicksals- und leidgeprüften Exilanten des Zweiten Weltkrieges diejenigen eines in den BRD-Wohlstandsspeck der achtziger Jahre geborenen Jungautors gegenüberzustellen, der Redaktion anzulasten.

In seinem verhedderten Patchwork-Text "The world of morgen" beweist Albrecht vor allem, dass man im Jahr 2009, anders als in seinem Geburtsjahr 1981, weder Deutsch noch Englisch schreiben muss, um von der FAZ gedruckt zu werden. Ansonsten beschränken sich die Umbruchserfahrungen Albechts in erster Linie auf banale Beschleunigungserlebnisse vor der Videospielkonsole. Ob sich diese stark eingeschränkte Wahrnehmung daraus erklärt, dass Albrecht die meiste Zeit seines Lebens im Internet, vor dem Fernseher oder im "Strukturwandel" steckengebliebenem Ruhrgebiet verbracht hat, wissen wir nicht. Dass der Buchautor die dramatischen Zeitenwandel, die sich während seiner Lebensspanne inmitten Europas ereigneten, auf das Web 2.0 und die Erfindung der Digitalkamera reduziert, ist zweifelsohne mehr als ärgerlich. Als Altersgenosse schämt man sich ein wenig für derlei Nabelschau. Wäre doch so viel darüber zu sagen gewesen, wie sich das Deutschland, in das wir geboren wurden, in unseren Jugend- und Studienjahren einschneidend und atemberaubend rasch veränderte. (Auch für West-Deutsche.)

So bleibt es einem alten Hasen überlassen, von außen einen Blick auf "New Germany" zu werfen. Der Historiker Perry Anderson ergreift in der aktuellen Ausgabe der "New Left Review" die Gelegenheit für eine Bestandsaufnahme der tiefgehenden Veränderungen von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur in Deutschland. In einem umfassenden Essay, dessen Ausführungen vom neoliberalen Schockprogramm der Schröderjahre, über den Bevölkerungsexodus in Ostdeutschland und die neuen Kriege bis hin zu gegenwärtigen Tendenzen im politischen Denken reichen, zeichnet Anderson ein Portrait der deutschen Gesellschaft, das befreit vom alltäglichen Nachrichten-Klein-Klein die gewaltigen Veränderungen aufzeigt, die uns aus der Nahperspektive so leicht zu entgehen drohen.

Wählen gehen, Geld verschenken

Dass es neuerdings ein von der Wirtschaft gefördertes "demokratisches Stipendium" gibt, für das sich jede/r bewerben kann, haben wir im letzten November angezeigt. Jetzt soll nach altem demokratischen Brauch das (Web-)Volk entscheiden und zur Abstimmung darüber schreiten, wer von den 543 Kandidatinnen und Kandidaten der ersten Runde ein Stipendium erhält - darunter Mechatronikerinnen, BWLer, Sozialpädagogen und Lehramtsstudentinnen, die von 59 Euro Büchergeld bis hin zu mehreren Tausend Euro Auslandskostenzuschuss alles mögliche beantragen und in ihren Wahlkampagnen gelegentlich sogar zu multimedialer Hochform auflaufen (siehe hier oder dort).

Killer Kant

Immanuel Kant gilt lektüretechnisch als harter Knochen. Ein ordentlicher Brocken ist auch der jüngste Wissenschaftskrimi des Berliner Schriftstellers Jens Johler, der den Titel Kritik der mörderischen Vernunft trägt. Ein scheinbar emotionsloser Killer mit dem Decknamen des großen Aufklärers hat es darin auf Hirnforscher abgesehen, die den freien Willen leugnen. Der Thriller, der in Berlin und London spielt, ist sauber recherchiert und liest sich runter wie die Abschrift eines gut gemachten TV-Krimis mit Henry Hübchen und Maria Furtwängler in der Hauptrolle. Keine Spitzenprosa, aber wirklich gute Unterhaltung. Nur das gelegentliche Product Placement nervt, gehört aber offenbar zum fernsehkompatiblen „Sound“ des Buches.

Selbst wer die Debatte um den freien Willen und die Hirnforschung nicht oder nur kaum verfolgt hat, kommt auf seine Kosten bei diesem 500 Seiten-Schmöker, der die einschlägigen philosophischen Probleme auf spannende Weise mit dem Fortgang der Story verwebt. Im Zentrum steht dabei die Frage: Was darf eigentlich die Wissenschaft? Killer „Kant“ meint: Wir müssen ihren „Terror“ stoppen, weil sie im Verbund mit Pentagon und Wirtschaftslobbyisten (Achtung: Verschwörung!) danach trachtet, den Menschen in einen gefügigen, leicht kontrollierbaren und manipulierbaren Roboter zu verwandeln. Der latent melancholische Wissenschaftsjournalist Troller und seine smarte Freundin Jane heften sich unter Lebensgefahr und mit einschneidenden Folgen für ihre Beziehung an „Kants“ Fersen, der erstaunlich gut ins Raster jener Hirnforscher passt, die mit dem freien Willen auch die Schuldfähigkeit des Menschen radikal in Abrede stellen. Der veritable Showdown des Buches legt einen anderen Schluss nahe.

Jens Johler (2009): Kritik der mörderischen Vernunft. Berlin: Ullstein, 544 Seiten, 9,95 Euro.

Wissenschaft, Macht, Politik

Die Frage nach einer verantwortlichen Praxis wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland ist von zentraler Bedeutung für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Nicht erst seit der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise steht dieses Verhältnis auf dem Prüfstand, aber gerade jetzt in besonderem Maß: Warum hat niemand das Ausmaß der aktuellen Krise vorhergesagt? Warum hat niemand eine Lösung parat? Zu viele Gremien, zu teuer, zu fehlerhaft, zu alltagsfern und ungenau, so lauten die Vorwürfe gegen die wissenschaftliche Politikberatung. Sind sie gerechtfertigt? Was muss konkret getan werden, damit Beratung das politische Handeln unterstützt? Wie groß ist die Gefahr gegenseitiger Einflussnahme? Können wir der Wissenschaft trauen?
Diesen Fragen widmen sich Experten beim 33. ZEIT FORUM WISSENSCHAFT in Berlin.

Eine Zusammenfassung der Diskussion sendet der Deutschlandfunk in der Sendung "Das Kulturgespräch" am 8. Mai 2009 ab 19.15 Uhr (Frequenzen unter www.dradio.de)

Hinweise zur Teilnahme: http://www.zeit.de/veranstaltungen

Gesundheit

In "Corpus Delicti", dem neuen Roman von Juli Zeh, dürfen wir einem eigenartigen Strafprozess folgen: die Protagonistin muss sich nämlich verantworten für die vorsätzliche "Verweigerung obligatorischer Untersuchungen zu Lasten des allgemeinen Wohls". Der Schauprozess findet in einer Diktatur statt, die Gesundheit zur ersten Bürgerpflicht erklärt. Sie ist nicht Privatsache, sondern juristisch und ideologisch verankert. Nicht zu den Pflichtuntersuchungen zu gehen, Giftstoffe im Urin zu haben (die Abwässer werden gescannt) oder einen Rückstand auf dem Heimtrainer rufen die Ordnungshüter auf den Plan. Die Freiheit von Körper und Seele, Krank zu werden, löscht dieser Staat aus. Die Folgen sind für die Unangepassten, nun ja, eher gesundheitsschädlich. Der wohl jedem Leser bekannte internalisierte Zwang zur Fitness mag für das Gewissen quälend sein, aber die Folgen sind eben doch drastischer, wenn das Über-Ich juristische Gesetzeskraft erlangt und sich als Vernunft ausgibt. Das man ahnt, wie die Sache ausgeht, ist der Lesefreude nicht abträglich. Der Plot trägt eher die Ereignisse, über die man erst nachzudenken beginnt und vor denen man am Ende zittert. Wie in bisher allen Romanen grenzt Juli Zeh sich mit dieser Dystopie deutlich ab von der belanglosen Popliteratur. Unbelesenen Käufern müssen ihre Romane seltsam erscheinen. So auch dieser, in dem wir sowohl einen "bad journalist" wie bei Heinrich Böll finden und in dem die Figuren mehr von der Autorin verschoben werden, ein Zugriff von außen, den man von Günter Grass kennt. Wer hier überhaupt erzählt, das erfahren wir nicht, aber die Sprache ist -- passend zur Diktatur -- geradezu desinfiziert. Der "Roman" lässt sich kaum festlegen: ist es eine Hexenjagd oder ein Polit-Thriller, eine Horrorstory oder eine Geschwisterromanze, bei der man an Antigone oder an Nabokovs "Ada" denkt? Egal, wie man sich entscheidet, der Verlauf der Handlung ist unerbittlich. Man ahnt, es geht schlecht aus und lernt: es geht noch schlimmer! Aber am Ende kommt man in die Verlegenheit sich darüber zu freuen, dass man sich noch einen Schnupfen einfangen darf ohne von den Nachbarn denunziert zu werden. Und ungefährliche Krankheiten schenken einem Lesezeit ... 

 

Zitat des Tages

"Es sind nicht die großen Aufgaben und nicht die wirklichen Probleme, die unter Stress setzen. Gestresst ist, wer nicht wahrhaben will, dass er vor einem Problem steht. Und der Stress selbst ist das unbelehrbare Bestreben, eine Aufgabe zu lösen, von der man weiß, wissen könnte, dass man sie so und jetzt nicht lösen wird. Man lässt nicht locker. Und je gestresster man ist, desto weniger ist man imstande, nachzulassen. Ein Teufelskreis, aus dem es nur zwei Ausstiegspunkte zu geben scheint: beim ersten Anzeichen von Stress oder beim Zusammenbruch. Der Stress ernährt sich von dem Versuch, ihn zu leugnen. (...)"

Dirk Baecker: Postheroisches Management. Ein Vademecum. Merve, Berlin 1994, S.22

Der Mond

Das Kölner Wallraf-Richartz-Museum zeigt, wie der Mensch sich den Mond vorstellt und vorstellte -- und welche künstlerischen und optischen Wege er dabei die letzten 500 Jahre beschritt. Etwa 150 Exponate zeigen Technisches und Kunstgeschichtliches, vom ersten Blick durch ein Teleskop bis zur Erfindung der Fotografie und der Mondlandung. 

Explored, not stirred

Kein Aprilscherz, Ehrenwort: James Bond kommt an die Uni! Und zwar vom 5. bis zum 7. Juni. Dann findet an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken eine internationale Konferenz über Leben, Lieben und Sterben lassen des berühmtesten Geheimagenten der Welt statt, ausgerichtet vom dortigen Institut für Anglistik und Amerikanistik.

Auf der Tagung werden - das Darwin-Jahr lässt grüßen - so pikante Themen verhandelt wie "The evolution of James Bond" oder "James Bond's emotions". Neben seriösen Forschungsfragen, etwa nach Bonds "national identity", scheuen sich die Veranstalter anscheinend nicht, den smarten Top-Agenten auch mit unangenehmen Überlegungen zu konfrontieren: "Is James Bond a serial killer?" Das vollständige Tagungsprogramm mit Links zur Anmeldung gibt es hier.

April fools

Passend zum 1. April: die 100 besten
Aprilscherze der letzten Jahrzehnte. Die Nummer 1 von 1957 ist die Swiss Spagehtti Harvest mit youtube-Video!

Der Beinahe-GAU von Harrisburg

Niels Boeing erinnert in der heutigen WOZ an den Beinahe-GAU eines Atomkraftwerks nahe des US-amerikanischen Harrisburg vor 30 Jahren. Nur viel Glück, nicht technische Zuverlässigkeit habe einen ähnlich schlimmen Unfall wie den von 1986 in Tschernobyl verhindert. Wer heute die Renaissance der Atomkraft predigt, dem sollte vor allem Folgendes zu denken geben: "Die Reaktoren der dritten Genera­tion, die derzeit in Finnland und Frank­reich gebaut werden, sind zwar so konstruiert, dass mehr Ersatzsysteme einspringen können, wenn wie in Harrisburg Teile der Anlage ausfallen. Aber selbst der Erbauer dieser neuen AKW, der Energiekonzern EDF, musste in einem Schreiben an die französische Reaktorsicherheitskommission einräu­men, dass die Sicherheitskonzepte «nicht alle Eventualitäten einschliessen können»."

Über die Lehrsitutation an deutschen Unis

Im Online-Magazin TELEPOLIS geht heute Thomas Stegemann der Frage nach, wie es mit der Lehrsituation an den deutschen Universitäten nach dem Bologna-Prozess bestellt ist. Er stellt dabei fest, dass die Lehrdeputate zwar endlich erhöht würden, dies aber neue Risiken berge. Die Einheit von Forschung und Lehre könnte dabei schließlich ganz auf der Strecke bleiben.

Bologna in der Diskussion

Am 26.01. des Jahres diskutierte der profilierte Bologna-Kritiker Prof. Wolfgang Eßbach aus Freiburg mit Prof. Klaus Landfried, ehemaliger Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, und der Studentin Imke Buß unter Anleitung von Anja Braun im SWR2-Forum über die Bologna-Reform.

Das differenzierte Gespräch resümiert den Stand der Dinge und erfreut den Skeptiker mit Neologismen wie "Bulimie-learning". Nachhören kann man es hier.

Eckert-Preis für Bildungsmedienforschung

Das Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung verleiht 2010 erstmals und künftig alle zwei Jahre den von der Verlagsgruppe Westermann in Braunschweig gestifteten Preis für wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der internationalen Bildungsmedienforschung. Er ist mit 2500 Euro dotiert und umfasst außerdem die Übernahme der Druckkosten durch den Stifter.
Ausgezeichnet werden herausragende Monografien, Dissertationen oder Habilitationen. Gemeinschaftswerke werden berücksichtigt, wenn sich alle Autoren bewerben. Es werden sowohl Eigenbewerbungen als auch Nominierungen akzeptiert.

Eingereicht werden können bisher unveröffentlichte Arbeiten in deutscher oder englischer Sprache, die zum Zeitpunkt der Einreichung nicht älter als zwei Jahre sind.
Eine Jury aus namhaften Wissenschaftlern und einem Vertreter der Verlagsgruppe Westermann befindet unter Ausschluss des Rechtsweges über die Zuerkennung des Preises. Die Verleihung findet im Frühjahr 2010 statt.

Die ausgezeichnete Arbeit wird in der Reihe "Eckert. Die Schriftenreihe. Studien des Georg-Eckert-Instituts zur internationalen Bildungsmedienfor-schung" (Verlag V&R unipress, Göttingen) veröffentlicht.

Weitere Informationen:
http://www.gei.de

Die Herren Wirtschaftsführer

Stets hat die Menschheit ihre Helden gehabt: Priester oder Ritter, Gelehrte oder Staatsmänner. Bis zum 14. Juli 1931 waren es für Deutschland die Wirtschaftsführer, also Kaufleute.

Die Kaufleute sind Exponenten des Erwerbsinnes; sie haben immer ihre Rolle gespielt, doch wohl noch nie so eine große wie heute. Weil das, was sie in Händen halten, das wichtigste geworden ist, werden sie in einer Weise überschätzt, die lächerlich wäre, wenn sie nicht so tragische Folgen hätte. Die deutsche Welt erschauert, sie braucht Götzen, und was für welche hat sie sich da ausgesucht –!

Man sollte meinen, dass der gesunde Menschenverstand wenigstens eines sehen könnte: den Mißerfolg. Aber damit ist es nichts. Niemand von denen, die diese Wirtschaftsführer bewundern, behielte auch nur einen Tag lang einen Chauffeur, der ihm die Karre mit Frau und Kind umgeworfen hätte, auch dann nicht, wenn dem Chauffeur die Schuld nicht nachzuweisen wäre. Er kündigt, denn solchen Chauffeur will er nicht. Aber solche Wirtschaftsführer, die will er.

Der unbeirrbare Stumpfsinn, mit dem diese Kapitalisten ihre törichte Geldpolitik fortsetzen, immer weiter, immer weiter, bis zur Ausblutung ihrer Werke und ihrer Kunden, ist bewundernswert. Alles, was sie seit etwa zwanzig Jahren treiben, ist von zwei fixen und absurden Ideen beherrscht: Druck auf die Arbeiter und Export.

Für diese Sorte sind Arbeiter und Angestellte, die sie heute mit einem euphemistischen und kostenlosen Schmeichelwort gern ›Mitarbeiter‹ zu titulieren pflegen, die natürlichen Feinde. Auf sie mit Gebrüll! Drücken, drücken: die Löhne, die Sozialversicherung, das Selbstbewußtsein – drücken, drücken! Und dabei merken diese Dummköpfe nicht, was sie da zerstören. Sie zerstören sich den gesamten innern Absatzmarkt.

Sie scheinen ihn nicht zu wollen – dafür haben sie dann den Export. Was dieses Wort in den Köpfen der Kaufleute angerichtet hat, ist gar nicht zu sagen. Ihre fixe Idee hindert sie nicht, ihre Waren auch im Inland weiterhin anzupreisen; ihre Inserate wirken wie Hohn. Wer soll sich denn das noch kaufen, was sie da herstellen? Ihre Angestellten, denen sie zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel geben, wenn sie sie nicht überhaupt auf die Straße setzen? Die kommen als Abnehmer kaum noch in Frage. Aber jene protzen noch: dass sie deutsche Werke seien, und dass sie deutsche Kaufleute und deutsche Ingenieure beschäftigten – und wozu das? »Um den Weltmarkt zu erobern!«

So schlau wie die deutschen Kaufleute sind ihre Kollegen jenseits der Grenzen noch alle Tage. Es setzt also überall jener blödsinnige Kampf ein, der darin besteht, einen Gegner niederzuknüppeln, der bei vernünftigem Wirtschaftssystem ein Bundesgenosse sein könnte. Die Engländer preisen rein englische Waren an, die Amerikaner rein amerikanische, und das Wirtschaftsinteresse tritt als Patriotismus verkleidet auf. Eine schäbige Verkleidung, ein jämmerlicher Maskenball.

Schuld –? Vielleicht gehört eine große geistige Überlegenheit dazu, aus diesem traurigen Trott des Geschäftes herauszukommen und auch einmal ein bißchen weiterzublicken als grade bis zum nächsten Ultimo. Aber das können sie nicht. Sie machen weiter, wie sie es bisher getrieben haben. Also so:

Niederknüpplung des Inlandskunden; Spekulation auf einen Export, der heute nicht mehr so durchzuführen ist wie sich die Herren das träumen; Überlastung der gesamten Industrie durch ein gradezu formidables Schreibwerk, das hinter dem Leerlauf der Staatsbürokratie um nichts zurücksteht. Was da an Pressechefs, Syndicis, Abteilungsleitern, Bürofritzen herumsitzt und Papierbogen vollschreibt, ohne auch nur das leiseste zu produzieren, das belastet uns alle. Aufgeblasen der Verwaltungsapparat – man sehe sich etwa das Verwaltungsgebäude der IG-Farben in Frankfurt am Main an: das Ding sieht aus wie eine Zwingburg des Kapitalismus, weit ins Land dräuend. Früher haben die Ritter die Pfeffersäcke ausgeplündert; heute hat sich das gewandelt.

Wie immer in ungesunden Zeiten ist der Kredit in einer gradezu sinnlosen Weise überspannt. Das Wort ›Wucher‹ ist ganz unmodern geworden, weil der Begriff niemand mehr schreckt, er erscheint normal.

Nun haben aber Kartelle und kurzfristige Bankkredite die Unternehmungslust und die sogenannte ›freie Wirtschaft‹ völlig getötet – es gibt sie gar nicht mehr. Fast jeder Unternehmer und besonders der kleinere ist nichts als der Verwalter von Bankschulden; gehts gut, dann trägt er den Ungeheuern Zins ab, und gehts schief, dann legen die Banken ihre schwere Hand auf ihn, und es ist wie in Monte Carlo: die Bank verliert nicht. Und wenn sie wirklich einmal verliert, springt der Steuerzahler ein: also in der Hauptsache wieder Arbeiter und Angestellte.

›Das Werk‹, dieser Götze, hat sich selbständig gemacht, und stöhnend verrichten die Sklaven ihr Werk, nicht mehr Sklaven eines Herrn, sondern Sklaven ihrer selbst Auch der Unternehmer ist längst zu einem Angestellten geworden, nur kalkuliert er für sich ein derartiges Gehalt heraus, dass er wenig riskiert. Die fortgeschrittenen Kommunisten tun recht daran, den Unternehmer nicht mehr damit zu bekämpfen, dass sie ihm Sekt und Austern vorwerfen, dergleichen verliert von einer gewissen Vermögensgrenze ab seine Bedeutung. Aber dass diese Kerle die Verteilung von Ware und Verdienst ungesund aufbauen, dass sie ihre Bilanzen vernebeln und den Angehörigen der wirtschaftlich herrschenden Klassen so viel Geld zuschieben, dass den andern nicht mehr viel bleibt: das und nur das ist Landesverrat.

Ohnmächtig sieht der Staat dem zu. Was kann er machen? Nun, er kann zum Beispiel eine Verordnung erlassen, wonach das zu verkaufende Brot sein Gewicht auf der Kruste eingeprägt erhalten muß, und das ist ein großer Fortschritt. Seine Gesetze berühren die Wirtschaft gar nicht, weil sie ihm ebenbürtig an Macht, weil sie ihm überlegen ist. Sie pariert jeden Schlag mit den gleichen Mitteln: mit denen einer ausgekochten Formaljurisprudenz, mit einer dem Staat überlegenen Bürokratie, mit Geduld. Schiebt ihm aber alle Lasten zu, ohne ihm etwa das Erbrecht zu konzedieren. Er hat zu sorgen. Wovon? Das ist seine Sache.

Also unsre Sache. Für wen wird gelitten? Für wen gehungert? Für wen auf Bänken gepennt, während die Banken verdienen?

Für diese da. Es ist nicht so, dass sie sich mästen, das ist ein Wort für Volksversammlungen. Sie mästen den Götzen, sie sind selber nicht sehr glücklich dabei, sie führen ein Leben voller Angst, es ist ein Kapitalismus des schlechten Gewissens. Sie schwindeln sich vom Heute in das Morgen hinein, über viele Kinderleichen, über ausgemergelte Arbeitslose – aber das Werk, das Werk ist gerettet.

Selbst die ›Frankfurter Zeitung‹, die sich in einer gradezu rührenden Weise bemüht, diesen störrischen Eseln des Kapitalismus gut zuzureden, wobei jene wild hinten ausschlagen, gibt zu, dass »nach den Erhebungen, die das Institut für Konjunkturforschung und eine deutsche Großbank unabhängig voneinander durchgeführt haben, noch entbehrliche Läger im Werte von mehreren Milliarden vorhanden sind« – man male sich das angesichts dieser Not aus! Aber die Lager bleiben. Und das Werk ist gerettet.

Wo steht geschrieben, dass es gerettet werden muß? Warum ist die Menschheit nicht stärker als dieser Popanz? Weil sie den Respekt in den Knochen hat. Weil sie gläubig ist. Weil man sie es so gelehrt hat. Und nun glaubt sie.

Noch ist die andre Seite stärker als man glaubt. Zu warnen sind alle jene, die die Arbeiter sinnlos in die Maschinengewehre und in die weitgeöffneten Arme der Richter hineintreiben. Drei Jahre Zuchthaus – zwei Jahre Gefängnis – vier Jahre Zuchthaus ... das prasselt nur so. Noch sind jene stärker. Die Arbeiterparteien sollten ihre Kräfte nicht in einem zunächst aussichtslosen Kleinkrieg verpulvern, solche Opfer haben einen ideologischen Wert, ihr praktischer ist noch recht klein. Drüben ist viel Macht.

Also muß gekämpft werden. Aber so wenig ein geschulter Proletarier individuelle Attentate auf Bankdirektoren gutheißen kann, so wenig sind Verzweiflungsausbrüche kleinerer oder größerer Gruppen allein geeignet, ein System zu stürzen, das jede, aber auch jede Berechtigung verloren hat, Rußland zu kritisieren. Wer so versagt, hat zu schweigen.

Doch schweigen sie nicht. Sie haben die Dreistigkeit, unter diesen Verhältnissen noch ›Vertrauen‹ zu fordern, dieselben Männer, die das Unglück verschuldet haben. Und keiner tritt ab, nur die Gruppierung ändert sich ein wenig. Das verdient die schärfste Bekämpfung.

Kampf, ja. Doch unterschätze man den Gegner nicht, sondern man werte ihn als das, was er, immer noch, ist: ein übernotierter Wert, der die Hausse erstrebt und die Baisse in sich fühlt. Sein Niedergang wird kommen. Das kann, wie die gescheiten und weitblickenden unter den Kaufleuten wissen, auch anders vor sich gehen als auf dem Wege einer Revolution. Bleiben die Wirtschaftsführer bei dieser ihrer Wirtschaft, dann ist ihnen die verdiente Revolution sicher.

Ignaz Wrobel, Die Weltbühne, 18.08.1931, Nr. 33, S. 254.

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