Rezension

"Unsere Medien, unsere Täter"

Kein Jahr ist es her, dass der TV-Mehrteiler Unsere Mütter, unsere Väter eine lang andauernde, zum Teil hoch emotionale öffentliche Debatte inklusive juristischem Nachspiel ausgelöst hat. Bis heute ist Ulrich Herberts klugem Verdikt dazu in der taz vom 21. März 2013 im Grunde wenig hinzuzufügen. Das Hamburger Institut für Sozialforschung hat dem Thema - der Mini-Serie wie der Verarbeitung des Nationalsozialismus in anderen Medien - nun jedoch ein ganzes Heft seiner Hauszeitschrift Mittelweg 36 gewidmet.

Tatsächlich bietet die Generalkritik Christoph Classens am TV-Event ( Opa und Oma im Krieg ) wenig Neues: Dass der Film sich visuell an US-amerikanischen Serienformaten orientiert, war schon andernorts zu lesen. Auch die von Classen herausgestellte, fragwürdige Authentifizierungsstrategie - die geschickte Kombination von fiktionaler Filmhandlung einerseits, Dokumentationen und Talkrunden im Anschluss an die Ausstrahlung andererseits - ist kein Spezifikum des Mehrteilers. Ebenso wenig wie das platte, aber wirkungsvolle tragische Narrativ der ausweglosen Verstrickung vermeintlich völlig unschuldiger, hoffnungsfroher junger Menschen (die wirklich Bösen sind wie immer die fiesen SS-Bestien...) und sein relativistischer Charakter. Das Fazit Classens kann daher kaum überraschen: Unsere Mütter, unsere Väter mache den Krieg zum großen Meta-Subjekt, das seine Protagonisten formt, und sei entgegen anderslautender Ansprüche der Produzenten keine innovative Verarbeitung des Vernichtungskriegs.

Ein wenig ratlos hinterlässt den Leser auch der Beitrag Ulrike Weckels, die Reaktionen von Tätern und deutscher Bevölkerung auf alliierte atrocity -Filme wie z.B. Death Mills untersucht hat. Ihre These: Die Deutschen hätten nicht nur auf den jeweiligen Film reagiert, sondern auch auf die "(unterstellte) Beschämungsabsicht der Alliierten". Zwar habe sich kaum jemand als nicht beschämbar erwiesen - offen positive Reaktionen wären im besetzten Deutschland auch kaum vermittelbar gewesen -, es lasse sich jedoch nur im seltensten Fall feststellen,"[w]ie sehr und wessen genau sich die beschämbare breite Mehrheit schämte"...

Wesentlich aufschlussreicher ist hingegen der Versuch der beiden Nachwuchsforscher Janosch Steuwer und Hanne Leßau, auf Sebastian Haffners Frage "Wer ist ein Nazi? Woran erkennt man ihn?" eine historisierende Antwort zu geben. Anhand von exemplarischen Tagebuchaufzeichnungen verfolgen sie, wie sich definitorische Selbstaussagen von Zeitgenossen, die dem neuen Regime zunächst ablehnend oder kritisch gegenüberstanden, schleichend an die neuen (politischen) Lebensbedingungen anpassten. Die Frage, wer ein Nazi ist und wer nicht, wird nach der Machtergreifung Hitlers zur Aufgabe biographischer Selbstbestimmung aller "Volksgenossen". Vor 1933 galt als Nazi, wer sich zur Partei bekannte und damit politisch hinreichend von anderen Parteigängern unterscheidbar war. Danach gab das Regime allein den Rahmen vor, innerhalb dessen man Farbe zu bekennen hatte - ein Rahmen, der auch deshalb so stabil war, wie Steuwer und Leßau betonen, weil er in gewissen Grenzen individuelle Aneignungen und Abweichungen tolerierte und es auf eben diese Weise erlaubte, die eigene Biographie mit dem System kompatibel zu machen.

In der Literaturbeilage sucht Norman Ächtler nach der Thematisierung von Kriegsverbrechen und Judenverfolgung in deutschen Nachkriegsromanen. Sein Fazit: Die Rolle der Wehrmacht werde geschönt, der unbescholtene Landser dem niederträchtigen SS-Mann gegenübergestellt - die Vernichtungsdimension des Krieges aber durchaus nicht verschwiegen.

Das Highlight der Ausgabe ist Jens Wietschorkes kulturwissenschaftliche Analyse eines NS-konformen Reiseführers: Baedekers Generalgouvernement . 1943, auf dem Höhepunkt des Neuordnungs- und Vernichtungsfeldzugs der Nazis erschienen, ist das Buch weniger Fremdenführer denn performatives Propagandainstrument. Es führt der Leserschaft das besetzte Territorium als 'deutsche Landschaft' vor und erweist sich so als  kulturwissenschaftliche Fundgrube für die Untersuchung einer NS-Schlüsseldisziplin: der angewandten - sprich gewaltsamen - Raumplanung. In deren Geist präsentiert der Reiseführer mit bildungsbürgerlich-humanistischem Duktus eine "durchweg deutsch dominierte kulturelle Topografie". Indem Baedekers Generalgouvernement den Raum selektiere, stereotypisiere und vereinfache, so Wietschorke, mache er ihn ganz im Sinne der Homogenisierungs- und Sozialgärtnerphantasien der NS-Raumingenieure lesbar - und wiederhole damit die militärische Landnahme symbolisch noch einmal. Doch trotz dieser Veralltäglichungsstrategie der deutschen Besatzungsherrschaft offenbart er gerade durch das, was er auslässt, bzw. in einer "groteske[n] Reihe ungeheuerlicher Unterschlagungen" regelrecht auslöscht, die historischen Verhältnisse des Jahres 1943 mit ihrem "Ineinander von Geopolitik, Massenmord und medialem Diskurs" wie in einem Brennglas.

Baedekers Generalgouvernement ist mehr als nur ein Reiseführer: Während er im Plauderton die Normalität und Kontinuität der deutschen Besatzung herstellt, tritt er zugleich als "geschichts- und geostrategisches Papier" auf, als "autoritative[s] Tableau gouvernementalen Raumwissens". Aus dem Reisebrevier ist ein Kompendium für Kolonisatoren geworden - "eine glatte Umkehrung des Prinzips der Reise als Horizonterweiterung."

Philosophisches auf Hochglanzpapier

Als ich es vor Jahren an einem Zeitungskiosk in der südfranzösischen Provinz zufällig erblickte, war ich von der Idee sofort begeistert: Ein monatlich erscheinendes Hochglanzmagazin ausschließlich über: Philosophie – popularisierte, aber dennoch anspruchsvolle, unbequeme Philosophie, nicht bloß die üblichen Verschnitte, wie sie hierzulande in schmalen Kolumnen, Rubriken und Talkshows von neunmalklugen Phrasendreschern unters Volk gebracht werden. Schade, dass das nicht auch bei uns geht, dachte ich damals, die Franzosen um ihre traditionsreiche und gleichermaßen breitenwirksame Liaison von Weisheitsliebe und Öffentlichkeit beneidend.

Doch, es geht! Seit diesem November nämlich liegt die erste Nummer des deutschen " Philosophie Magazin " in den Auslagen der Zeitungsgeschäfte, mit einer stattlichen Erstauflage von 100.000 Stück und einem, jedenfalls für die verprenzlauerbergten Regionen Deutschlands, hinreichend provokanten Titel: "Warum haben wir Kinder? Auf der Suche nach guten Gründen?" Das klingt zunächst nun doch ein wenig nach Maybrit Illner, ist es aber nicht. Sicher, die Optik wirkt zeitgemäß trendig; ohne die üblichen Sprechblasen, Blitzlichter und Presseschaufetzen geht es auch auf den ersten Seiten des "Philosophie Magazin" nicht. Dafür wird die interessierte Leserin gleich zum Einstieg umstandslos mit ein paar Absätzen Malthus, Jean Baudrillard, Thomas Kuhn und Georg Simmel bekannt gemacht. Die Themenauswahl ist breit, mit leichter französischer Schlagseite, denn die Redaktion bezieht einen guten Teil ihrer Inhalte vom "Mutterblatt". Neben Interviews (Julian Assange diskutiert via Skype mit dem Moralphilosophen Peter Singer; Axel Honneth spricht über Anerkennungsdefizite und Finanzkapitalismus), Reportagen, Buchkritiken und philosophischen Splittern, beispielsweise über Judith Butlers Kritik des Lacanschen Phallogozentrismus oder die Innenperspektive von Fledermäusen, und dem umfangreichen, nachdenklich stimmenden Dossier über Segen und (vor allem) Fluch des Kinderkriegens bietet die Erstausgabe auch ein umfangreiches Klassikerporträt zu Aristoteles. Aus diesem Anlass wird gleich noch das Prinzip Warenprobe in die Philosophie eingeführt: Beigelegt ist ein Sonderdruck über Freundschaft aus der Nikomachischen Ethik mit pointiertem Vorwort von Pierre Aubenque (aber leider ohne die leserfreundlichen Kursivierungen der zugrunde liegenden Meiner-Ausgabe). Das Abstraktionsniveau vieler Beiträge ist – für ein publizistisches Breitenprodukt – durchaus hoch, der Stil trotzdem erfrischend.

Wer Magazinformate nicht mit akademischen Abhandlungen verwechselt, Wissenschaftsjournalismus nicht mit Wissenschaft, und den hierzulande weit verbreiteten, oft dünkelhaften Vorbehalt gegen mediale Vermittlungsversuche anspruchsvoller Inhalte hintanstellt, erhält für wenig mehr als fünf Euro eine Massendrucksache, die auch den Fachmann unterhält - Weiterdenken ausdrücklich erlaubt. Auch wenn an der ein oder anderen Ecke noch geprobt wird (der obligatorische Schlusscartoon kommt sehr behäbig daher, manches Textstück ist dann doch etwas zu zeitgeistig-knapp geraten), kann man auf die Folgenummern gespannt sein und dem jungen Druckwerk nur eines wünschen: eine in jeder Hinsicht gelingende Traditionsbildung!

Intellektuelles Wurzelgeflecht in Handbuchform

Gilles Deleuze und Félix Guattari gehören zu den herausragenden französischen Intellektuellen des vergangenen Jahrhunderts. Gemeinsam haben sie den aus der Botanik stammenden Terminus ,Rhizom' in die Philosophie eingeführt, als metaphorischen Gegenentwurf zum klassischen ,Baum' des Wissens. Während die Baumstruktur hierarchisch und dichotomisch ist, jedem Element einen eindeutigen Platz in einem festen Gefüge zuweist und ohne Querverbindungen, Sprünge und Uneindeutigkeiten auskommt, ist das Rhizom eine vielfältig in sich und mit anderen Rhizomen verflochtene, wild wuchernde Struktur von Verästelungen und Knollen.

So ähnlich, wie eine Art Sprossachsensystem, kann man sich die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts vorstellen, mit ihren Verflechtungen in Richtung Phänomenologie und Psychoanalyse, den erhabenen Knotenpunkten – der Kaderschmiede École Normale Supérieure oder dem Collège de France –, ihren genialischen Sprösslingen à la Sartre und Foucault und intellektuellen Schattengewächsen wie Marc Richir, Étienne Balibar, Sarah Kofman oder Mikel Dufrenne, die über die Grenzen Frankreichs hinaus nicht mehr Vielen bekannt sind.

In ihrem Autorenhandbuch zur französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts haben die beiden Hagener Philosophen Thomas Bedorf und Kurt Röttgers dieses ausgreifende Geflecht nun in eine gleichermaßen benutzer- wie gegenstandsfreundliche Form gebracht. Denn obwohl die Herausgeber ein Theoriefeld mit deutlich identifizierbaren Konturen – Strukturalismus, Dekonstruktion, Diskurstheorie... – ausmachen, wollen sie in erster Linie die "die Vielfalt des französischen Denkens in seiner Breite abbilden", ohne dabei allzu scharfe historische und geographische Grenzen zu ziehen: Neben Nachkriegsautoren finden sich Denker des späten 19. Jahrhunderts; Belgier, Schweizer und vornehmlich auf Englisch publizierende Autoren stehen gleichberechtigt neben Franzosen. Man kann das (alphabetisch gegliederte) Handbuch daher getrost rhizomatisch lesen, von einem Verzweigungspunkt zum anderen. Die insgesamt 98 Artikel namhafter Expertinnen und Experten sind von unterschiedlicher Länge, aber ausnehmend hoher Qualität. Sie geben einen kurzen biographischen Abriss ihres Protagonisten, eine knappe Darstellung der zentralen theoretischen Innovationen nebst Ausblick auf Einflüsse und Umfeld sowie ausgewählte Lektürehinweise. Ein ausführliches Literaturverzeichnis, Begriffs- und Personenregister beschließen den kompakten Band, der den Blick auf "ein theoretisch fruchtbares Jahrhundert" weitet und dazu einlädt, sich tiefer in das französischen Denkgeflecht des 20. Jahrhunderts hineinzugraben.

Thomas Bedorf/Kurt Röttgers (Hg.) 2009: Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch. Darmstadt, 400 S., 79,90 Euro (Preis für Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft: 49,90 Euro).

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