Buchtipp
Klassiker auf Knopfdruck
Seit es die sogenannten neuen Medien gibt, wird der baldige Tod des Buchs entweder von notorischen Bibliophilen und Philologen laut beklagt oder von digital natives erwartungsfroh besungen. Kein Zweifel: die Verlagslandschaft steht vor erheblichen Veränderungen. Mit seinem jüngsten Frontalangriff hat der Internetriese Amazon nun die Befürchtungen von Büchermachern und Bücherfreunden hierzulande weiter verschärft. Man darf gespannt sein, wie die Branche reagiert.
Wie man sich den Giganten auch als Nischenbewohner auf Distanz hält, lässt sich schon jetzt am Beispiel des Hamburger Traditionshauses Meiner studieren: Zuerst und nach wie vor mit anspruchsvollen und gut lektorierten Neuerscheinungen, etwa dem Grundriss Heidegger, der Neuübersetzung von Adam Smith' Theory of Moral Sentiments oder einem Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, an dem künftig kein Hegel-Leser mehr vorbeikommen wird (und die es meist auch als eBook-Variante gibt). Der Bedarf an entsprechenden Produkten und professionellen Produzenten ist ungebrochen - bei ansprchsvollen Lesern wie Autoren gleichermaßen.
Darüber hinaus bewirtschaftet der Verlag auch sein eigenes "Hausantiquariat" selbst, und das so erfolgreich, dass es innerhalb kurzer Zeit bereits ausverkauft war und nun erst einmal wieder aufgefüllt werden muss. Als drittes Glied der Verwertungskette kann Meiner nun auf ein Angebot verweisen, auf das viele Leser lange gewartet haben dürften und das erhebliches Zukunftspotenzial besitzt: Einst vergriffene Titel lassen sich im Books-on-Demand-Shop nachkaufen. So sind die Schriften Brentanos ebenso wieder erhältlich wie Fichtes wunderliche Studie über sozialistische Planwirtschaft (Der geschloßne Handelsstaat). Zwar zahlt man für die in der Regel gebundenen Sonderanfertigungen im aktuellen Meiner-Grün nicht wenig. Aber das ist auf den gängigen Antiquariatsportalen im Netz, wo man mühsam nach den vergriffenen Titeln suchen muss, kaum anders. Außerdem darf man erwarten, dass der Verlag eventuelle Kostenvorteile durch technologische Innovationen des Herstellungsverfahrens künftig an seine Kunden weiterleitet.
Prinzipiell lässt sich auf diese Weise auch ohne gigantische Lagerkapazitäten das gesamte Verlagsprogramm vorrätig halten, inklusive aller Raritäten und Kuriosa aus der über 100-jährigen Verlagsgeschichte - ein großer Schritt in die richtige Richtung, der Amazons Attacken mit dessen eigenen Waffen pariert und an dem sich hoffentlich bald auch andere Fachverlage orientieren werden.
Du sollst schreiben!
Wer vor nicht allzu langer Zeit während des Studiums noch regelmäßig in akademischen Buchstabenwüsten verdurstete und auf der Suche nach kundiger Anleitung bei eigenen, ersten Schreibversuchen meist ins Leere lief, der sieht sich heute erfreulicherweise einer wachsenden Zahl wohlformulierter Monographien einerseits, einer stattlichen Phalanx an gedruckten Ratgebern und Workshops zum wissenschaftlichen Schreiben andererseits gegenüber.
Letztere versprechen "keine Angst vor dem leeren Blatt" (Otto Kruse) und begleiten den Schreibnovizen durch alle Unwägbarkeiten "von der Idee zum Text" (Helga Esselborn-Krumbiegel). Alttestamentarisch knapp mutet das soeben erschienene Vademecum des Hannoveraner Philosophieprofessors Dietmar Hübner an: Seine Zehn Gebote für das philosophische Schreiben, nur 80 Seiten kurz, gehören - das gleich vorweg - zum Besten (und nebenbei auch Unterhaltsamsten), was der Markt derzeit zu bieten hat; nicht nur für Philosophen!
Hübner schreibt nicht aus der Perspektive des Dienstleisters, sondern der des engagierten Dozenten, der sein Fachgebiet liebt und den die handwerkliche bzw. literarische Qualität der Haus- und Qualifikationsarbeiten seiner Studenten nicht selten befremdet. Dabei doziert er keineswegs von oben herab. Es gelingt ihm vielmehr auf engstem Raum konsequent und präzise und in lebendiger, direkter Sprache zu vermitteln, was eine gute, und das heißt immer auch: gut lesbare akademische Arbeit ausmacht - und dass an der Universität (jedenfalls in den Geisteswissenschaften) nur besteht, wer jenseits von "Facebook-Deutsch und Chatroom-Höhlenmalerei" die Grundregeln des Schreibens beherrscht. Diese sind dann rasch und ohne Umschweife aufgestellt: Interesse an der Sache, klare Struktur und Gedankenführung, Mut zum Selberdenken, Fairness im Urteil, guter Stil und Regelkenntnis, ausreichend breite Quellenbasis sowie schließlich formale Korrektheit.
Dass Hübner seine zehn Gebote selbst beherzigt, macht jede Seite des Büchleins eindrucksvoll deutlich. Auch Nichtphilosophen - und selbst erfahrene Scribenten - werden es mit Gewinn lesen, weil es nicht nur auf typische Anfängerfehler eingeht, sondern zugleich eindringlich daran erinnert, was gute Wissenschaft überhaupt auszeichnet (z.B. nicht die schwächsten, sondern stets die stärksten Argumente eines akademischen Gegenübers zu attackieren). Die Empfehlung des Autors, neben der Schreibpraxis immer wieder auf herausragende Texte - vornehmlich Weltliteratur - zurückzugreifen, um den eigenen Ausdruck zu schärfen, lässt sich auf ihn selbst anwenden: Unbedingt lesen!
Dietmar Hübner (2012): Zehn Gebote für das philosophische Schreiben. Göttingen, 80 S., 6,99 Euro.
Im Steinbruch der Begriffe
Erst kürzlich hat der Hamburger Meiner-Verlag seine Enzyklopädie Philosophie eindrucksvoll generalüberholt. Nun zieht auch der Freiburger Alber-Verlag, wie Meiner seit Jahrzehnten Synonym für exquisite Fachliteratur, nach. Lange schon hatte man die Neubearbeitung des Handbuchs philosophischer Grundbegriffe von Hermann Krings (†), Hans-Michael Baumgartner (†) und Christoph Wild aus den 1970er Jahren angekündigt. Nun ist der Nachfolger jener schlanken grüngrauen Taschenbuchbände aus dem Kösel-Verlag, die bis heute zahllose Studierstuben schmücken, endlich erschienen: blau, dickleibig, dreibändig, mit behutsam aktualisiertem Konzept und gehaltvollen Beiträgen.
Erneut versammeln die Herausgeber – Petra Kolmer aus Bonn und Armin Wildfeuer von der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen – Grundbegriffe, die "anerkanntermaßen zum Grundvokabular der (aktuellen) philosophischen Terminologie gehören". Wieder geht es nicht um letztgültige Definitionen. Schon die Editoren des alten Handbuchs wussten, dass Begriffe, obgleich diskursiv vermittelt, immer auch "von verschiedenen philosophischen Temperamenten" geprägt werden. Das Neue Handbuch offeriert in der Tradition seines Vorläufers daher kein klassisches Lexikonwissen, sondern "will selbst Philosophie bieten", freilich ohne dabei nahtlos an die "rationalistische Orientierung" des alten Handbuchs anzuknüpfen.
Für die Neu-Herausgeber hängt jedes Philosophieren von lebensweltlichen Voraussetzungen ab (denen auch das alte philosophische Staunen, thaumazein, entspringt), von grundlegenden Intuitionen, Leitüberzeugungen und Gedankenmotiven, kurz: vom so genannten Vorverständnis. Auf Grundlage dieser Prämisse – der Einsicht, dass philosophische Reflexion nicht ausschließlich im Medium reiner diskursiver Vernunft zirkuliert – will das Neue Handbuch "Sprachausdrücke" kritisch klären, das heißt im Wittgensteinschen Sinn bestimmen, wie sie gebraucht werden oder gebraucht werden sollten. Neben die "notwendigen Momente" des Begriffs, nach denen das Vorläuferunternehmen primär suchte, treten in der Neuausgabe dessen "Sinnbilder". So sind die 215 neu verfassten Einträge stärker sprachphilosophisch und hermeneutisch ausgerichtet. Man kann, obwohl die Herausgeber sich dem Kantischen Projekt einer Kritik der reinen Vernunft verpflichtet fühlen, auch von einem postnietzscheanischen, vom linguistic turn wie vom Existenzialismus gleichermaßen imprägnierten Nachschlagewerk sprechen – der Verzicht auf "Eindeutigkeitsintentionen" ist Programm und die integrierten Temperamente, Perspektiven und Methoden sind so zahlreich wie die Artikel selbst.
Tatsächlich finden sich darunter 'klassisch' aufgebaute Texte im nüchternen, bisweilen ermüdenden Lexikonstil ebenso wie glänzende Abhandlungen namhafter Autorinnen und Autoren. Der Konzentration auf Grundbegriffe und den weiteren programmatischen Umständen ist manche Auslassung geschuldet. Aber das ist, zumal für ein Handbuch, kein Nachteil. Will man beispielsweise etwas über Urteilskraft erfahren (für die Herausgeber zu Recht kein Grundbegriff), muss man in unterschiedlichen Artikeln – zum Beispiel zu 'Aufklärung' und 'Urteil' von Rainer Enskat bzw. Christian Helmut Wenzel – suchen. Mit anderen Worten: Man sollte selbst bereits philosophische Intuition und mehr oder weniger Vorwissen mitbringen, um im Steinbruch der philosophischen Grundbegriffe erfolgreich zu navigieren. Unter dieser Voraussetzung wird das inspirierende und außerdem unschlagbar preiswerte Neue Handbuch philosophischer Grundbegriffe seinem Vorgänger rasch den angestammten Regalplatz streitig machen.
Petra Kolmer/Armin G. Wildfeuer (2011): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. 3 Bände. Freiburg, 2728 S., 120 Euro.
Doppelte Einladung in die Soziologie
Hochschulabsolventen haben, so heißt es, gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das mag für Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieurinnen richtig sein. Für Soziologen sieht die Prognose schon anders aus. Wer sich also für die Wissenschaft von der Gesellschaft entscheidet, muss gute Gründe haben – oder überhaupt erst welche ausfindig machen.
Glücklicherweise herrscht an gedruckten Appetizern respektive einführenden Darstellungen für Studierwillige und Unentschlossene kein Mangel. Zu den herausragenden und insbesondere für Erstsemester empfehlenswerten Orientierungshilfen zählt ein handlicher Band aus dem Campus-Verlag. Der Untertitel ist Programm: Die beiden Herausgeber, Uwe Schimank und Nadine Schöneck, wollen Gesellschaft begreifbar machen, indem sie eine „Einladung zur Soziologie“ aussprechen. Genau genommen sind es dreizehn Einladungen, eingängig formuliert von namhaften deutschsprachigen Soziologinnen und Soziologen, darunter Michael Hartmann, Nicole Burzan, Armin Nassehi und Hartmut Rosa.
Die Autorinnen und Autoren des Bandes geben nicht nur einen kurzen Abriss ihrer jeweiligen Forschungsthemen – von den Dämonen der Beschleunigungsgesellschaft über Gleichheitsfiktionen in Paarbeziehungen bis zur Schlüsselrolle der Sozialpolitik und zum Doping im Spitzensport –, sie erzählen auch, mitunter sehr persönlich, was sie zur Soziologie gebracht hat, was sie an „ihrem“ Fach fasziniert.
Das ist im besten Sinne einladend – und gleichermaßen produktiv verwirrend. Denn nicht immer gehen Studienmotivation und wissenschaftliche Praxis Hand in Hand. Dass die Soziologie davon lebt, Verunsicherungswissenschaft zu sein, lieb gewonnene Gewissheiten und Alltagsüberzeugungen von einer Beobachterperspektive zweiter Ordnung aus in Frage zu stellen, macht der Band auf unterhaltsame Weise deutlich. Er vermittelt so einen ersten Eindruck von der besonderen Qualität soziologischen Denkens. Und er macht Lust auf mehr, allen Arbeitsmarktprognosen zum Trotz.
Wer die Forscherinnen und Forscher hinter den Texten näher kennen lernen will, hat nach der Lektüre des Sammelbands zwei Optionen: Er oder sie kann entweder gleich Soziologie studieren oder erst einmal das Medium wechseln: Im Internet finden sich ausführliche Viedeointerviews mit allen Protagonisten - eine zweite Einladung, der man ebenso gerne Folge leistet wie der ersten.
Uwe Schimank/Nadine M. Schöneck (Hrsg.) 2008: Gesellschaft begreifen. Einladung zur Soziologie. Frankfurt/M., 195 S., 18,90 Euro (auch als E-Book für 15,99 Euro erhältlich).
«Die Mauer». Von allen Seiten
Müsste man einem entsprechenden Werk weniger als „großen Facettenreichtum“ bescheinigen, Verlag und Herausgeber hätten grundlegend etwas falsch gemacht. Tatsächlich schafft es Herausgeber Klaus-Dietmar Henke mit „Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung“, das geschichtsträchtige Bauwerk von allen Seiten zu beleuchten. Der bei dtv-Premium erschienene Band umfasst auf 468 Textseiten 29 Aufsätze, deren Spannweite von der weltpolitischen Einordnung über die Deutschlandpolitik in West und vor allem auch in Ost und die Kunst bis hin zur Erinnerungskultur reicht.
Dass „die Mauer“ eigentlich gar keine Mauer war, erfährt der Leser gleich im einführenden Aufsatz des Herausgebers. Mit der bedeutenden Rolle des „Mauer“-Topos, um den es eigentlich geht, setzt sich Leo Schmidt auseinander. So waren es nicht zuletzt Überlegungen zur Außenwirkung, die die DDR-Spitze dazu brachten, statt der praktischeren Drahtsperren eine Mauer zu errichten – als „Symbol für Entschlossenheit – und auch für eine Dauerhaftigkeit, die zu diesem Zeitpunkt aber noch keineswegs beschlossene Sache war“, wie er darlegt. In der westlichen Welt hingegen sei die Mauer-Ikonographie mehr von dem Gedanken an ein Instrument zur Freiheitsunterdrückung verknüpft gewesen. Das von Schmidt erwähnte Foto des Unteroffiziers Conrad Schumann, der mit einem kräftigen Sprung den Stacheldraht überwindet, ist mir aus meinem eigenen, westdeutschen Geschichtsbuch geläufig.
Mehr als nur eine Ergänzung zu Schmidts Auseinandersetzung mit der bildlichen Sphäre ist die Gegenüberstellung der sprachlichen und medialen Stilisierungen der „Mauer“ in West und Ost durch Elena Demke. So lernt man als Nachgeborene, dass parallel zur leicht durchschaubaren Rede vom „antifaschistischen Schutzwall“ in der DDR in Westdeutschland mit ähnlicher Vehemenz die Figur des „Ulbricht-KZs“ bemüht wurde – und dies durchaus im Bewusstsein des vollen Bedeutungsumfangs. Demke erörtert aber auch, inwiefern der „antifaschistische Schutzwall“ die Fortführung der kommunistischen Ideologie und somit mehr als eine Augenblicksbildung war. Schließlich galt die Abschottung nach außen seit der Abkehr Lenins vom weltweiten Kommunismus-Export als probates Mittel beim „Aufbau des Kommunismus in einem Land“ – und alle Gegner dieses Vorhabens als „Faschisten“.
Damit ist Demkes Beitrag anschlussfähig an andere in dem Sammelband, die sich anstelle der Symbolik unmittelbar mit den ideologischen, vor allem aber den realen Hintergründen des Mauerbaus und der deutschen Teilung in der DDR auseinandersetzen. So macht Michael Kubina in seinem Beitrag „Die SED und ihre Mauer“ den ideologischen Hintergrund des Mauerbaus explizit, wenn er die Mauer als „Gefängnismauer zur Rettung des sozialistischen Experiments“ bezeichnet. Mit einer ausführlichen Erörterung verbindet er Ulbrichts Rechtfertigung für den „antifaschistischen Schutzwall“ mit Rosa Luxemburgs Menetekel von „Sozialismus oder Barbarei“. Beide seien von der Überzeugung gestützt, dass „Marxisten-Leninisten über die einzig ‚wissenschaftliche Weltanschauung‘ verfügen“. Die Umdeutung aller Vorteile des Westens in Chimären und Lockmittel verwundert vor diesem Hintergrund nicht.
Noch tiefer ins Innerste der DDR-Ideologie und vor allem der aus ihr resultierenden Politik dringen Thomas Lindenberger und Gerhard Sälter vor. Während Lindenbergers Aufsatz argumentativ brillant und in den Fakten detailreich nachzeichnet, welche alltäglichen Begrenzungen die mauergesicherte sozialistische Gesellschaft mit sich brachte, erörtert Sälter mit der gebotenen Nüchternheit, wie die SED Zivilisten – Verwaltungsmitarbeiter, Vorgesetzte und weitere – „gegen den inneren Feind mobilisiert[e]“. Das Ergebnis war, wenn auch von vielen DDR-Bürgern durchschaut und von nicht wenigen boykottiert, in Sälters Worten ein „ubiquitäres Grenzregime“. Gemeint ist damit nichts anderes als der berüchtigte Überwachungsstaat, den der Autor hier in den Kontext einer vom Regime gewollten Erziehung der Bürger zum Sozialismus im „geschützten Raum“ stellt.
Wenn auch niemals entschuldigend, so wecken viele Beiträge in „Die Mauer“ doch Verständnis – immer im Sinne intellektueller Nachvollziehbarkeit – für die Handlungen der DDR-Führung. Vertreten sind in dem Band außerdem zeitgeschichtliche Beiträge klassischen Inhalts, namentlich die Einordnung in das weltpolitische Geschehen durch Michael Lemke und die Erörterung der Rolle der DDR und Ulbrichts – ihrer Absichten und Handlungsspielräume – durch Manfred Wilke. Diese Aufsätze sind aber, wohl wegen ihrer Informationsdichte und impliziten Verknüpfung mit einem weiteren historischen Horizont, die am schwersten lesbaren des gesamten Bandes. Äußerst empfehlenswert, da ebenso komplex, aber mit einem Schuss Agenten-Thrill ausgestattet, ist dagegen Daniala Münkels Aufsatz „CIA, BND, MfS und der Mauerbau“. Wie es der Titel verspricht, geht es hier um die Einschätzungen der jeweils anderen Seite durch die Geheimdienste – und das gegenseitige Wissen um diese Einschätzungen. Dabei sticht auch anhand der quellengesicherten Fakten die gute Vernetzung und der leichtfüßige Zugang der Staatssicherheit zum Westen heraus, neben den Agenten, die für beide Seiten unvermeidlich die Bühne betreten. Aufschlussreich auch, dass die Regierungen selten auf ihre Spionagetruppen hörten – und sich nach außen unwissender gaben, als sie tatsächlich waren.
Die »Mauerkunst« eingerechnet, behandeln gleich sieben Beiträge den Umgang mit Mauerrelikten von der Wendezeit bis heute. Dass dieses Thema bis heute ideologische Kontroversen und schwer zu überbrückende Interessenkonflikten hervorruft, stellt Konrad H. Jarausch im Hinblick auf den ehemaligen Alliierten-Übergang „Checkpoint Charly“ in der Berliner Friedrichstraße kurz und bündig dar. Die volle Wucht der Auseinandersetzung um das richtige Gedenken, aber vielmehr noch um dessen Stellenwert gegenüber den praktischen Bedürfnissen von Anliegern, schildern Gabriele Camphausen und Manfred Fischer in „Die bürgerschaftliche Durchsetzung der Gedenkstätte an der Bernauer Straße“. Der im Stil eines Berichts verfasste Beitrag lässt die Turbulenzen geradezu spüren, die jeder Vorstoß der Bürgerinitiative, jeder offenen Brief eines Bundespolitikers und letztlich auch die Freigabe der benötigten Gelder durch die Politik verursachte. Die Erinnerungskultur scheint damit zurecht ein besonderes Anliegen des Herausgebers von „Die Mauer“ zu sein.
Alles in allem ist dem dtv mit „Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung“ ein vielfältiges, in seinen Einzelbeiträgen fundiertes Sammelwerk gelungen. Die Beiträge sind nicht strikt nach inhaltlichen Gesichtspunkten angeordnet, und aufgrund der hohen Informationsdichte und der Bandbreite des Gesamtwerkes empfiehlt es sich, seinen Inhalt in maßvollen Portionen zu genießen. Beiträge wie »Mauerkunst« und „Mauerrelikte“ bieten unter anderem Anhaltspunkte, sich vor Ort vertieft mit der Mauer und den mit ihr assoziierten Themen auseinanderzusetzen. Ansonsten eignet sich der Sammelband als Geschichtslektüre, die weit über das gewohnte Themenspektrum von Berlinblockade und Blöcke-Konfrontation hinausgeht, und in dieser schillernden Pose zu überzeugen weiß. Die Mauer. Von allen Seiten.
Weltzustand Fukushima
In seinen "Thesen zum Atomzeitalter" von 1959 zieht der Philosoph, Literat und Essayist Günther Anders (1902-92) einen ungeheuren Vergleich: Die Drohung mit der Atombombe sei totalitär, sie verwandele die ganze Erde "in ein ausfluchtloses Konzentrationslager" - weil sich der atomare Fallout im Ernstfall nicht an Ländergrenzen halte und die Vernichtungskapazität der weltweit existierenden Bombenarsenale jede Zweck-Mittel-Relation sprenge. In der kettenreaktiven Logik von Erstschlag und Zweitschlag bedeutet das nichts anderes als: "Jeder kann jeden Treffen, jeder von jedem getroffen werden."
In diesem Sinn markierte der 6. August 1945 - der Tag des Abwurfs der ersten Atombombe - für Anders eine Epochenzäsur: "Hiroshima als Weltzustand". Seit diesem Tag sei die Menschheit in der Lage, sich selbst auszurotten; eine irreversible 'Fähigkeit', die in totaler Ohnmacht mündet.
Wie Recht der oft als enervierender Schwarzmaler attackierte Anders mit seiner frühen Warnung vor der Atomtechnik hatte - in die er ausdrücklich auch die 'friedliche Nutzung der Kernenergie' einbezog -, demonstrierte einer tatsächlich ohnmächtigen Weltgemeinschaft einmal mehr die Reaktorhavarie von Fukushima. Wieder ist eine jener "nuklearen Zeitbomben mit unfestgelegtem Explosionstermin" (Anders) in die Luft geflogen. Und wieder ist die Weltgemeinschaft, bis auf eine Ausnahme, rasch zur atomaren Tagesordnung zurückgekehrt. Günther Anders hätte in diesem Fall gewiss "Apokalypseblindheit" diagnostiziert.
Doch nicht nur als Vordenker der Anti-Atom-Bewegung, auch als kritischer Theoretiker der Moderne, als Medienphilosoph avant la lettre, Dichter und Tagebuchschreiber ist Günther Anders bis heute immer noch ein lesens- und bedenkenswerter Autor. Wer ihn näher kennen lernen will, kann neben seinen Schriften aus dem Beck-Verlag nun auch wieder auf ein aus aktuellem Anlass bei Diogenes neu aufgelegtes Lesebuch zurückgreifen, darin ausgewählte atom- und fernsehkritische Texte, zahlreiche philosophische Fabeln und Aphorismen, Auszüge aus Tagebüchern sowie Günther Anders' Briefwechsel mit dem als 'Hiroshima-Pilot' in die Geschichte eingegangenen Claude Eatherly, abgerundet von einem Interview aus dem Jahr 1979.
Günther Anders: Die Zerstörung unserer Zukunft. Ein Lesebuch. Herausgegeben von Bernhard Lassahn. Zürich 2011, 352 S., 10,90 Euro.
Pilgerorte der Wissensgesellschaft
Gibt es eigentlich Pilgerorte der Moderne? Diese Frage stellten sich bekannte Schriftsteller, Forscher und Journalisten. Auf der Suche nach einer Antwort führen sie in dem Buch "Mekkas der Moderne" quer durch den Kosmos der globalisierten Wissensgesellschaft. sciencegarden lädt Sie mit der Veröffentlichung einiger ausgewählter Kapitel auf die Reise ein - und zur Reflexion, was eigentlich Ihr ganz persönliches Pilgerziel wäre. Etwa das Aspen Center for Physics in Colorado oder die United Nations University in Tokio?
"Es ist Deutschland hier"
Noch nicht im Amt, beweist der künftige deutsche Außenminister bereits souveräne Weltläufigkeit. Noch unklar ist hingegen, wie das wirtschaftspolitische Profil der neuen Bundesregierung aus sozialdemokratisierter Merkel-CDU und marktradikalen Freidemokraten aussehen wird. Ginge es allein nach der FDP, dürfte sich die Bevölkerung wohl auf verschärfte "Deregulierung" und Entstaatlichung in puncto Bildung und Wohlfahrt einstellen - und auf neue Freifahrtscheine für die entfesselte Weltwirtschaft.
Wer immer noch rätselt, wie kurz nach Ausbruch der größten Wirtschaftskrise seit den 1920er Jahren eine neoliberale Partei in diesem Land mit derartigem Aplomb an die Macht kommen konnte, dem sei die spannende, nicht nur stilistisch ansprechende Lektüre der von Christoph Buterwegge, Bettina Lösch und Ralf Ptak unter Mitarbeit von Tim Engartner verfassten Kritik des Neoliberalismus - für 12,90 Euro inzwischen schon in der 2. Auflage erhältlich - sehr ans Herz gelegt.
Die Autoren rekonstruieren geistige Grundlagen, Geschichte und das gesellschaftspolitische Programm der weltweit heute vermutlich wirkungsmächtigsten Ideologie, deren Ziel nicht weniger als die "Entthronung der Politik" (Friedrich August von Hayek) ist. Sie erklären, wie es zur globalen Hegemonie des Neoliberalismus gekommen ist, obwohl bereits dessen Prämissen wirklichkeitsfremd und obskur sind, und führen anhand zahlreicher Beispiele aus, wie Privatisierung, Deregelierung und Flexibilisierung aus demokratischen Gemeinwesen postfeudale und repressive Konkurrenzgesellschaften machen.
Das Buch der Kölner Forscher ist ein Musterbeispiel kritischer und engagierter Wissenschaft und ein wertvoller Navigator für die kommende Legislaturperiode und darüber hinaus.
James Bond ist ein Physikgenie
"Glaubt eigentlich irgendjemand ernsthaft, dass James Bond ohne Physikkenntnisse noch leben würde?" Diese Frage stellen Metin Tolan und Joachim Stolze, Physikprofessoren an der TU Dortmund und eingefleischte Bond-Fans, in ihrem Buch Geschüttelt, nicht gerührt. James Bond und die Physik.
Tolan und Stolze überführen mit stupendem Detailwissen, eleganten Überlegungen und leichter Feder den Meisterspion und seine halsbrecherischen Aktionen in wissenschaftlich solide Analysen. Auf der Grundlage von Bonds Körpergröße (1,83 Meter) und Gewicht (76 Kilogramm) – der ,James-Bond-Einheit‘ – berechnen die Physiker die Wahrscheinlichkeit von Knochenbrüchen bei Sprüngen von Kranauslegern (hoch), die Möglichkeit von Verfolgungsjagden auf senkrechten Stahlträgern (vorhanden) und in 5000 Meter Höhe ohne Fallschirm (dito!) sowie die Notwendigkeit von allerlei Spezialanfertigungen (meistens gegeben, aber wenig realistisch). Sie rekonstruieren die Wirkung des mysteriösen ,Atomgeräts‘ aus dem wohl berühmtesten aller Bond-Filme, Goldfinger, und der Röntgenbrille aus Die Welt ist nicht genug, von Raketenrucksäcken (Feuerball) und Laserwaffen (Stirb an einem anderen Tag) und klären so nebenbei auch einige peinliche Filmfehler auf. Außerdem lüften sie das Geheimnis um den wohl berühmtesten Drink der Filmgeschichte (der sich als wahrer Gesundbrunnen entpuppt).
Jede besprochene Filmszene wird zunächst nacherzählt, anschließend "so quantitativ und so detailgenau wie möglich ausgewertet". Am Ende jedes Abschnitts können sich besonders Wissenshungrige dann noch in die "Details für Besserwisser" vertiefen. Dabei geht es den Autoren nicht darum, James Bonds spektakuläre Stunts als Humbug zu entlarven (was sie aber nicht selten dennoch tun...). Vielmehr versuchen sie, Bedingungen anzugeben, unter denen die Filmszenen tatsächlich klappen könnten – oder eben auch nicht.
So dürfte sich, wenn sie denn funktionieren sollte, zum Beispiel die Magnet-Uhr, die Bond zu Beginn von Leben und sterben lassen dazu benutzt, einen Löffel von der Untertasse seines Vorgesetzten M anzuziehen, nicht auf 40 Millionen Grad aufheizen. Dies geschähe jedoch, sobald Bond die für die Magnetwirkung nötige Spezialbatterie von 9.000 Ampere einschalten würde. "Als Konsequenz würde James Bond kurz nach dem Einschalten der Uhr in seine atomaren Bestandteile zerlegt werden und verdampfen." Nach rund 300 Seiten ist für Tolan und Stolze jedenfalls klar, "dass eine solide Physikausbildung für jeden Doppelnull-Agenten offensichtlich lebensnotwendig ist." Manchmal auch etwas mehr als das. Immerhin muss James Bond gelegentlich sogar gekoppelte nichtlineare Differentialgleichungen lösen – in wenigen Sekunden und auf einem Motorrad sitzend, das einem Abhang entgegenrast.
Das reich bebilderte, anspruchsvoll aufgemachte und humorvoll geschriebene Buch ist nicht nur für Bond- und Physik-Freunde ein äußerst kurzweiliger Lesegenuss!
Im Piper-Verlag erschienen, kosten seine 302 Seiten 16,90 Euro. Inzwischen gibt es von Metin Tolans physikalischer Bond-Vorlesung auch eine DVD.
Finanzkonglomeraterichtlinieumsetzungsgesetz
"Denk' ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen..."
So bitter sich einst der Exildichter Heine in seinen Pariser "Nachtgedanken" nach dem Vaterland sehnte, so düster klingen seine Verse heute nach, wenn uns die Bilder der jüngeren deutschen Geschichte vor Augen treten. Ach ja, die Deutschen! "Für die Weltgeschichte habt ihr genug getan", seufzte schon Churchill. Dazu noch die eklatante Humorlosigkeit, das fette Essen, die preußische Akkuratesse...
Aber wie steht es heute wirklich um unser Ansehen in der Welt? Was denken die anderen von uns - und was können wir dadurch über uns selbst lernen? Fragen, auf die ein glanzvoll geschriebener und reichlich illustrierter Band aus dem Bucher-Verlag auf das Unterhaltsamste zu antworten weiß: "Piefke, Krauts und andere Deutsche. Was die Welt von uns hält", 187 Seiten, 140 Abbildungen, 24,95 Euro und hochgradig geschenktauglich.
Dem Bamberger Autorenpaar Andrea und Martin Schöb, die hauptberuflich unter anderem eine Text- und Übersetzungsagentur betreiben, gelingt in ihrem Buch, was man heute nur noch selten findet: Die Verbindung von profundem Wissen und subtilem Humor mit verblüffenden Details, die pars pro toto das Große im Kleinen erhellen. Kein einziges der zehn Kapitel - über deutsche Ordnung, deutschen Humor, deutsches Essen und deutsche Kultur... - hat einen Hänger, die feine, lebendige Sprache beglückt den Leser permanent und die Überleitungen am Ende jedes Kapitels machen es schwer, den Band nicht in einem Stück zu lesen, und das obwohl "die Deutschen" ja bekanntlich zu monströsen Bandwurmwörtern (siehe Überschrift) und ominösen Rechtschreibreformen neigen.
Am Ende des Buches weiß man nicht nur, wie viele Brathähnchen während des Oktoberfests verschlungen werden (und - typisch deutsch? - wie viel Müll auf der Wies'n anfällt) oder dass es überall auf der Welt Gartenzwegbefreiungsarmeen gibt. Sondern vor allem, dass unser Land von außen oft differenzierter und freundlicher wahrgenommen wird, als wir selbst das für gewöhnlich tun. Ob Heine deshalb heute besser schlafen würde, steht zwar auf einem anderen Blatt. Die Tränen aber müssten ihm nicht mehr fließen.
Nachbarschaftsverständnishilfe
Wenige europäische Völker haben unter Hitlers Vernichtungsfeldzug so sehr gelitten wie die Polen. Die Wunden sind bis heute nicht vernarbt. Und schnell wieder aufgerissen, wie man an der Debatte um das geplante Vertriebenenzentrum in Berlin oder an den Versuchen der letzten polnischen Regierung unter Jaroslaw Kaczynski ablesen konnte, aus der besonderen Schwere der Kriegsfolgen eine europäische Sonderrolle für das Land abzuleiten.
Die Auseinandersetzung der Polen mit den einstigen Besatzern aus dem Westen reicht zurück bis ins Mittelalter - fast ebenso lange kursieren schon jene hartnäckigen Vorurteile der Deutschen über die vermeintliche ökonomische und politische Unfähigkeit ihres östlichen Nachbarn und seinen angeblichen Hang zur Kleptomanie ("Polenwitze"). Doch sie überdecken nur, wie eng beide Länder miteinander verbunden sind - und dass es höchste Zeit wird, einander wieder näher kennen zu lernen. Europa sei dank, hindert uns daran eigentlich nichts mehr. Die Grenzen sind offen, viele Polen sprechen fließend Englisch oder Deutsch. Und doch scheint uns das Land so fern und unbekannt wie Afrika und - die Vorurteile sitzen tief - wohl auch ein wenig unheimlich. Allein es fehlt an Wissen!
Wussten Sie zum Beispiel, was die Preußen mit den Polen zu tun haben, warum polnische Konservative die deutschen Christdemokraten nicht mögen, wie der polnische Papst Johannes Paul II. die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht hat und aus welchen historischen Gründen Polen - in Europa nahezu isoliert - für den Irak-Krieg George W. Bushs stimmte? Oder dass Karl Marx und Friedrich Engels gewissermaßen den Vorläufer der EU gründeten - gemeinsam mit einem Polen?
Diese und andere Fragen klärt Thomas Urban in der neuen, von Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker herausgegebenen und liebevoll aufgemachten Reihe "Die Deutschen und ihre Nachbarn". Der langjährige SZ-Korrespondent, selbst mit einer Breslauer Polin verheiratet und wohnhaft in Warschau, bringt seinen Lesern auf 170 Seiten persönlich, kompakt und kenntnisreich die wichtigsten Wegmarken deutsch-polnischer (Mentalitäts-)Geschichte nahe. Mehrere Abbildungen und Karten, Zeittafel und Literaturverzeichnis runden den positiven Gesamteindruck ab und verleiten dazu, den geplanten Asienurlaub umgehend zu stornieren.
Die auf dem Buchumschlag stilisierte Marienkirche steht übrigens in Krakau (polnisch: Krakow), bis 1596 Hauptstadt Polens und Sitz der zweitältesten Universität Mitteleuropas, inmitten eines Viertels, dass architektonische Glanzstücke aus Gotik, Renaissance und Barock versammelt und für sich schon eine Reise wert ist.
