Politik

Weltzustand Fukushima

In seinen "Thesen zum Atomzeitalter" von 1959 zieht der Philosoph, Literat und Essayist Günther Anders (1902-92) einen ungeheuren Vergleich: Die Drohung mit der Atombombe sei totalitär, sie verwandele die ganze Erde "in ein ausfluchtloses Konzentrationslager" - weil sich der atomare Fallout im Ernstfall nicht an Ländergrenzen halte und die Vernichtungskapazität der weltweit existierenden Bombenarsenale jede Zweck-Mittel-Relation sprenge. In der kettenreaktiven Logik von Erstschlag und Zweitschlag bedeutet das nichts anderes als: "Jeder kann jeden Treffen, jeder von jedem getroffen werden."

In diesem Sinn markierte der 6. August 1945 - der Tag des Abwurfs der ersten Atombombe - für Anders eine Epochenzäsur: "Hiroshima als Weltzustand". Seit diesem Tag sei die Menschheit in der Lage, sich selbst auszurotten; eine irreversible 'Fähigkeit', die in totaler Ohnmacht mündet.

Wie Recht der oft als enervierender Schwarzmaler attackierte Anders mit seiner frühen Warnung vor der Atomtechnik hatte - in die er ausdrücklich auch die 'friedliche Nutzung der Kernenergie' einbezog -, demonstrierte einer tatsächlich ohnmächtigen Weltgemeinschaft einmal mehr die Reaktorhavarie von Fukushima. Wieder ist eine jener "nuklearen Zeitbomben mit unfestgelegtem Explosionstermin" (Anders) in die Luft geflogen. Und wieder ist die Weltgemeinschaft, bis auf eine Ausnahme, rasch zur atomaren Tagesordnung zurückgekehrt. Günther Anders hätte in diesem Fall gewiss "Apokalypseblindheit" diagnostiziert.

Doch nicht nur als Vordenker der Anti-Atom-Bewegung, auch als kritischer Theoretiker der Moderne, als Medienphilosoph avant la lettre, Dichter und Tagebuchschreiber ist Günther Anders bis heute immer noch ein lesens- und bedenkenswerter Autor. Wer ihn näher kennen lernen will, kann neben seinen Schriften aus dem Beck-Verlag nun auch wieder auf ein aus aktuellem Anlass bei Diogenes neu aufgelegtes Lesebuch zurückgreifen, darin ausgewählte atom- und fernsehkritische Texte, zahlreiche philosophische Fabeln und Aphorismen, Auszüge aus Tagebüchern sowie Günther Anders' Briefwechsel mit dem als 'Hiroshima-Pilot' in die Geschichte eingegangenen Claude Eatherly, abgerundet von einem Interview aus dem Jahr 1979.

Günther Anders: Die Zerstörung unserer Zukunft. Ein Lesebuch. Herausgegeben von Bernhard Lassahn. Zürich 2011, 352 S., 10,90 Euro.

Zweierlei Maß

Gewollt oder ungewollt, werden wir Einwohner Deutschlands derzeit Zeugen von Entscheidungen, die sich im Rückblick als historische Weichenstellungen herausstellen könnten: So wurde am vergangenen Freitag in Brüssel der Euro ein weiteres mal "gerettet". Griechenland wurden 109 Milliarden zugesprochen, der Währungs-Schutzschirm EFSF soll nun ausgebaut werden. Damit bröckelt der Damm immer mehr, der die "Währungsunion ohne politische Einheit" davor schützte, mit dem Einkommen der besser gestellten Staaten für die teils desolaten Haushalte des Rests einzuspringen. Bundeskanzelerin Merkel kommentiert laut Spiegel online lapidar: "Was wir in diesen Zeiten für Europa und den Euro aufwenden, das bekommen wir auf ein Vielfaches zurück."

Auf der anderen Seite steht nun seit dem 7. Juni dieses Jahres fest: Deutschland steigt aus der Nutzung der Kernenergie aus. Eine Entscheidung, die nicht nur wegen Fukushima längst überfällig war. Schließlich war sie am 14. Dezember 2001 schon einmal gefällt worden. Der "Ausstieg aus dem Ausstieg" durch Schwarz/Gelb dürfte wohl als einer der schlimmsten Siege des Lobbyismus gegen etablierte demokratische Entscheidungsverfahren in die Geschichte eingehen. Von denselben Politikern und weitergetragen von denselben Medien wie die Euro-Berichterstattung ist aber zur so genannten Energiewende vor allem Folgendes zu vernehmen: Sie wird Geld kosten - jeden Einzelnen, klar, und dann auch noch die Volkswirtschaft als Ganze!

Nun befürchte ich, dass die Mathematiker und Volkswirte recht haben, wenn sie prophezeien, dass wir alle für den Traum von nachhaltigen Strom tiefer in die Tasche greifen müssen. Tiefer auch als die 10 Euro pro Monat, die wir laut Umfragen beizutragen bereit sind. Aber sind wir nicht auch das Land mit der Technologieführerschaft in diesem Bereich? Und exportieren wir deshalb nicht jetzt und in Zukunft zahlreiche Ökostrom-Anlagen? - Dann bekommen wir das doch auch auf ein Vielfaches zurück. Oder wir messen mit zweierlei Maß!

Causa Guttenberg - offener Brief an Angela Merkel

Während der Druck auf Bundesselbstverteidigungsminister zu Guttenberg beinahe stündlich wächst, und inzwischen auch hochrangige Wissenschaftsvertreter einen Betrüger nennen, was ein Betrüger ist, sammeln Deutschlands DoktorandInnen im Internet Unterschriften unter einen offenen Brief an Dr. Angela Merkel.

Darin wird der Kanzlerin in vorzüglichen Worten erläutert, was der Fall ist, warum Herr zu Guttenberg alle ehrlich Promovierenden und in der Wissenschaft Lehrenden verhöhnt und warum das ein Ende haben muss. Dem ist nichts hinzuzufügen außer der eigenen Unterschrift!

PS: Auch Promovierte und Habilitierte sind freundlich eingeladen, ihren Servus unter das Dokument zu setzen.

Guttenberg-Debatte: 70 Dozenten stellen sich gegen die Bagatellisierung des Plagiats

Plagiat ohne Konsequenzen? In einem Brief an den bayrischen Staatsminister für Wissenschaft äußern sich 70 Universitätsdozenten besorgt über mögliche negative Auswirkungen auf die wissenschaftlichen Standards an deutschen Hochschulen:

Herrn
Staatsminister Dr. Wolfgang Heubisch
Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst
Salvatorstraße 2
80333 München

München, 22.02.2011

Sehr geehrter Herr Minister,

die Unterzeichneten, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München Sprach- und Literaturwissenschaft lehren, beobachten die derzeitige Diskussion um die Plagiate in der Dissertation Karl-Theodor zu Guttenbergs mit großer Sorge. 

Wir achten bei unseren Studierenden sehr sorgfältig darauf, dass sie vom ersten Semester ihres Studiums an die allgemein akzeptierten, etwa auch von der DFG klar definierten Standards wissenschaftlichen Arbeitens einhalten, darunter vor allem auch die Pflicht zum Nachweis von Zitaten. Selbst vermeintlich geringfügige Verstöße gegen diese Regeln führen mindestens dazu, dass kein Schein für die Veranstaltung ausgestellt wird (bzw. keine ECTS-Punkte vergeben werden), zu der die entsprechende Seminararbeit angefertigt wurde. Dies wird dem Verfasser der entsprechenden Arbeit in einem persönlichen Gespräch mitgeteilt. 

Als Verstöße, die zu diesen Sanktionen führen, verstehen wir (im Einklang mit den allgemein akzeptierten Standards) bereits solche, die weit unterhalb der Ebene dessen liegen, was auch nur in einem ersten Bericht über nicht nachgewiesene Zitate in der Dissertation Karl-Theodor zu Guttenbergs dokumentiert wurde (1) - und dabei handelt es sich nur um einen kleinen Auszug von inzwischen eindeutig nachgewiesenen Plagiaten. 

Wir maßen uns wohlgemerkt nicht an, in Untersuchungen einzugreifen, die jetzt von der Universität Bayreuth bereits eingeleitet wurden; noch weniger wollen wir uns in Debatten über mögliche politische Konsequenzen einmischen. 

Vielmehr wenden wir uns an Sie, weil die Diskussion über diesen Fall uns sehr beunruhigt. In der Öffentlichkeit wird nämlich zunehmend der Eindruck hergestellt, es handle sich hier um eine im engeren Sinne politische, also parteipolitische Debatte. Und leider vertreten manche Politiker dabei die Position, es habe sich bei dem Verhalten des Promovenden um einen Kavaliersdelikt wie Falschparken gehandelt, das im Wissenschaftsbetrieb allerorten üblich sei, so dass dieser spezielle Fall überhaupt nur aufgedeckt worden sei, um eine "Schmutzkampagne"(2) oder gar einen "politisch motivierten Angriff von ganz Linksaußen"(3) gegen einen Regierungspolitiker zu führen. 

Die Unterzeichneten möchten an der Universität weiterhin in der Lage sein, mit großer Strenge die Standards wissenschaftlichen Arbeitens nicht nur selbst einzuhalten, sondern sie auch unseren Studierenden zu vermitteln. Wir halten dies nicht für eine parteipolitische Aufgabe. Diese Arbeit wird aber beträchtlich erschwert, wenn der Eindruck verbreitet wird, Plagiate im Wissenschaftsbetrieb seien ganz üblich und würden nur ausnahmsweise von Linksradikalen aufgedeckt. Wir bitten daher Sie als den für uns zuständigen Staatsminister, uns in unserer Arbeit zu unterstützen, indem Sie auch öffentlich diesem Eindruck entgegentreten. 

Mit freundlichen Grüßen 

R. Stockhammer.

im Namen folgender Kolleginnen und Kollegen in alphabetischer Reihenfolge (welche die Bereitschaft zu unterzeichnen, per E-Mail an den Verfasser dieses Briefes mitgeteilt haben):
Vera Bachmann, M.A., Neuere Deutsche Literatur
Prof. Dr. Christian Begemann, Neuere Deutsche Literatur
Prof. Dr. Klaus Benesch, Nordamerikanische Literaturgeschichte
Anna-Lisa Dieter, M.A., Neuere Deutsche Literatur
Dr. Annette E. Doll, Nordische Philologie
Prof. Dr. Tobias Döring, Englische Literaturwissenschaft
PD Dr. Hilke Elsen, Germanistische Linguistik
Prof. Dr. Wolfram Ette, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Dr. Michael Ewert, Deutsch als Fremdsprache
Dr. Wolfgang Falkner, Anglistische Linguistik

1 Vgl. Roland Preuß/Tanjev Schultz, "Verteidigungsfall", in: Süddeutsche Zeitung, 15.2.2011, Seite 2.
2 Günter Krings (Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag), zitiert in: Handelsblatt online 17.02.2011, 07:04 Uhr, http://hb2010.handelsblatt.com/politik/deutschland/union-wittert-schmutz... [Letzter Aufruf: 20.02.2011]
3 Hans-Peter Friedrich (Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag), zitiert in: Focus Online, Mittwoch 16.02.2011, 21:21,
http://www.focus.de/politik/deutschland/plagiatsvorwuerfe-csu-politiker-... [Letzter Aufruf: 20.02.2011]

Bildungs(bananen)republik Deutschland

Nun hat sich auch die Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, zur Plagiatscausa Guttenberg geäußert. Sie habe keinen Wissenschaftlichen Mitarbeiter ins Kabinett berufen, sondern einen Verteidigungsminister. Das ist so richtig wie ehrenrührig. Wer es für kargen Lohn und ohne geregelte Berufsaussichten (nebenbei bemerkt: auch ohne ein Familienvermögen von rund 600 Mio. Euro im Rücken) mit der Wahrheit genau nimmt, darf sich von der promovierten Physikerin aus dem Berliner Regierungsviertel düpiert fühlen.

Jetzt wissen wir also, wie ernst es der Kanzlerin mit der "Bildungsrepublik Deutschland" ist, die sie vor wenigen Jahren vollmundig ausrief. Ihre Verachtung für das höchste Gut der Wissenschaft - deren handwerkliche Redlichkeit und den Anspruch unbedingter Glaubwürdigkeit - zeigt, dass es ihr nicht so sehr um Deutschlands Zukunft, sondern vor allem um die ihres eigenen Kabinetts bange ist.

Jede seriöse Hochschule ist bestens beraten, Plagiatsversuche bei Abschluss- und insbesondere bei Doktorarbeiten strengstens zu ahnden. Nichts weniger als ihr Renommee steht auf dem Spiel. Auch wenn große Teile der deutschen Bevölkerung in Guttenbergs Fehlverhalten eine lässliche Sünde sehen wollen: Wer in der Wissenschaft abkupfert, gefährdet nicht nur seinen akademischen Abschluss, er untergräbt die Grundfesten der Wissenschaft und ruiniert ihr Ansehen. Einer wettbewerbsbewussten Kanzlerin darf das nicht gleichgültig sein! Und all jenen, die durch ihr Statement herabgesetzt worden sind, auch nicht.

Fußnoten...

Der amtierende Bundesverteidigungsminister Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg steht derzeit wegen seiner 2007 an der Universität Bayreuth mit "summa cum laude" bewerteten juristischen Dissertationsschrift unter Plagiatsverdacht. Hat er oder hat er nicht - abgeschrieben, Anführungszeichen nicht gesetzt, Fußnoten vergessen?!

Dass Dr. Guttenberg ein eigenes Verhältnis zur Wahrheit unterhält, ließ sich schon bei seinem Amtsantritt als Minister der Großen Koalition feststellen. Da gab er an, bereits reichlich Erfahrung als mittelständischer Unternehmer gesammelt zu haben und insofern bestens qualifiziert zu sein für das Wirtschaftsministerium eines Landes, dessen gern zitiertes ökonomisches Rückgrat bekanntlich aus lauter emsigen Mittelständlern besteht. Tatsächlich hatte "KT", wie Freunde und Fans den Freiherrn gerne nennen, nur das Guttenbergsche Hausvermögen verwaltet.

Dass es bei der Anfertigung seiner Dissertation nun jedoch derart krumm zugegangen sein sollte, wie weiland im Fall eines blaublütigen Kollegen, dem Hohenzollernprinzen Friedrich Wilhelm (der seinen akademischen Grad schließlich reumütig "zurückgab"), wollen wir zu Guttenbergs Gunsten nicht hoffen. Vielleicht hätte er vor Abgabe seiner Arbeit aber doch einfach mal bei seinem Großvater nachlesen sollen, wie das mit den Fußnoten so läuft...

Volksherrschaft und Liberalität

Heute wird der Bundespräsident gewählt. Der Tag wird in deutlichem Licht zeigen, welches Verständnis die Berufspolitiker von ihrem Amt haben. Vor allem zwei, mehr oder minder radikale politische Kräfte, zeigen heute ihr wahres Gesicht: Die LINKE möchte sich lieber doch nicht von der DDR distanzieren, ein Bürgerrechtler ist ihnen zu bürgerlich. Freiheit und Sozialismus sind für die Sozialisten keine gute Kombination. Die FDP, sonst mit großer Neigung zu "Anti-Kommunisten" (wie es früher hieß), wird zeigen, ob sie einen Kämpfer für die Freiheit wählen will. Joachim Gauck ist vor allem ein liberaler Mensch, der für den Rechtsstaat eintritt, für Selbstverantwortung und Mut. Nach eigener Aussage ist der FDP aber ein konservativer Katholik lieber -- soviel zur Liberalität dieser Partei. Sie ordnet sich, wie zu Zeiten Helmut Kohls, auf Zuruf einfach unter. Und die "bürgerliche" CDU/CSU? Auch die wird sich zu einem BÜRGERrechtler nicht bekennen, das geht wohl zu weit, auch weil Gauck mit christlichen Werten Ernst macht. Die Parteien mit dem "C" in Namen wollen keinen Theologen. Aber warum eigentlich nicht? Hatte nicht die CSU selbst Gauck schon einmal vorgeschlagen? 

Vielleicht ist das der Nachteil der reinen Berufspolitiker, sie vergessen über ihren parteipolitischen Reinheitsgeboten die politischen Kernwerte ihrer Einstellung: Was es heißt, liberal zu sein, das müsste die Friedrich-Naumann-Stiftung den Parteimitgliedern erst noch beibringen. Welche Werte mit der Bürgerlichkeit verbunden sind, könnte die Adenauer-Stiftung in die CDU kommunizieren. Und vor allem: das der Bundespräsident keine bloße Schachfigur im Parteienspiel sein darf. Ähnlich den Verfassungsrichtern agiert er nicht für eine Partei, sondern im übergeordneten demokratischen Sinne. In diesem Sinne agieren heute in der Bundesversammlung die Wahlmänner wahrscheinlich nicht; wenn doch, wäre das eine sehr gute Nachricht für die deutsche "geglückte Demokratie".

Sklavenhalterei an deutschen Universitäten

Helmut Pape, Bamberger Privatdozent, beklagt in der heutigen Zeit das Schicksal seiner Leidensgenossen. Die deutschen Universitäten hielten sich laut Pape "Tausende hoch qualifizierter Wissenschaftler, die als Privatdozenten oder außerplanmäßige Professoren ein kümmerliches Dasein fristen." In der oft falschen Hoffnung auf den Lehrstuhl ließen sich diese gnadenlos ausbeuten.

Pape macht auf die verschärfte Situation der "Uni-Sklaven" aufmerksam, die sich durch das politische Streichkonzert des vergangenen Jahrzehnts ergeben habe, dem die Stellen des Mittelbaus zum Opfer gefallen seien: Also die wenigen bezahlten Uni-Stellen jenseits des Lehrstuhles. Ein ungeheurer Skandal, wie auch ein Leser findet: "Wir haben in Deutschland Studiengänge, die ohne unbezahlte Zuarbeit gar nicht angeboten werden könnten, Massenfächer, die kollabieren würden, würde auch nur ein Drittel der Privatdozenten auf einmal abspringen." 

Ein anderer allerdings sieht in der misslichen Situation der Privatdozenten das Spiegelbild der gesamten Gesellschaft überhaupt: "Das ganze Land wird über prekäre Arbeitsverhältnisse zurechtgeschrumpft, um es -- wie es heisst -- global wettbewerbsfähig zu machen." Und in diesem Sinne lassen sich Papes Fragen "Warum die Unis nicht mit Klagen, Verfassungsbeschwerden und Demonstrationen überzogen werden? Warum Privatdozenten nicht die Hörsäle anzünden?" vielleicht damit beantworten, dass die Entsolidarisierung durch den Marktfundamentalismus freilich vor den Toren der Universität nicht halt macht. 

Biographisches (Lohn)Abstandsniveau

Wer arbeitet soll mehr haben als ein "Transferempfänger", dafür plädiert der Außenminister. Ich plädiere dafür auch! Dass Krankenschwestern und Kellnerinnen, seine liebsten Beispiele, im reichsten Land der Welt schlicht viel zu wenig verdienen, kommt dem Vizekanzler aber leider gar nicht erst in den Sinn. Da Deutschland, anders als andere Länder, sich nicht für einen Mindestlohn entscheiden kann, müssen viele Menschen staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen, obwohl sie die ganze Woche arbeiten. Mit dem Lohnabstandsniveau stimmt also tatsächlich etwas nicht: Es ist zwischen mittlerem Management und denen ganz oben exorbitant und unverhältnismäßig hoch! Es ist unten viel zu gering, weil in den Berufen, die von Frauen (und von Ausländern) ausgeübt werden, ein erniedrigender Lohn gezahlt wird. Von zu hohen Sozialleistungen kann nicht die Rede sein -- wie sonst ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu verstehen? Der Missbrauch staatlicher Leistungen sollte natürlich genauso konsequent verfolgt werden, wie die traditionellen Vergehen der schwarz-gelben Wählerschaft: schwarze Kassen, strategische Parteispenden oder Steueroasen -- alles schadet nämlich denen, die ihre Steuern pflichtbewusst zahlen.

8% der Wählerschaft sehen das zur Zeit ganz anders. Warum? Da hilft vielleicht der exemplarische Blick auf den Außenminister: Abitur, 7 Jahre Jura-Studium, Parteikarriere, noch einmal Uni (Promotion), keine Familie zu versorgen, Beamter & privatversichert (!), nie ein öffentliches Verkehrsmittel gesehen. Wahrscheinlich über die längste biographische Zeit vollfinanziert, beide Elternteile Anwälte. Und das in einer Studienzeit ohne Studiengebühren, ohne rigiden BA-Stundenplan und in einem wohlhabenden, verschlafenen Beamten-Kleinstädtchen. Das ist einerseits eine Glückssituation und dafür muss sich kein Mensch schämen. Andererseits lässt sich aus dieser Erfahrungswelt heraus nicht auf die real existierende Gesellschaft im Jahr 2010 schließen. (Wir haben übrigens auch wieder eine "Familienministerin", die nichts als die Uni kennt.)

Hier fehlt nicht nur die Erfahrung, mit einem Job für ein paar Euro die Stunde ein Leben finanzieren zu müssen oder sogar für eine Familie die Verantwortung zu tragen. Hier spricht ein ganz unreflektiertes, einfach ererbtes kulturelles und ökonomisches Kapital -- und übt sich im Kurzschluss. Nicht nur das Lohnabstandsniveau stimmt nicht; bei einigen Politikern stimmt auch das biographische Abstandsniveau zu denen, die sie vertreten, nicht: es ist zu groß.

Basisdemokratie als ethische Zwickmühle

In der Schweiz hat eine demokratische Mehrheit etwas entschieden. Dass die Mehrheit von Emotionen und weniger von Argumenten geleitet ist, ändert das nicht. Leider! Oder? Die gegenwärtigen Studierendenstreiks führen zur Solidarisierung, die Dekane bitten vielerorts die Dozentenschaft, die Studierenden von Seminaren freizustellen -- wegen der Streiks. Sucht man die besetzen Räume der Unis auf, begegnet man vielen Emotionen und beeindruckendem Durchhaltewillen, aber wenigen konkreten Forderungen, Streikzielen oder gar ernsthafte Konzepten. (Die Parolen sind oft die der 70er Jahre, in denen wir nicht mehr leben.) Vor allem begegnet man aber: einer Minderheit! Ich lasse meine Seminare zwar ausfallen, weil auch ich Kritik am BA-Schulsystem habe, aber auch, weil mein Dekan darum bittet. Die Bildungspolitik hat wahrlich Streiks verdient, aber das ändert die demokratischen Regeln nicht. Wer schwarz-gelb will, soll die Folgen tragen. Ich richte mich hochschulintern aber nach Minderheiten! Darf ich das? Die Mehrheit streikt nicht, sondern käme lieber zum Seminar, geht arbeiten oder ist froh über die gewonnene Zeit. Und nun? Sage ich dieser Mehrheit, sie hätte unrecht? Oder gehe ich zu meinen vorgesetzten Professoren und sage: Sie solidarisieren sich mit einer Minderheit! Meine Seminare fallen aus -- eine ethische Zwickmühle.  

 

Titel zweiten Grades

Kristina Köhler heißt die neue Bundesfamilienministerin von der CDU - Dr. Kristina Köhler. Auf die Nominierung des 32jährigen Shootingstars aus Hessen reagierte die Süddeutsche Zeitung heute online mit einem hämischen "Bericht". Köhler, so SZ-Autor Thorsten Denkler unter dem Titel "Das schwarze Netz von Frau Doktor" habe eine - im Wissenschaftsjargon - "klassische Typ-II-Arbeit" verfasst, ein akademisches Werk also, dessen Verfasser, hier: dessen Verfasserin es ausschließlich um den Erwerb des begehrten Titels geht und nicht so sehr um den Fortschritt der Wissenschaft, alldieweil so ein "Doktor" ja viel hermacht vor dem titelehrfürchtigen Wahlvolk. Um neben ihrem 16-Stunden-Tag als Bundestagsabgeordnete überhaupt mit der - so die SZ - "vergleichsweise einfach gestrickt(en)" Dissertation zu Rande zu kommen, habe sich Köhler auf ein ganzes Netz politisch mächtiger Freunde und Förderer sowie hilfswissenschaftlicher Kräfte, zum Teil gegen Bares, verlassen können. Aus Köhlers Dissertationsvorwort zitierend, listet die SZ säuberlich alle diese Helferlein auf - nur um am Ende festzustellen, dass nichts an Köhlers Arrangements anrüchig ist.

Sicher, die meisten Doktorandinnen, die es ernst meinen mit der Wissenschaft, dürften von den Arbeitsbedingungen einer gut vernetzten Abgeordneten nur träumen. Und sehr wahrscheinlich hat Ministerin Köhler mit ihrer 300 Seiten umfassenden Schrift Gerechtigkeit als Gleichheit? Eine empirische Analyse der objektiven und subjektiven Responsivität von Bundestagsabgeordneten auch keine akademische Glanzleistung vollbracht. Aber das trifft auf viele Nachwuchsforscher, die es mit der Wissenschaft ernster meinen, ebenfalls zu.

Man mag von Arbeiten, die nur um des lieben Titels willen geschrieben werden, wenig halten. Besser wäre es, sie würden nicht geschrieben. Anstößig ist an der ganzen Sache aber vor allem eines: dass und wie die SZ mit lustvollem Eifer und gespielter Seriosität Zweifel an den Kompetenzen einer erfolgreichen (jungen) Frau säht.

Welcher strebsame Nachwuchsparlamentarier hätte denn bitteschön keine - privaten, schwarzen, roten, grünen... - Unterstützer nötig gehabt, um zum Beispiel Kinder großzuziehen, Manuskripte zu verfassen und Wissenslücken zu schließen? Wo bleibt das Feuilleton über die wissenschaftlichen Forschungen unseres Bundesaußenministers? Der hat seinen Doktortitel - womöglich vom Typ II? - vor Jahren an der Fernuniversität in Hagen erworben. Unter welchen Umständen, wird uns die SZ hoffentlich bald zu berichten wissen.

Absurder Nobelpreis

Der renommierte amerikanische Historiker und Politologe Howard Zinn empfand die Verleihung des Friedensnobelpreises an den US-Präsidenten als schockierend. Bevor er sich entsann, dass Obama nur ein weiterer Preisträger unter vielen ist, der Frieden verpricht, während er Kriege führt. Angesichts dessen sollte sich das Preis-Komitee am besten in den Ruhestand begeben:

I was dismayed when I heard Obama was given the Nobel Peace Prize. A shock, really, to think that a president carrying on two wars would be given a peace prize. Until I recalled that Woodrow Wilson, Theodore Roosevelt, and Henry Kissinger had all received Nobel Peace prizes. The Nobel Committee is famous for its superficial estimates, won over by rhetoric and by empty gestures, and ignoring blatant violations of world peace.

Yes, Wilson gets credit for the League of Nations -- that ineffectual body which did nothing to prevent war. But he had bombarded the Mexican coast, sent troops to occupy Haiti and the Dominican Republic and brought the U.S. into the slaughterhouse of Europe in the first World War -- surely among stupid and deadly wars at the top of the list.

Sure, Theodore Roosevelt brokered a peace between Japan and Russia. But he was a lover of war, who participated in the U.S. conquest of Cuba, pretending to liberate it from Spain while fastening U.S. chains on that tiny island. And as president he presided over the bloody war to subjugate the Filipinos, even congratulating a U.S. general who had just massacred 600 helpless villagers in the Phillipines.

The Committee did not give the Nobel prize to Mark Twain, who denounced Roosevelt and criticized the war, nor to William James, leader of the anti-imperialist league.
Oh yes the Committee saw fit to give a peace prize to Henry Kissinger, because he signed the final peace agreement ending the war in Vietnam, of which he had been of the architects. Kissinger, who obsequiously went along with Nixon's expansion of the war, with the bombing of peasant villages in Vietnam, Laos, and Cambodia. Kissinger, who matches the definition of a war criminal very accurately, is given a peace prize!

People should not be given a peace prize on the basis of promises they have made (as with Obama, an eloquent maker of promises) but on the basis of actual accomplishments towards ending war, and Obama has continued deadly, inhuman military action in Iraq, Afghanistan, and Pakistan.

The Nobel Peace Committee should retire, and turn over its huge funds to some international peace organization which is not awed by stardom and rhetoric, and which has some understanding of history.

 

Angriff auf die Freiheit

Juli Zeh und Ilija Trojanow gehören nicht zu den Autoren, die sich mit popkulturellem Befindlichkeitsschrott aufhalten. Ihrem Ruf als politisch engagierte Schreiber werden sie nun mit einem streitbaren Essay für die bürgerliche Freiheit gerecht. Ihre 170 Seiten Tour durch Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und den Abbau von Freiheitsrechten in der Folge des "Anti-Terror-Kampfes" wird vor den anstehenden Wahlen hoffentlich noch zum Bestseller. Der polemische Stil macht das Buch leicht lesbar. Hier wird nicht seicht abgewogen, sondern zurückgeschlagen. Dass Juli Zeh auch eine preisgekrönte Juristin ist und beide Autoren akribisch haben recherchieren lassen, zeigt der umfangreiche Anmerkungsteil. Es wird nicht auf Sand gebaut. Das Buch steckt voller erschreckender Fakten, die eine getrübte Massenwahrnehmung korrigieren sollen: Der Grundrechtestandard ist keine Sicherheitslücke! Nicht die Kritiker des Abbaus von Freiheitsrechten sind hysterisch, sondern die Überreaktion auf den Terrorismus. Seit 2001 hat sich das Verhältnis westlicher Staaten zu ihren Bürgern grundlegend verändert. Er garantiert weniger deren Rechte, er misstraut und überwacht seine Bürger. Einige Jura-Professoren in Deutschland (also Lehrende!) fordern den Ausstieg aus den Menschenrechtskonventionen, weil diese die Folter verbieten. Jura-Professoren, die für die Wiedereinführung der Folter plädieren, werden von Wolfgang Schäuble ausdrücklich zur Lektüre empfohlen. Wie schleichend der Prozess des Grundrechteabbaus verläuft, darauf machen Zeh und Trojanow aufmerksam -- und von ihrem Buch werden die Innenminister Europas sicher abraten. Eigentlich ist es fatal, dass es in Deutschland keine liberale Kraft, schon gar keine liberale Partei gibt. Die FDP bleibt in Fragen der Freiheit zuverlässig opportunistisch. Der streitbare Essay zeigt aber, dass wir uns auch heute auf den erkämpften Freiheiten nicht ausruhen können. Die bürgerliche, nicht die wirtschaftliche Freiheit braucht Fürsprecher! Und dieser Essay braucht viele Leser.

Juli Zeh / Ilija Trojanow: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. Hanser, München: 2009

 

Ein neues Deutschland?

Zu Beginn dieses Jahres bat das Feuilleton der FAZ den Schriftsteller Jörg Albrecht, in Anklang an Stefan Zweigs Umbruchserfahrungen ("Die Welt von gestern") die Brüche in seiner eigenen Lebenswelt zu schildern. Leider ist nicht nur die Vermessenheit, den Erinnerungen eines schicksals- und leidgeprüften Exilanten des Zweiten Weltkrieges diejenigen eines in den BRD-Wohlstandsspeck der achtziger Jahre geborenen Jungautors gegenüberzustellen, der Redaktion anzulasten.

In seinem verhedderten Patchwork-Text "The world of morgen" beweist Albrecht vor allem, dass man im Jahr 2009, anders als in seinem Geburtsjahr 1981, weder Deutsch noch Englisch schreiben muss, um von der FAZ gedruckt zu werden. Ansonsten beschränken sich die Umbruchserfahrungen Albechts in erster Linie auf banale Beschleunigungserlebnisse vor der Videospielkonsole. Ob sich diese stark eingeschränkte Wahrnehmung daraus erklärt, dass Albrecht die meiste Zeit seines Lebens im Internet, vor dem Fernseher oder im "Strukturwandel" steckengebliebenem Ruhrgebiet verbracht hat, wissen wir nicht. Dass der Buchautor die dramatischen Zeitenwandel, die sich während seiner Lebensspanne inmitten Europas ereigneten, auf das Web 2.0 und die Erfindung der Digitalkamera reduziert, ist zweifelsohne mehr als ärgerlich. Als Altersgenosse schämt man sich ein wenig für derlei Nabelschau. Wäre doch so viel darüber zu sagen gewesen, wie sich das Deutschland, in das wir geboren wurden, in unseren Jugend- und Studienjahren einschneidend und atemberaubend rasch veränderte. (Auch für West-Deutsche.)

So bleibt es einem alten Hasen überlassen, von außen einen Blick auf "New Germany" zu werfen. Der Historiker Perry Anderson ergreift in der aktuellen Ausgabe der "New Left Review" die Gelegenheit für eine Bestandsaufnahme der tiefgehenden Veränderungen von Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur in Deutschland. In einem umfassenden Essay, dessen Ausführungen vom neoliberalen Schockprogramm der Schröderjahre, über den Bevölkerungsexodus in Ostdeutschland und die neuen Kriege bis hin zu gegenwärtigen Tendenzen im politischen Denken reichen, zeichnet Anderson ein Portrait der deutschen Gesellschaft, das befreit vom alltäglichen Nachrichten-Klein-Klein die gewaltigen Veränderungen aufzeigt, die uns aus der Nahperspektive so leicht zu entgehen drohen.

Der Beinahe-GAU von Harrisburg

Niels Boeing erinnert in der heutigen WOZ an den Beinahe-GAU eines Atomkraftwerks nahe des US-amerikanischen Harrisburg vor 30 Jahren. Nur viel Glück, nicht technische Zuverlässigkeit habe einen ähnlich schlimmen Unfall wie den von 1986 in Tschernobyl verhindert. Wer heute die Renaissance der Atomkraft predigt, dem sollte vor allem Folgendes zu denken geben: "Die Reaktoren der dritten Genera­tion, die derzeit in Finnland und Frank­reich gebaut werden, sind zwar so konstruiert, dass mehr Ersatzsysteme einspringen können, wenn wie in Harrisburg Teile der Anlage ausfallen. Aber selbst der Erbauer dieser neuen AKW, der Energiekonzern EDF, musste in einem Schreiben an die französische Reaktorsicherheitskommission einräu­men, dass die Sicherheitskonzepte «nicht alle Eventualitäten einschliessen können»."

backprinttop

Newsfeeds

Online-Recherche

Suchmaschinen, Infos, Datenbanken » mehr

Rezensionen

Buchrezensionen der sg-Redaktion » mehr

Wettbewerbe

Forschungswettbewerbe in der Übersicht » mehr

Podcasts

Übersicht wissenschaftlicher Podcast-Angebote » mehr

Mitmachen

/e-politik.de/

Aktuelle Beiträge:

Raumfahrer.net

Aktuelle Beiträge:

Anzeige